Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft geht mit hohen Erwartungen einher - auch an die Flüchtlingspolitik, bei der die EU seit Jahren kaum vorankommt in ihren Bemühungen um ein gemeinsames Vorgehen. Am Dienstag (07.07.2020) haben sich die EU-Innenminister unter Vorsitz von Horst Seehofer (CSU) mit der Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten beschäftigt, die auf dem Mittelmeer gerettet wurden. Seehofer appellierte an die EU-Staaten, die Verantwortung für die aus Seenot geretteten Menschen gerechter zu verteilen. Bislang nehme nur ein verschwindend geringer Teil der EU-Staaten gerettete Menschen auf. Auch EU-Innenkommissarin Ylva Johansson drängte die Länder dazu, eine nachhaltige Lösung zu finden.
Diese Seenotrettung betreiben derzeit vor allem private Organisationen, bekannt ist etwa das Rettungsschiff "Sea-Watch 3". Eine staatliche EU-Seenotrettungsmission gibt es derzeit nicht. Im September 2019 wurde auf Malta ein vorläufiger Mechanismus vereinbart, um Gerettete schneller an Land bringen und auf EU-Länder verteilen zu können. Daran beteiligen sich jedoch nur wenige Staaten.
Petra Bendel ist Professorin an der Uni Erlangen-Nürnberg und Expertin für Flüchtlings- und Asylpolitik, außerdem Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Deutschland sieht sie beim Thema Flüchtlinge in der Rolle eines "ehrlichen Maklers".
Martin Zagatta: Frau Bendel, bei der Flüchtlingspolitik der EU, besonders bei der Seenotrettung hat man ja schon lange den Eindruck, dass da nichts oder nur ganz wenig vorangeht. Wie groß ist denn jetzt Ihre Hoffnung, dass sich unter der deutschen Ratspräsidentschaft daran irgendetwas ändert?
Petra Bendel: An Deutschland werden sehr hohe Erwartungen gestellt, die von Ihnen erwähnten Gordischen Knoten nun zu zerschlagen. Es wird vor allem erwartet, dass Deutschland bei der geplanten Reform des europäischen Asylsystems zwischen den Mitgliedsstaaten vermittelt, dass es sich stärker für die Seenotrettung einsetzt und hier die EU vorantreibt, dafür zu sorgen, dass die im internationalen Seerecht verankerte Pflicht, Menschenleben zu retten, hier auch wahrgenommen wird.
"Deutschland kann ein ehrlicher Makler sein"
Zagatta: Glauben Sie da an einen Durchbruch?
Bendel: Der Bundesinnenminister hat ja die Erwartungen schon ein bisschen abgesenkt heute. Man kann nicht unbedingt davon ausgehen, dass unter den Corona-Bedingungen, wo viele informelle Gespräche gar nicht vor Ort in Brüssel stattfinden können – und all das kann man nicht durch Zoom-Konferenzen ersetzen -, dass nun wirklich alle Gordischen Knoten zerschlagen werden können. Aber die Bundesregierung steht ja nicht alleine da, sondern sie ist in einer Trio-Ratspräsidentschaft mit den Regierungen Portugals und Sloweniens. Und mit dieser Trio-Ratspräsidentschaft kann sich Deutschland gemeinsam dann auch mit der Kommission und den anstehenden Vorschlägen dafür einsetzen, jetzt wirkmächtiger auf nachhaltige Lösungen hinzuarbeiten.
Zagatta: Jetzt wollte die EU-Kommission ja eigentlich schon längst Vorschläge machen. Das hat man mit der Begründung Corona vertagt, ein entsprechendes Regelwerk vorzuschlagen. Sind der Bundesregierung jetzt nicht die Hände auch irgendwie gebunden, wenn die EU-Kommission da nichts vorlegt?
Bendel: Nein. Sie kann auf jeden Fall ein guter, ehrlicher Makler sein. Denn Deutschland ist ja dafür bekannt, in den letzten Jahren sehr viele Geflüchtete aufgenommen zu haben und diese auch integriert zu haben, und ist von daher ein ernstzunehmender, ehrlicher Makler auch zwischen den Mitgliedsstaaten. Die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und die zuständige Kommissarin Ylva Johansson haben jetzt die neue Migrationsagenda angekündigt. Hier kann Deutschland gemeinsam mit der Kommission vorangehen.
"Flexible Solidarität" bei der Aufnahme von Flüchtlingen
Zagatta: Seehofer fordert ja von mehr EU-Mitgliedsstaaten, sich an der Aufnahme von Bootsflüchtlingen zu beteiligen. Er will heute auch wissen, wer da mitmacht. Er setzt da auf eine Koalition der Willigen. Bisher hat das ja kein großes Echo gefunden. Warum sollte sich daran jetzt etwas ändern?
Bendel: Die Idee ist, dass nicht alle Mitgliedsstaaten das Gleiche machen müssen, sondern die Idee ist – sie ist nicht ganz neu; sie wurde unter der slowakischen Präsidentschaft schon mal lanciert vor einigen Jahren -, dass es eine Art von flexibler Solidarität gibt. Also eine Art Jobsharing innerhalb Europas. Und dann kann man natürlich immer auch mit finanziellen Anreizsystemen arbeiten, indem man mit einer Koalition der Willigen vorausgeht und dann über Finanzanreize nach und nach weitere Staaten versucht ins Boot zu holen bei der Aufnahme von Flüchtlingen.
