Archiv

Religion bei Samuel Agnon
Schreiben aus der Erschütterung heraus

Samuel Joseph Agnon ist der erste und bisher einzige männliche Literatur-Nobelpreisträger aus Israel. Zeit seines Lebens war Agnon ein zutiefst religiöser Mensch, der aber auch immer wieder zweifelte an Gott. Auch sein Werk steckt voller theologischer Fragen. Konfusion prägte sein Leben.

Von Tobias Kühn |
    Samuel Josef Agnon im Kreise seiner Familie, aufgenommen am 22. Oktober 1966.
    Samuel Josef Agnon im Kreise seiner Familie, aufgenommen am 22. Oktober 1966. (picture-alliance / dpa)
    "Am Tage vor dem Versöhnungsfest stieg ich nach Mittag aus dem Schnellzug in den Personenzug um, der in meine Heimatstadt fährt. Träge rollten die Wagenräder über Berge und Hügel, durch Ebenen und Täler. Auf jeder Station hielt der Zug an, entließ Leute und Gepäck und fuhr wieder ab. Nach zwei Stunden tauchten die ersten Zeichen von Szybuscz zu beiden Seiten der Bahn auf. Ich legte die Hand aufs Herz, und so wie mein Herz unter der Hand zitterte, so zitterte mir die Hand auf dem Herzen. Die Eisenbahn pfiff und pustete, pfiff und legte vor der Stadt an."
    In seinem Roman "Nur wie ein Gast zur Nacht" erzählt Samuel Joseph Agnon, wie er 1930, nach mehreren Jahren im Ausland, seine galizische Heimatstadt besucht. Pogrome und der Erste Weltkrieg haben dem Städtchen schwer zugesetzt: Viele Menschen sind arm, die Männer haben Kriegsverletzungen, die Hälfte der Häuser ist zerstört.
    "Jeder Ort war verändert, und selbst der Raum zwischen den Häusern war verändert, nicht so wie ich es gekannt hatte, als ich noch klein war, und auch nicht, wie ich es im Traum vor meiner Rückkehr gesehen hatte. Aber der Geruch von Szybuscz war noch nicht verflogen - der Geruch von Hirse mit Honig."
    Tatsächlich heißt Agnons Geburtsstadt nicht Szybuscz, sondern Buczacz. Ein Städtchen am nordöstlichen Rand der Donaumonarchie, auf halbem Weg zwischen Lemberg und Czernowitz.
    Verwirrung, Verdrehung, Konfusion
    Heute liegt die Stadt im Westen der Ukraine. Szybuscz sei ein Wortspiel, sagt Gerold Necker. Er ist Professor für Judaistik an der Universität Tübingen und hat etliche Romane und Erzählungen Agnons ins Deutsche übersetzt.
    "Szybusz bedeutet im Hebräischen so viel wie Konfusion, Verdrehung, vielleicht auch Fehler oder Störung. Und damit ist auch schon das Thema angezeigt: also seine distanzierte Einstellung zu dieser Heimatstadt. Was er dort gesehen hat, war für ihn kein Anlass zur Freude und auch kein Anlass zur Hoffnung. Szybusz - Konfusion, man kann es geradezu das Hauptthema von Agnons Werk insgesamt nennen.
    Agnon schildert in seinem Roman "Nur wie ein Gast zur Nacht" die jüdische Welt Osteuropas zu Beginn des 20. Jahrhunderts, eine Welt, die von geistiger Krise und Verwüstung bedroht ist, eine Welt, aus der er kommt, aus der er Kraft, Wissen, Geist schöpft.
    Bei allem Humor und Sarkasmus schwingt in dem Werk Trauer mit, ja sogar Verzweiflung. Agnon prophezeit in diesem 1939 erschienenen Roman bereits den Untergang des osteuropäischen Judentums.
    Zeit seines Lebens ist Agnon ein zutiefst religiöser Mensch. Er hält den Schabbat, isst koscher und betet regelmäßig. Doch immer wieder zweifelt er an der Gerechtigkeit Gottes.
    Der israelische Schriftsteller Amos Oz, der Agnon persönlich kannte, schreibt: "Agnons Schmerz und die Not seiner Zeitgenossen waren wie ein bösartiges Geschwür - unheilbar, unlösbar, ausweglos. Gibt es einen, der Gebete erhört, oder gibt es ihn nicht? Gibt es Recht und Gericht oder gibt es sie nicht? Hatten all die Taten der Vorväter einen Sinn oder hatten sie keinen? Und folglich: sind unsere eigenen Taten sinnvoll oder nicht, ja hat überhaupt jedwedes Tuneinen Sinn.
