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Rhetorik im Wandel der Zeit
Von der Redekunst der Griechen bis zum Poetry Slam der Gegenwart

Moderne Kommunikation findet meist nonverbal und digital statt. Pessimisten sprechen daher vom Niedergang der Redekunst in der medialen Gegenwartswelt. Der Kölner Germanist Karl-Heinz Göttert hat nun herausragende Reden der jüngeren und älteren Vergangenheit untersucht und ist dabei auf eine europäische Eigenart gestoßen.

Von Alfried Schmitz | 09.04.2015
    US-Präsident Obama bei einer Pressekonferenz im Weißen Haus am 19.12.2014
    Ein großer Redner der Vereinigten Staaten: US-Präsident Barack Obama. (imago/UPI Photo)
    J. F. Kennedy: "Two thousand years ago the proudest boast was: Civis Romanus sum. Today in the world of freedom the proudest boast is: 'Ich bin ein Berliner'."
    "Das ist ein berühmter Fall, einer improvisierten Rede. Also die berühmte Rede vom Schöneberger Rathaus war vorbereitet, aber er hat das, was ihm seine Redenschreiber sozusagen ausgearbeitet haben, links liegen gelassen und hat tatsächlich improvisiert. Auch sein Zettel mit dem 'Ich bin ein Berliner', das war schon vorbereitet. Aber so, wie er es eingebaut hat, mit einer scharfen antisowjetischen Polemik - 'Kommt doch her', heißt es in der Rede, 'und schaut Euch das an, was hier in Berlin los ist' -, das hat er tatsächlich improvisiert.
    J.F. Kennedy: Berühmter Fall einer improvisierten Rede
    US-Präsident John F. Kennedy: "Ich bin ein Berliner" (26. Juni 1963)
    US-Präsident John F. Kennedy: "Ich bin ein Berliner" (26. Juni 1963) (picture alliance / dpa / SVEN SIMON)
    Sagt der Germanist Karl-Heinz Göttert. Was ihm bei Kennedys berühmter Berlin-Rede ebenfalls auffiel, ist der Bezug zu einem großen Redner der Antike. Der römische Politiker und Jurist Cicero verwies in seinen Reden oft auf die verbrieften Rechte, die für alle römischen Bürger Geltung haben sollten, ganz gleich, in welchem Teil der damals bekannten Welt sie sich gerade aufhielten. Der Satz "Civis Romanus Sum" – "Ich bin ein römischer Bürger", diente Kennedy als Vorlage für seine Abwandlung "Ich bin ein Berliner".
    Markus Tullius Cicero gilt als einer der größten Redekünstler überhaupt. Der Schriftsteller, Philosoph, Anwalt und Politiker war einer der fähigsten Konsuln, die je in Rom gewirkt haben. Bei seiner wissenschaftlichen Analyse hat Professor Göttert entdeckt, dass auch der Grünen-Politiker Joschka Fischer bei Cicero in die Schule gegangen zu sein scheint:
    "Gute Redner sind fast immer auch Personen, die polemisches Talent haben. Also wenn wir jetzt mal Joschka Fischer nehmen, das ist ja ein besonderes Talent gewesen, was Polemik betrifft. Die Zuhörer werden sich noch an einige der großen Ausfälle erinnern. So etwas harmloser ist die Bezeichnung von Kohl als das 'pfälzische Gesamtkunstwerk' gewesen oder bei Wörner, als damaligem Verteidigungsminister, 'das Panikorchester von der Hardthöhe' oder so etwas. Aber gerade Joschka Fischer verstand es auch, eine Rede kunstvoll aufzubauen, also in ciceronianischem Stil. Und das hat er in dieser berühmten Rede bewiesen, als es um den Bosnien-Krieg ging. Als er seine eigene Partei auf die Linie der damaligen Bundesregierung bringen wollte und auch gebracht hat, in einer spektakulären Aktion."
    Joschka Fischer: Bei Cicero in die Schule gegangen
    Ausschnitt aus der Rede von Joschka Fischer vom Sonderparteitag der Grünen, am 13.05.1999:
    "Hier spricht ein Kriegshetzer und Herrn Milosevic schlagt ihr demnächst für den Friedensnobelpreis vor."