Zagatta: Das wäre dann eine Art Arbeitsteilung. Länder wie Deutschland nehmen Flüchtlinge auf und andere, vielleicht Ungarn, die zahlen dann dafür, mehr für Grenzkontrollen oder für die Versorgung von Flüchtlingen. So würde das funktionieren?
Bendel: Genau, oder beteiligen sich an den Agenturen, etwa an Frontex, an der Grenzschutzagentur und oder an EASO, dem Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen.
Zagatta: Wie ist da das Echo? Sind die Visegrád-Staaten oder andere, die da bisher große Bedenken haben – glauben Sie, die sind dazu bereit?
Bendel: Die sind natürlich der wichtigste Blockierer und die werden auch weiterhin wahrscheinlich nicht so schnell zu erweichen sein. Aber man sieht, dass andere Staaten, auch Staaten an den Außengrenzen unlängst sich positiv geäußert haben, etwa Italien und Spanien, also große Staaten an den Außengrenzen, um Deutschland und Frankreich darin zu unterstützen, ein neues Verteilsystem aufzusetzen.
Vorschlag zur Seenotrettung
Zagatta: Sie haben es auch schon angedeutet: Die EU-Flüchtlingspolitik, so sagen Kritiker, die verstößt gegen gültiges Recht, gegen Menschenrechte. Was heißt das aber für die Seenotrettung? Sehen Sie da jetzt irgendwelche Bewegung, weil das wird ja in den nächsten Monaten wieder ein Thema, das wahrscheinlich ganz groß auf uns zukommt?
Bendel: Allen Tendenzen, zunächst mal die humanitäre zivile Seenotrettung, die ja die einzige ist, die überhaupt noch im Mittelmeer agiert, zu kriminalisieren, sollte die EU erst mal entgegentreten. Die EU selber hat keine rechtliche Befugnis, selbst Seenotrettung zu betreiben, aber was sie tun kann ist, die Programme der Mitgliedsstaaten zu koordinieren und im Rahmen von Einsätzen bei Notfällen selbstverständlich zu helfen. In diesem Zusammenhang liegt ja jetzt der Vorschlag auch auf dem Tisch, die staatlich koordinierte Seenotrettung im Mittelmeer regional neu aufzulegen, indem die Mittelmeer-Anrainerstaaten gemeinsam dafür sorgen, dass gerettete Personen auch tatsächlich an einen sicheren Ort gebracht werden, der internationalen Menschenrechtsstandards genügt. Das heißt, man kann sie nicht einfach auf ein Schiff im Mittelmeer aussetzen und warten, dass sie auch noch krank werden womöglich. Hier brauchen wir einen EU-arbeitsteiligen Ansatz der Verantwortung der Aufnahme und schließlich dann auch der Integration der Geretteten.
Zagatta: Das hört sich gut an, aber diese Forderung gibt es seit Jahren. Wo sehen Sie da Bewegung? Oder gibt es keine?
Bendel: Bewegung gibt es vor allem interessanter Weise in einzelnen Mitgliedsstaaten. Das sind Staaten wie Deutschland, Frankreich, Portugal. Es ist dabei, zuletzt habe ich gesagt, Italien und Spanien haben sich bewegt. Auch das kleine Luxemburg ist da immer an Bord. Und es gibt auch Bewegung bei dem Engagement von Städten und Kommunen interessanterweise, die sich ja zur Aufnahme von Flüchtlingen bereit erklären. Und wenn man dies als eine Chance sieht, über die bestehenden Aufnahmeregelungen hinaus den Herausforderungen zu begegnen, dann kann die EU auch hier die Kommunen unterstützen.
Kritik an Zusammenarbeit mit Libyen
Zagatta: Hat aber in der Vergangenheit bisher nicht geklappt. Diese Forderung gibt es ja schon lange. Wie sehen Sie denn die Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache, wenn man weiß, dass in Libyen die Menschen in Gefängnisse gebracht werden, die aus dem Mittelmeer wieder zurückgebracht werden, teilweise gefoltert? Da gibt es ja ganz schlimme Vorwürfe. Verhält sich die EU da kriminell, oder wie ordnen Sie das ein?
Bendel: Das ist eine ganz schwierige Frage. Libyen ist auf jeden Fall ein Staat, ein gescheiterter Staat, ein "failed state", der in keiner Weise seiner Schutzverantwortung gerecht wird, im Gegenteil die Menschenrechte mit Füßen tritt. Hier muss sich die Europäische Union ernsthaft fragen, ob sie mit einem solchen Staat zusammenarbeiten will.
Zagatta: Sehen Sie da Bewegung? Es passiert ja nichts.
Bendel: Sehr wenig. Wenn ich jetzt sehe, dass sich auch internationale Akteure in Libyen immer stärker noch weiter engagieren, aber natürlich mit ihren Einzelinteressen, dann muss die EU hier wirklich ein ernsthaftes Monitoring betreiben, wenn es um die Kooperation mit dieser Küstenwache geht, und da muss man fragen, wer sind eigentlich diese Menschen, die da in der Küstenwache auch arbeiten, und von wem werden sie unterstützt.
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