    Agnons Werk steckt voller theologischer Fragen, und es ist voller Symbolik. Voller Symbolik ist auch Agnons Geburtsdatum.
    Wer in Lexika oder im Internet nachschlägt, stößt auf unterschiedliche Angaben. Tatsächlich wird Agnon wohl am 26. Juli 1888 geboren, auch wenn nicht alle Forscher von diesem Datum ausgehen. Als Erwachsener jedenfalls verlegt er sein Geburtsdatum auf den 17. Juli 1888. Nach dem jüdischen Kalender ist dies der Fastentag Tischa BeAv, der 9. Tag im Monat Aw.
    An diesem Tag gedenken fromme Juden der Zerstörung der beiden Tempel in Jerusalem.
    "Diese Trübsal erschüttert mein Herz, und aus dieser Erschütterung heraus schreibe ich meine Geschichten, gleich einem Menschen, der aus dem Palast seines Vaters vertrieben wurde und sich eine kleine Hütte baut. Dort sitzt er dann und erzählt, wie prachtvoll das Haus seiner Vorfahren war."
    Religionsunterricht und deutsche Literatur
    Nicht nur sein Geburtsdatum ändert Agnon - auch seinen Namen. Geboren wird er als Samuel Josef Czaczkes. Sein Vater, Mordechai Czaczkes, ist Pelzhändler und chassidischer Rabbiner. Eine Schule besucht der Junge nicht. Sein Vater unterrichtet ihn in Tora und Talmud, später geht er auf eine Jeschiwa, eine jüdische Religionsschule. Seine Mutter Esther Czaczkes bringt ihm die deutsche Literatur nahe. Im Alter von 15 Jahren veröffentlicht er sein erstes Gedicht - in Jiddisch, seiner Muttersprache.
    Günter Grass bei einem Treffen mit dem israelischen Literaturnobelpreisträger Samuel Josef Agnon in Israel.
    Günter Grass bei einem Treffen mit dem israelischen Literaturnobelpreisträger Samuel Josef Agnon in Israel. (dpa)
    Vier Jahre später - als 19-Jähriger - wandert er nach Palästina aus, das damals türkisch ist und zum Osmanischen Reich gehört. Der junge Czaczkes ist Zionist - will helfen beim Aufbau eines jüdischen Gemeinwesens.
    Wie viele Juden, die nach Eretz Jisrael auswandern, legt sich auch Samuel Josef Czaczkes einen neuen Namen zu: Seine erste Erzählung "Agunot" veröffentlicht er unter dem Namen "Agnon" - der Gebundene. Hinter diesem Begriff steckt ein religionsgesetzliches Phänomen, erklärt der Zürcher Rabbiner Elijahu Tarantul, der sich seit Langem mit Agnon beschäftigt.
    "Agunot, im Singular Aguna, ist fast unmöglich, ins Deutsche zu übersetzen. Man übersetzt es normalerweise mit 'verlassene Ehefrau', aber das ist nicht präzise. "Aguna", abgeleitet von dem hebräischen "Ogen" - der Anker -, ist eine Frau, deren Mann verschwunden ist, und man geht davon aus, dass der Mann nicht mehr lebt. Aber weil es keine Zeugen und keine Beweise gibt, dass der Mann tatsächlich tot ist, kann die Frau nicht wieder neu heiraten, weil sie rein juristisch vom jüdischen Gesetz her immer noch im Stand der Ehe ist."
    Agnon vergleicht sich mit einer solchen Aguna. So wie sie an ihren Mann gebunden ist, ist Agnon ans Judentum gebunden, verankert in Tradition und Frömmigkeit - doch dadurch zum Teil auch gefesselt.
    "Vielleicht ist die Metapher einer Aguna sehr hilfreich, um die Persönlichkeit von Agnon zu begreifen: Wie sehr befreit sich ein denkender, moderner Mensch von der Tradition? Dass eine Kette, eine Verbindung bleibt, ist klar. Die Vergangenheit kann man nicht löschen, nicht ignorieren. Aber wie fest ist diese Kette? Kann man sie lösen? Ich weiß nicht, was durch seinen Kopf ging, als er sich als Agnon bezeichnete. Ich denke, in diesem Fall würde die Floskel passen, dass er ein traditioneller Revolutionär war: Er kreierte etwas Neues, aber dieses Neue kann man nur dann verstehen, wenn man das Alte kennt. Ich denke auch, die Übersetzung ins Deutsche zeigt die Ambivalenz dieses Begriffs: 'der Gefesselte', aber zugleich auch 'der Verankerte'."