    Außenminister Joschka Fischer vor der UNO-Vollversammlung
    Außenminister Joschka Fischer vor der UNO-Vollversammlung (AP)
    Joschka Fischer war von 1998 bis 2005 in der rot-grünen Regierungskoalition Außenminister und Stellvertreter von Bundeskanzler Gerhard Schröder. Fischer war damals der festen Überzeugung, dass nur eine militärische Intervention der Nato-Partner unter deutscher Beteiligung Menschenleben retten könne. Es ging dem Grünen-Politiker dabei nicht nur um die vielen Opfer der Kampfhandlungen, er wollte vor allem auch den Völkermord unter dem serbischen Milosevic-Regime stoppen. Ein Kriegseinsatz stand aber im krassen Gegensatz zu den Grundsätzen grüner Politik.
    Rhetorik: Kunst des Überzeugens oder Macht des Überredens?
    Fischer wollte daher auf dem Sonderparteitag am 13. Mai 1999 seine Parteikolleginnen und – Kollegen unbedingt auf seine Seite bringen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob gute Rhetorik die Kunst des Überzeugens oder die Macht des Überredens ist. Der Germanist, Professor Karl-Heinz Göttert, hat in seiner Rhetorik-Forschung darauf folgende Antwort gefunden:
    "Besser unterscheidet man zwischen Wissenschaft und Redekunst. Wissenschaft ist auf Überzeugen angelegt. Wissenschaft geht mit Beweisen vor, mit Daten und ihren entsprechenden Interpretationen. Aber es gibt Gebiete, auf denen man wissenschaftlich nicht weiterkommt. Zum Beispiel in der Politik oder im Rechtswesen. Da haben wir es eben mit schwerer einschätzbaren Tatsachen zu tun. Und da braucht man nun etwas Unterstützendes. Und das wird von der Redekunst eben geboten. Von einer Redekunst, die ein Publikum überreden will. Also es geht immer ums Überreden. Und man sollte sich darunter nichts Negatives vorstellen, sondern eher vorstellen, dass es um ein Manko geht. Da, wo wir nicht beweisen können, aber trotzdem weiterkommen wollen, da greifen wir zum Überreden.
    Auszug aus der Rede von Joseph Goebbels am 18.02.1943 im Berliner Sportpalast:
    "Wollt ihr den totalen Krieg?"
    Adolf Hitler: Reden nach den Regeln der antiken Rhetorik
    "Also man kann sicher sagen, dass Goebbels und Hitler Redner waren, die sich der traditionellen rednerischen Kunst ganz gut bedient haben. Wenn man die Reden hört, ist man ja abgestoßen. Diese Schreierei finden wir ja furchtbar und vor allem die Inhalte, da brauchen wir ja gar nicht darüber zu diskutieren. Aber wenn man die Reden liest, dann merkt man, dass Hitler da in eine bewährte Rolle geschlüpft ist.
    Ansprache von Adolf Hitler auf der Wiener Hofburg am 15. März 1938
    Ansprache von Adolf Hitler auf der Wiener Hofburg am 15. März 1938 (AP Archiv)
    Der hat sich aufgeführt, wie ein anständiger Redner. Der hat damit die Menschen betrogen. Aber das ist eben das Problem, dass die Rhetorik mit sich bringt. Das kann man nämlich für moralische und für unmoralische Zwecke gebrauchen, beziehungsweise missbrauchen. Aber, die Reden als solche, waren nach den Regeln der Kunst gebaut, also nach den Regeln der antiken Rhetorik, die sich immer fortgesetzt hat und nie in Vergessenheit geraten war."
    Für seine jüngsten Rhetorik-Forschungen, deren Ergebnisse auch in ein Buch mit dem Titel "Mythos Redemacht – Eine etwas andere Geschichte der Rhetorik" geflossen sind, wollte Professor Göttert ein wissenschaftliches Manko ausgleichen:
    Analyse von Rednern aus verschiedenen Epochen
    "Wir haben uns in den 70er-Jahren konzentriert auf die Theorie der Rhetorik, insbesondere auf literarische Rhetorik, haben also gefragt, was hat Literatur mit Rhetorik zu tun und die Redner einfach nicht im Blick gehabt. Das hat vielleicht auch mit der speziellen deutschen Tradition zu tun, weil wir sie satt waren. Wenn man an die Nazis denkt, dann erschien das nicht als besonders attraktiv, sich mit Rednern zu befassen. Und so kam es, dass die mehr oder weniger unter den Tisch gefallen waren. Ich kann Ihnen bändeweise Literatur vorlegen, über Theorie der Rhetorik, aber nur viel, viel weniger über Redner."
