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Richard Flanagan: Der Erzähler
Unterwegs als Ghostwriter für einen Wirtschaftsverbrecher

Spätestens seit er für seinen Roman "Der schmale Pfad durchs Hinterland" 2014 den Man Booker Preis gewann, ist der in Tasmanien lebende Richard Flanagan einer der bekanntesten australischen Schriftsteller. Jetzt hat er einen neuen Roman vorgelegt: "Der Erzähler". Eine Geschichte, die stark autobiographisch geprägt ist und dennoch reine Fiktion.

Von Johannes Kaiser | 19.11.2018
    Buchcover: Richard Flanagan: „Der Erzähler“
    Unterwegs als Ghostwriter für einen Verbrecher (Buchcover: Piper Verlag, Foto: imago/Andrew Parsons)
    Es war ein Angebot, das der junge Schriftsteller in spe Richard Flanagan 1993 nicht ablehnen konnte. Er war so gut wie pleite, hatte Tochter und hochschwangere Frau zu ernähren und kam mit seinem ersten Roman nicht so recht voran:
    "Zufällige Beziehungen führten dazu, dass man mich fragte, ob ich als Ghostwriter die Erinnerungen eines australischen Wirtschaftsverbrechers schreiben wollte, eines Betrügers, der über 700 Millionen australische Dollar von Banken veruntreut hatte. Man bot mir 10.000 australische Dollar dafür an, die Memoiren in sechs Wochen zu schreiben. Danach sollte er vor Gericht kommen und für lange Zeit ins Gefängnis gehen. Ich machte mir Sorgen um meine literarische Reputation, bis ich begriff, dass ich überhaupt noch kein Buch geschrieben hatte, also auch keine literarische Reputation besaß, die ich hätte verlieren können. Ich stimmte also zu, flog nach Australien und habe mit ihm drei Wochen lang zusammengesessen. Da er ein Betrüger war, war er keineswegs geneigt, mir irgendetwas über sich selbst zu erzählen, was wahr war. Nach drei Wochen von Ausflüchten und Halbwahrheiten hat er sich erschossen. Ab dem Augenblick hatte ich noch drei Wochen, um das Buch für den Verleger zu beenden. Ich sollte ein Buch über jemanden schreiben, der nicht mehr existierte und ich musste es in der ersten Person schreiben. Man sagt ja, der erste Roman sei stark autobiografisch. In diesem Fall war meine erste Autobiografie ein Roman. Es war ein schlechtes Buch, so schlecht wie jemand ein Buch in drei Wochen schreiben kann, der vorher noch nie ein Buch geschrieben hatte. Aber ich habe dabei eine Menge über die Möglichkeiten der Literatur gelernt."
    Der Tod der Privatsphäre
    Einmal abgesehen davon, dass die erfundene Autobiographie des australischen Wirtschaftskriminellen John Friedrich ein Flop war, niemand interessierte sich mehr für den toten Betrüger, war es für den jungen Richard Flanagan sozusagen der Durchbruch als Schriftsteller. Jetzt traute er sich zu, sein eigenes literarisches Universum zu erfinden, schrieb endlich seinen ersten eigenen Roman. Dass er heute, gut 25 Jahre später, als renommierter Autor in diese Zeit zurückkehrt, ist seine Reaktion auf die neuen sozialen Medien und die Selbstbezogenheit ihrer Nutzer, ihren Umgang mit der Privatsphäre. Richard Flanagan dazu:

    "Vor sechs oder sieben Jahren hat Mark Zuckerberg erklärt, dass die Privatsphäre keine soziale Norm mehr wäre - ein Statement, dazu geeignet, eine Ära zu definieren. Als ich diese Bemerkung hörte, brachte mich das zurück zu Friedrich und seinem Solipsismus - er war extrem narzisstisch -, der mit seinen Lügen korrumpierte und zerstörte. Mir schien dieser Betrüger mit seiner dunklen Vision etwas Fremdartiges und Erschreckendes zu besitzen, das sich im Schatten um uns herum gebildet hatte. Darüber wollte ich ein Buch schreiben. Ich glaube, es war Gabriel Garcia Marquez, der sagte, jeder habe ein öffentliches Leben, ein privates und ein geheimes und ich denke, das private und das geheime Leben bilden unsere Identität und sind für uns Menschen notwendig. Das Auslöschen unserer Seele, unseres Andersseins war schon immer das Ziel von Diktaturen. In der Vergangenheit bemühten sie sich, das durch die Zerstörung der Zivilgesellschaft und durch ein System der Überwachung und der Bestrafung zu erreichen. Die Methoden der sozialen Medien sind zwar andere, aber der dunkle Strom des Totalitarismus lebt jetzt in den Gesäßtaschen in der Form eines Smartphones. Über all dies wollte ich schreiben."
    Die Faszination und Macht des Bösen
    Es ist die Geschichte des jungen unbekannten Möchtegernschriftstellers Kif Kehlmann, der in derselben Situation wie Flanagan damals steckt. Trotz seiner Zweifel nimmt er das mit 10.000 Dollar üppig ausgestattete Angebot an, als Ghostwriter die Memoiren des Betrügers Siegfried Heidl zu schreiben. Die Geschichte John Friedrichs lässt grüßen. Kif ist unser Erzähler, der beschreibt, wie er versucht, den Wirtschaftskriminellen zum Reden zu bringen. Der hat zwar ein krudes 50-Seiten-Manuskript vorgelegt, verweigert aber jede weitere Auskunft, flüchtet sich in schwammige Andeutungen, erzählt dramatische Geschichten, die sich widersprechen, jeglicher Logik entbehren.
    Gleichzeitig aber strahlt Heidl Gefahr aus, macht seinem Biographen unter anderem dadurch Angst, dass er über dessen Leben Einzelheiten weiß, die eigentlich keiner kennen kann. Kif ist ebenso fasziniert wie abgestoßen von diesem bieder wirkenden, aber offenkundig hochintelligenten und trickreichen Hochstapler, der Banken und Politiker austrickste, durch Lügen ein Wirtschaftsimperium aufbaute, Gegner möglicherweise beseitigen ließ. Da der Zeitpunkt der Veröffentlichung immer näher rückt, muss sich Kif schließlich Geschichten ausdenken, was Heidl aber wenig zu stören scheint. Und dann erschießt sich der Betrüger. Nun muss Kif ein ganzes Leben erfinden. Dabei wird ihm bewusst, dass er nicht zum Schriftsteller taugt. Wer Richard Flanagans Geschichte kennt, wird im 'Erzähler' natürlich viele autobiographische Elemente entdecken, dennoch ist der Roman pure Literatur:

    "Die Geschichte der Literatur ist eine Milchstraße von Dieben und Verbrechern, die von anderen gestohlen haben, aus der Literatur, von Träumen, von mitgehörten Unterhaltungen, vom Leben anderer, vom Leben um sie herum. Aber aus dieser Mischung und diesem Vermischen entsteht Literatur. Ich habe einige Aspekte aus meinem eigenen Leben genommen, aber mir gefällt die Idee, mit der Form der Erinnerung zu spielen, und eine vorgetäuschte Erinnerung zu schaffen. Wir leben in dieser solipsistischen Welt, in der jeder bei Instagram, bei Facebook und so weiter die erste Person ist."
    Der Kult der Erinnerungen
    Kif erzählt uns seine Geschichte aus der Erinnerung, aus Rückblenden. Aus dem jungen Ghostwriter ist inzwischen ein sehr erfolgreicher, wenn auch ruheloser, vom Leben enttäuschter Produzent von TV-Realityshows geworden. Es ist also eine Ich-Erzählung, doppeldeutig, weil damit sowohl der Erzähler des Romans gemeint ist als auch der vermeintliche Autobiograph Heidl. Und weil Erinnerungen bekanntlich unzuverlässig sind und subjektiv, bleibt offen, was wahr ist und was der Erzähler bewusst im Ungewissen lässt. Richard Flanagan versteht seinen Roman auch als Reaktion auf eine literarische Gattung, die derzeit in den USA grassiert, die literarischen Memoiren:

    "Ich wollte einen Roman schreiben, der zwar ein Roman ist, aber zugleich den Eindruck erweckt, Autobiographie zu sein. Letztendlich sind alle Erinnerungen fiktiv und konstruiert, eine mehr oder weniger kunstvolle Form. Es ist also eine Auseinandersetzung mit der Vorstellung, nur die Literaturform sei glaubwürdig und wahr, die einige Brocken Realität enthält. Dieser Kult der literarischen Erinnerung, der in Nordamerika herrscht, scheint mir das literarische Äquivalent zum Selfie zu sein, diese Vorstellung, dass Romane der Wirklichkeit um uns herum nicht mehr gerecht werden können. Ich denke dagegen, dass Romane, wenn sie ihren Job tun, eine größere Wahrheit über unsere Zeit ausdrücken und die notwendigen Fragen stellen. In einer Zeit wie heute werden Romane eher relevant und das Lesen, dass weiterhin eine private Aktivität bleibt, wird zu einer viel subversiveren Form, als es das jemals gewesen ist."
    Das Leben ist keine Zwiebel
    Der Roman ist zudem eine intensive Auseinandersetzung mit dem Schreiben an sich, mit den Selbstzweifeln eines angehenden Autors, mit der Suche nach Worten. Das ist bisweilen etwas nervig, zumal Flanagan einen Philosophen erfunden hat, Tomas Tebbe, den seine Kunstfigur Heidl ständig zitiert, Aphorismen, die oft abgedroschen und aufgesetzt klingen: "Das Leben ist keine Zwiebel, die sich häuten ließe, und kein Palimpset, dem eine ursprüngliche Bedeutung abzugewinnen wäre. Das Leben ist eine endlose Erfindung." Richard Flanagan erklärt diese Figur:

    "Es ist das Zeitalter des Epigramms auf Twitter. Epigramme sind relativ dumm, denn dahinter steckt die Vorstellung, man könne Weisheit auf einen Satz reduzieren, und mir gefiel die Vorstellung, diesen Nietzscheanischen Vorläufer Tomas Tebbe zu erfinden, der Dinge sagt, die weise zu sein scheinen, aber je näher man sie sich anschaut, desto weniger wahr sind sie. Die Leute zitieren gerne Aphorismen und intellektuelle Autoritäten. Oft gilt aber: je inhaltsleerer sie sind, desto häufiger werden sie zitiert - und desto lächerlicher und komischer sind sie. Ich habe das Buch als Tragikomödie angelegt. Ich wollte ein großes komisches Element, das sich durch das ganze Buch zieht, zwar unterschwellig, aber dennoch stets vorhanden."
    Der Roman ist bisweilen etwas langatmig geraten und die philosophischen Binsenweisheiten nerven ab und an. Dennoch ist er ausgesprochen unterhaltsam. Er zeigt zum einen, wie eine Gesellschaft einem Betrüger und notorischen Lügner verfallen kann. Spätestens seit dem Bankencrash und den aufgeflogenen kriminellen Geschäften mit Krediten wissen wir, wie leicht die Welt betrogen werden kann und will. Zum anderen zeigt er, wie ein junger Idealist seine eigenen moralischen Gesetze in Frage stellt, sich verleugnet, sich verkauft. Es ist ein Roman über einen Mann, der sich selbst abhanden gekommen ist und sich jetzt an den Zeitpunkt erinnert, an dem ihm sein Leben entglitten ist. Es ist die Suche nach der verlorenen Freiheit der jungen Jahre.
    Richard Flanagan: "Der Erzähler"
    aus dem australischen Englisch von Eva Bonné
    Piper Verlag, München. 447 Seiten, 24 Euro.