    Schrecken der Vergangenheit und Zukunft
    Agnons Changieren zwischen Tradition und Moderne kommt in seinem Werk immer wieder zum Ausdruck, etwa in der Erzählung "Nach dem Ende des Mahls":
    "Zitternd und verwundert saß ich da. Ob ich vergangenen Dingen zuliebe verlangt bin, oder ob ich Dingen zuliebe verlangt bin, die kommen sollen? Und der Schrecken des Vergangenen und der Schrecken der Zukunft verbanden sich zu einem einzigen großen Schrecken".
    1913 verlässt Agnon Palästina und bricht zu einer längeren Reise nach Deutschland auf.
    Doch der Beginn des Ersten Weltkriegs verhindert seine Rückkehr, und er bleibt elf Jahre lang in Europa. 1920 heiratet er in Berlin seine Hebräisch-Schülerin Esther Marx, die Tochter eines Königsberger Bankiers. Sie bekommen zwei Kinder. In Berlin begegnet er auch dem Verleger Salman Schocken, der ihn jahrelang finanziell unterstützen und einige seiner Werke veröffentlichen wird. Von 1921 bis 1924 lebt er in Bad Homburg. Dort hat sich ein jüdischer Intellektuellenzirkel etabliert, den auch jüdische Denker wie der Religionswissenschaftler Gershom Sholem immer wieder aufsuchen - oder auch der Religionsphilosoph Martin Buber, mit dem Agnon befreundet ist.
    "Berufener Chronist des jüdischen Lebens"
    Buber und viele andere deutsch-jüdische Intellektuelle sind beeindruckt von diesem jungen Ostjuden und seiner Kenntnis der jüdischen Traditionsliteratur: Agnon studiert den Talmud ohne Hilfsmittel, kennt die Hebräische Bibel und viele rabbinische Texte auswendig, zitiert daraus und stellt mit bewundernswerter Leichtigkeit Bezüge her. Eine große Zukunft wird ihm vorausgesagt. In einem Brief schreibt Martin Buber 1916:
    "Agnon hat die Weihe zu den Dingen des jüdischen Lebens. Es gibt andere, die wie er um diese Dinge wissen, aber ihr Wissen ist dürr. Es gibt wieder andere, die wie er um diese Dinge fühlen, aber ihr Gefühl ist verschwommen. Agnon ist einer der Wenigen, die die Weihe zu den Dingen des jüdischen Lebens haben. Die Weihe ist nicht nüchtern und sie ist nicht sentimental, sie ist glühend und fest. So ist Agnon. Er ist berufen, ein Dichter und Chronist des jüdischen Lebens zu werden; des einen, das heute stirbt und sich verwandelt, aber auch des anderen, werdenden, unbekannten."
    Agnons Werk atmet dreieinhalb Jahrtausende Judentum: Von der Bibel über den Talmud, die Kommentare des Mittelalters bis zu Schriften der Neuzeit umspannt es die Geschichte des jüdischen Volkes von seinen Ursprüngen her. Und wie viele andere Schriftsteller hat Agnon in seinen Romanen und Erzählungen natürlich auch sein Leben abgebildet, sagt der Tübinger Judaist Gerold Necker:
    "Man kann die geografischen Stationen seines Lebens in seinem literarischen Werk wiederfinden: also Galizien, das Habsburgische Galizien, später dann nach dem Ersten Weltkrieg das polnische Galizien, und wir haben Deutschland natürlich, die lange Periode, die er in Deutschland verbracht hat. Wir haben das osmanische Palästina, wohin er früh ausgewandert ist, und dann 1924 wieder zurückgekommen ist in das britische Mandatsgebiet Palästina, und natürlich dann die längste Zeit im Staat Israel."
    Dort ist Agnon jahrzehntelang eine wichtige Stimme. Außerhalb Israels kennt man ihn zunächst kaum.
    Der "halbe" Nobelpreis
    Das ändert sich mit einem Schlag, als er 1966 den Literaturnobelpreis erhält, gemeinsam mit der damals in Stockholm lebenden deutsch-jüdischen Lyrikerin Nelly Sachs.
    Die Nobelpreisgewinner 1966 in Stockholm: rechts im Bild Nelly Sachs und Samuel Agnon
    Die Nobelpreisgewinner 1966 in Stockholm: rechts im Bild Nelly Sachs und Samuel Agnon (imago stock&people)
    Es ist das erste - und bis heute das einzige - Mal, dass das schwedische Nobelpreiskomitee einen hebräisch schreibenden Autor auszeichnet. In der Begründung wird "seine tiefe charakteristische Erzählkunst mit Motiven aus dem jüdischen Volk" gelobt.