    Hinzu kommt, dass sich die Autoren dabei meist auf die Biografien einzelner Redner beschränkt haben. Göttert hatte es sich aber zum Ziel gesetzt, einen möglichst umfassenden Überblick zu schaffen, um eine Lücke in der Rhetorikforschung zu schließen. Von Vorteil für seine wissenschaftliche Arbeit war es, dass er nicht nur Germanist, sondern auch Historiker ist.
    Für die Analyse der Rhetorik aus einem neuen und anderen Blickwinkel, wollte Göttert möglichst viele Redner und deren Reden vor ihrem geschichtlichen Hintergrund betrachten und seine Ergebnisse anschließend zusammenführen. Herausgekommen ist am Ende keine bloße chronologische Aneinanderreihung, sondern eine interessante und zum Teil sehr gewagte Gegenüberstellung von Rhetorik-Protagonisten aus verschiedenen Epochen.
    Gewagte Gegenüberstellungen: Perikles und Weizsäcker
    "Mit einer gewissen Frechheit habe ich Pärchen gebildet, die möglichst weit historisch voneinander entfernt sind. Also zum Beispiel Perikles und Richard von Weizsäcker. Das ist auch ein bisschen Spielerei, aber es liegt ein tieferer Sinn dahinter. Ich wollte einfach mal zeigen, dass die Redekunst in Europa von großer Kontinuität oder Sie können auch sagen, von großer Nachhaltigkeit geprägt ist. Ich wollte zeigen, dass sich eben nichts Entscheidendes geändert hat. Und das ging natürlich am besten indem ich extrem auseinandergezogene Figuren gegenübergestellt habe und gezeigt habe, dass sie in ähnlichen Situationen, zu ähnlichen Mitteln gegriffen haben."
    Richard von Weizsäcker 1985 bei seiner Rede am Pult des Bundestags in Bonn.
    Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei seiner vielbeachteten Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985 im Bundestag in Bonn. (dpa / Heinrich Sanden)
    Der gerade erwähnte griechische Staatsmann Perikles musste in seiner berühmten Gefallenenrede den Opfern des Peloponesischen Krieges gedenken, für den er eine große Mitverantwortung trug. Um Mitverantwortung ging es auch mehr als zweitausend Jahre später in der Rede des kürzlich verstorbenen Alt-Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, der 1985 an den 40. Jahrestag des Kriegsendes erinnerte:
    "Sie gehen nämlich von einem Paradox aus. Perikles sagt, wir wollen nicht über die Toten reden, sondern über die Lebenden, denn die Lebenden, warum leben die? Weil die Toten für sie gestorben sind. Das ist ein großes Paradox. Und von Weizsäcker hat auch wieder so ein Paradox. Was war das da, was wir jetzt feiern? War das jetzt die Niederlage, war das die Kapitulation? – Nein, es war eben der Tag der Befreiung. Und er spielt damit auch während der gesamten Rede. Ständig kommt das. Niederlage – Befreiung. Also, da geht er ganz ähnlich wie Perikles vor."
    Barack Obama: wie ein klassischer Redemeister der Antike
    Verglichen hat Professor Göttert auch die Rhetorik von Johannes Chrysostomos, der im vierten Jahrhundert als Prediger und Erzbischof von Konstantinopel wirkte, mit der des amtierenden US-Präsidenten Barack Obama. Denn der, sagt Göttert, habe ihn stark an die klassischen Redemeister der europäischen Antike erinnert. Und so bescheinigt er Obama und Chrysostomos "blühende und selbstbewusste Redekunst, gepaart mit opulent argumentativem und sprachkünstlerischem Aufwand".
    US-Präsident Barack Obama erklärt am 20.11.2014 in einer Fernsehansprache seine Reform der Einwanderungspolitik.
    US-Präsident Barack Obama erklärt am 20.11.2014 in einer Fernsehansprache seine Reform der Einwanderungspolitik. (pa/dpa)
    Früh-Christ Augustinus und Reichskanzler Bismarck bilden ebenfalls, ein auf den ersten Blick, ungleiches Rhetorik-Pärchen. Göttert hat in seiner Analyse herausgefunden, dass beide Meister der "zurückhaltenden Rede" waren. Sie verzichteten auf sprachliche Akrobatik, setzten nicht auf verbale Knalleffekte, sondern bauten bewusst und mit Erfolg auf die Kraft des schlichten Sprach-Stils.