    Kurz nachdem die Nachricht bekannt wird, fragen Journalisten die Preisträger, wie sie sich fühlen. Nelly Sachs in Stockholm sagt, sie sei sehr glücklich und überrascht.
    Agnon dagegen, der zurückgezogen in Jerusalem lebt:
    "Ich fühle nur, dass wegen dieses ganzen Lärms mein Essen kalt wird."
    Es habe ihn gewurmt, heißt es, dass er sich die Auszeichnung teilen musste. Der israelische Schriftsteller Amos Oz schreibt über Agnon:
    "Er gab sogar in allem Ernst und mit fast kindlicher Leidenschaft seiner Überzeugung Ausdruck, dass das Nobelpreiskomitee ihn zwei, drei Jahre später erneut aufstellen und ihm einen ganzen Nobelpreis verleihen werde, ohne Vorbehalte und ohne Mitpreisträger."
    Risse und Zweifel
    Er war kein einfacher Mensch, dieser Samuel Josef Agnon. Der Zürcher Rabbiner Elijahu Tarantul hat Menschen gesprochen, die ihn persönlich kannten.
    "Manche beschreiben ihn als einen nicht sehr sympathischen Menschen. Er war nicht freundlich, nicht warm. Er war oft sarkastisch, manchmal sogar zynisch. Andere Menschen bezeichnen ihn als einen traditionstreuen, tief religiösen Menschen, der hinter der harten Schale einen weichen, sensiblen Kern hatte. Sein bissiger Humor - das ist für mich auch talmudisch-rabbinisch. Wer die Texte des Talmuds kennt, kann zumindest vermuten, woher das kommt: In einem offenen System denken, in dem man alles hinterfragen darf - und muss, sonst kommt man nicht voran. Mir scheint seine Persönlichkeit durch Risse und Zweifel gekennzeichnet zu sein, durchaus im Sinne eines einsamen Menschen des Glaubens, der seinen Weg sucht - und der alles hinterfragt, alles auslacht, fast alles verzerrt."
    Die erste Begegnung von Samuel Agnon und Nelly Sachs wenige Tage vor der Nobelpreisübergabe. Er habe sich geärgert, den Preis teilen zu müssen, heißt es. 
    Die erste Begegnung von Samuel Agnon und Nelly Sachs wenige Tage vor der Nobelpreisübergabe. Er habe sich geärgert, den Preis teilen zu müssen, heißt es. (picture-alliance / dpa / DB Pressens Bild)
    Opfer dieses Spotts wurde auch der Großonkel von Amos Oz, der Literatur- und Religionswissenschaftler Joseph Klausner, erzählt Oz in seinem autobiografischen Roman "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis":
    "Eine höfliche, aber arktische Kälte wehte einen Moment lang durch die Gasse, wenn die beiden, Professor Klausner und Herr Agnon, sich zufällig begegneten. Onkel Joseph hielt nicht viel von Agnon, für ihn hatte dessen Art zu schreiben etwas Langatmiges und etwas ausgeklügelt Schnörkeliges. Herr Agnon wiederum pflegte seinen Groll, vergaß nichts und spießte Onkel Joseph schließlich auf eine Lanze seiner Ironie, in der lächerlichen Gestalt des Professor Bachlam in dem Roman 'Schira'. Zum Glück starb Onkel Joseph vor Erscheinen dieses Romans, wodurch ihm Kummer erspart blieb."
    Ein Meister der surrealen Töne
    Agnon gilt auch als ein Meister der surrealen Töne. Er wird deshalb immer wieder mit Franz Kafka verglichen.
    Bereits seine Zeitgenossen haben ihn mit dieser Ähnlichkeit konfrontiert. Doch er selbst distanziert sich stets von Kafka. Gerold Necker:
    "Wenn in seinem Haus jemand darauf hingewiesen hat, dass Bücher von Kafka bei ihm stehen, dass er also nicht behaupten könne, er sei nicht von ihm beeinflusst, dann hat er einfach geantwortet: 'Nein, ich lese Kafka nicht. Estherlein liest Kafka', seine Frau. So hat er das erklärt, dass Kafka bei ihm zu finden ist. Aber natürlich gibt es Anlass, ihn mit Kafka zu vergleichen! Vor allen Dingen wegen einer kleinen Gruppe von Erzählungen, die unter dem Titel 'Sefer Hama'asim' herausgegeben wurden. Das sind surreale Geschichten. Hier kommt beim Leser schnell der Eindruck, dass er es mit einer Welt zu tun hat, die Kafka beschreibt."