    Nach seiner intensiven Beschäftigung mit der Rhetorik von der Antike bis in die früheste Vergangenheit, zieht Professor Göttert ein wissenschaftliches Resümee, das auch den Aspekt der Globalisierung beinhaltet:
    Spezielle europäische Redekunst
    "Dass es so etwas gibt, wie eine europäische Redekunst. Eine Redekunst, die sich von anderen Kulturen unterscheidet. Ich erwarte nicht, dass es so etwas wie eine Weltredekunst geben wird, sondern gehe eher davon aus, dass die einzelnen Kulturen sich ihren Sonderstatus bewahren, wenn es nicht so ist, dass sich in der allumfassenden medialen Welt von heute, in der Internetwelt, nun doch so etwas Neues bildet, was wir im Augenblick noch gar nicht richtig einschätzen können.
    Momentan sind bei Internetnutzern kurze Video-Clips ziemlich angesagt, die bei so genannten Poetry-Slam-Veranstaltungen gedreht wurden. Das sind Wettbewerbe, bei denen sich Rednerinnen und Redner mit selbstverfassten Texten in einem Saal vor Publikum präsentieren. Im Netz bringen es manche dieser Clips dann später auf zigtausende Clicks, einige der großen Stars der Poetry-Slam-Szene erreichen sogar Clicks in Millionenhöhe. Robert Targan ist einer der angesagten deutschen Slam-Poeten. In seiner Heimatstadt Aachen, einer wahren Poetry-Slam-Metropole, hat er schon einige Redewettbewerbe gewonnen und hat auch an deutschen Meisterschaften teilgenommen.
    Faszination Poetry-Slam
    Ausschnitt aus einem Auftritt von Robert Targan bei einer Poetry-Slam-Veranstaltung
    Der Poetry Slammer Moritz Kienemann mit ganzem Körpereinsatz auf einer Meisteschaft
    Der Poetry Slammer Moritz Kienemann mit ganzem Körpereinsatz auf einer Meisteschaft (dpa/picture alliance/David Ebener)
    "Die Faszination ist, dass man tatsächlich schon fast mitten im Publikum steht mit seinen Texten. Es gibt kaum eine Grenze zwischen Publikum und Bühnenpoet. Man bekommt nach dem Text, aber auch schon währenddessen, unmittelbar eine Reaktion von den Menschen im Publikum mit. Und wenn das dann funktioniert und man Spaß daran entwickelt, kommt man schwierig davon los. Und so hat sich dann auch in Deutschland, in den letzten sieben, acht Jahren, eine sehr große Szene entwickelt."
    Sagt Robert Targan, der nicht nur Slam-Poet ist, sondern auch Poetry-Wettbewerbe moderiert. Die deutschsprachige Poetry-Slam-Szene ist nach der englischsprachigen die größte weltweit. Die Idee dazu kommt aus den USA, hat sich Mitte der 1980er-Jahre in Chicago entwickelt. Der 1949 geborene US-amerikanische Poet Marc Kelly Smith gilt als Gründervater des Poetry-Slam. Er hat auch das Regelwerk entwickelt.
    Kraft des frei gesprochenen Wortes
    Die Reden dürfen ein bestimmtes Zeitlimit nicht überschreiten, meistens sind das fünf bis sechs Minuten, die Texte müssen selbst verfasst sein und es dürfen bei den Aufführungen keine Hilfsmittel, wie Kostüme oder Requisiten verwendet werden. Alleine die Kraft des frei gesprochenen oder auch abgelesenen Wortes und die Präsenz des Redners sollen im Mittelpunkt stehen und von der Publikums-Jury mit ein bis zehn Punkten bewertet werden. Die stilistische Bandbreite der Texte ist groß:
    "Lustige Texte, nachdenkliche Texte, Gedichte, Geschichten und ich glaube, gerade diese Vielfalt, die macht eben dieses Format Poetry-Slam aus. Und ich denke schon, dass das ein tolles Forum ist, um sich rhetorisch zu präsentieren. Es werden auch Anleihen im Hip-Hop gemacht, was Rap angeht, was sich ja auch Anfang der 90er in Deutschland entwickelt hat. Sicherlich trägt das dann auch zu einer gewissen Art von Sprachwandel oder neuer Sprache, Präsentation von Sprache bei."