    "Wieder schlug die Uhr. Meine Ohren waren wie taub. Die Kerze rußte, und schwarze Stille füllte den Raum. Mitten in die Stille hinein war das Geräusch eines Schlüssels zu hören, der im Schloss knarrte wie ein Nagel, der ins Fleisch getrieben wird. Mir wurde bewusst, dass man mich eingeschlossen und vergessen hatte. Ich würde hier nicht herauskommen, bis sie morgen früh öffneten. Ich schloss meine Augen und versuchte einzuschlummern. Ich vernahm etwas wie ein Rascheln und sah eine Maus auf den Tisch springen und an den Knochen nagen. Ich sagte mir: 'Jetzt gelüstet es sie nach den Knochen, danach wird sie am Tischtuch knabbern, danach an dem Stuhl, auf dem ich sitze, und dann wird sie an mir fressen.' Ich drehte die Augen zur Wand und sah die Uhr. Ich hoffte, dass sie schlagen und die Maus erschrecken würde, bevor sie mich erreichte. Eine Katze kam, und ich sagte: 'Meine Rettung naht.' Aber die Maus beachtete die Katze nicht, und die Katze ignorierte die Maus. Vielmehr nagte jene für sich allein, und diese nagte für sich allein."
    Das 6. Buch Mose?
    Trotz mancher Ähnlichkeiten gibt es gewichtige Unterschiede zwischen Agnon und Kafka:
    Während bei Kafka eine mythisch besetzte Welt über der Wirklichkeit steht - Kafka also unreale Dinge real macht -, ist es bei Agnon oftmals genau umgekehrt: Er führt reale, mitunter sogar banale Begebenheiten in die Welt des Surrealen - ja, häufig versetzt er sie gar in die Dimension des Biblischen.
    Rabbiner Tarantul aus Zürich sagt, einige russisch-jüdische Literaturkritiker seien davon derart begeistert gewesen, dass sie Agnon rühmten, er schreibe das 6. Buch Mose:
    "Der im Westen unbekannte Israel Schamir vergleicht Agnon mit der Märchenwelt. So wie man die Polizei nicht ruft, wenn bei Hänsel und Gretel die Hexe verbrannt wird, soll man Texte, Ideen, Topoi von Agnon nicht mit dem Maßstab der banalen Realität messen. Das ist mehr als das. Das Faszinierende daran ist, dass Agnon die alltäglichen, unheldenhaften Figuren, Orte, Ereignisse in die Perspektive des Heiligen, des Biblischen, des Talmudischen versetzt. Er füllt sie mit einem neuen Sinn."
    "Enttäuscht und mit leeren Händen ging ich weg, ohne Kleid, mit nichts, und kehrte zu meiner Tochter zurück. Ich fand sie eng an die Wand gedrückt in einem entlegenen Winkel des Hofes, dort, wo das Reinigungsbrett war, auf dem die Toten gewaschen werden. Sie wurde von ihrem aufgelösten Haar eingehüllt. Wie groß ist deine Güte, Herr, dass du so einem kleinen Mädchen die Weisheit gegeben hast, sich in ihre Haare einzuhüllen, nachdem ihr Hemd in Flammen aufgegangen ist."
    Zwischen Mystik, Predigt und modernem Hebräisch
    Agnon erschafft sich eine Sprache aus Elementen der Bibel, der Mischna, der mittelalterlichen Mystik, der rabbinischen Predigtsammlungen des 19. Jahrhunderts und des modernen Hebräisch.
    Er versteht es, die Handlungsstränge seiner Romane und Erzählungen mit der Weisheit von Talmud, Tora und Midrasch zu verweben.
    Dadurch verweist fast jeder Satz auf Zusammenhänge, die eine Übersetzung kaum vollständig liefern könne, sagt der Tübinger Judaist Gerold Necker. Er hat sich deshalb dazu entschieden, seinen Agnon-Übersetzungen einen Anmerkungsapparat zur Seite zu stellen:
    "Man kann dann vielleicht doch näher am Text bleiben oder sich auch leichter davon lösen, und der Leser soll dann entscheiden, wie er es mit den Anmerkungen hält. Man wird sowieso nie diese Vielschichtigkeit des Textes übersetzen können. Das ist ja das Eigentümliche an Agnons Stil: Dass er es schafft, in einer klaren, eigentlich sehr transparenten Sprache mit Wortspielen und Andeutungen alle möglichen Subtexte oder Obertöne mit in den Text hineinzubringen."
    Hoch geachtet stirbt Agnon im Februar 1970 im Alter von 81 Jahren in Jerusalem.
    Er geht in die Literaturgeschichte ein als einer der größten Erzähler und Chronisten jüdischen Lebens.