Ein wolkenloser Himmel wölbt sich über der Pfalz, die Weinberge um Bad Dürkheim leuchten rot, gelb und orange im herbstlichen Licht. Nach Feierabend treffen sich die Menschen zwischen den Säulen einer restaurierten Villa aus der Römerzeit. Sie gehört zu einem Weingut, das in den ersten Jahrhunderten nach Christi Geburt prächtig florierte.
"Hier den ganzen Hang hinunter waren Wirtschaftsgebäude, Weinkeltern, Scheunen und so weiter. Wir stehen hier nur vor dem Herrenhaus, dem Bad und den Repräsentationsräumen von einer sehr, sehr großen Anlage, die man sich vorstellen muss in den Dimensionen wie eine barocke Schlossanlage ungefähr."
Weinstöcke wachsen, wo einst die Nebengebäude standen, die Ulrich Himmelmann aufzählt, Leiter der Archäologie in der Region. Ein Gutshof von solchen Ausmaßen ist in der Pfalz heute unvorstellbar. Doch im Imperium Romanum gab es extreme Unterschiede zwischen reich und arm – und noch drastischer war das Wohlstandsgefälle zu den Menschen jenseits des Rheins, die weder Weinkeltern noch Badehäuser, ja nicht einmal Bauten aus Stein kannten! Kein Wunder, dass sie eines Tages in Scharen über die Grenze strömten - manche eher friedlich, viele mit Feuer und Schwert.
"Dieses Landgut ist hier in frührömischer Zeit bereits gegründet worden, läuft hier bis in die Mitte des vierten Jahrhunderts durch in enormer Größe; und um die Mitte des 4. Jahrhunderts brennt das hier ab und dann ist es auch zu Ende."
Diese Zeit kennt man in Deutschland als "Völkerwanderung" – doch Historiker sind nicht mehr einverstanden mit dem lange tradierten Bild.
Weltuntergangs-Szenario in der zeitgenössischen Chronik
"Zahllose wilde Völker haben Besitz ergriffen von ganz Gallien. Das gesamte Gebiet zwischen den Alpen und Pyrenäen, zwischen dem Ozean und dem Rhein haben die Feinde zerstört. Mainz, einst eine berühmte Stadt, haben sie eingenommen und völlig zerstört, Worms musste eine lange Belagerung aushalten, bis es dem Untergang anheimfiel. Die mächtige Stadt Reims, ferner Amiens, Arras, Tournay, Speyer, Straßburg, alle diese Städte sind in den Besitz der Germanen übergegangen."
Der Kirchenlehrer Hieronymus malte sich die Ereignisse im Westen des Römischen Reiches später als Weltuntergang aus. Er lebte allerdings einige tausend Meilen entfernt in Bethlehem.
Aber auch andere Geschichtsschreiber entwarfen Horrorszenarien furchtbarer, großflächiger Zerstörungen. Daraus entstand das Bild der "Völkerwanderung", das bis vor kurzem in den Geschichtsbüchern stand: Demnach zogen angeblich Männer mit Helm und Schwert, dahinter Planwagen voll mit blonden Kindern und bezopften Frauen, gen Süden, zerschlugen das Römische Reich - und danach begann das Mittelalter.
In die Mottenkiste der Geschichte
Aber so war es offensichtlich nicht. Die Darstellung, die lange auch der nationalistischen Propaganda diente, gehört in die Mottenkiste der Geschichte. Das zeigen archäologische Forschungen wie in der Pfalz: Bei der Ausgrabung der Dürkheimer Römervilla kamen eindeutige Brandspuren zu Tage – doch die Archäologen haben überall im Weinbaugebiet, das schon damals dicht besiedelt war, geforscht. Dr. Himmelmann deutet auf die Hügelkette jenseits des Dürkheimer Bruchs:
"Auf der anderen Seite der Hardtrand, wo die Burgruinen stehen, auch gleich der Nachbar, die Villa in Wachenheim, die kann man von hier aus sehen."
Die Römervilla in Wachenheim ist ein schönes Beispiel. Sie gehörte ebenfalls zu einem imposanten Weingut - und sie wurde nie zerstört. Das Gut florierte noch ein ganzes Jahrhundert lang, nachdem der Dürkheimer Gutshof in Flammen aufgegangen war. Auch in Speyer, dem römischen Hauptort, stießen Himmelmann und seine Kollegen nicht auf Spuren von Mord und Brand. Um 350 begann ein Jahrhundert der Unrast, schließt der Archäologe daher, es kam zu Überfällen, Offiziere putschten, Truppen zogen durchs Land, doch sie richteten nicht die großflächigen Verheerungen an, von denen antike Geschichtsschreiber berichteten.
Macht Roms schwand nach und nach
"Wir wissen, es gab Bürgerkriege, es gab lokale Unruhen, die aber offensichtlich nicht in allen Orten gleich verlaufen sein müssen. Es gibt auch kleinstädtische Siedlungen hier wie Eisenberg, da hat es große Brände gegeben und es gibt andere Orte, wo aber so etwas nicht feststellbar ist."
Das ist das neue Bild der Epoche, die 476 zur Absetzung des letzten weströmischen Kaisers führte. Die Weltmacht Rom zerbrach nicht in einem dramatischen Moment mit Donnergetöse. Ihre Macht schwand nach und nach – und für viele Bürger lief das gewohnte Leben weiter: In Speyer speiste das Aquädukt die Bäder noch lange mit Frischwasser.
Und wer löste den allmählichen, unaufhaltsamen Wandel aus? Auch darauf haben Wissenschaftler neue Antworten. Von einer "Völkerwanderung" zu sprechen, ist nicht mehr haltbar, betont der Historiker Mischa Meier, Professor in Tübingen:
"Das betrifft zum Einen den Volksbegriff, der letztlich ein Konstrukt aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert ist und nach allem, was wir heute wissen, hat es in der Antike und dem Frühmittelalter keine Völker in diesem romantischen Sinn gegeben. Und das andere betrifft die Komponente Wanderung – da gibt es sehr klare Vorstellungen, die man sich früher von wandernden Völkern gemacht hat, und die sind mittlerweile auch wissenschaftlich nicht mehr tragbar."
"Völker" gab es in der Antike nicht
Entscheidend, so Meier: Die Gruppen von Menschen, die seit Ende des 4. Jahrhunderts vermehrt die Grenzen des römischen Reiches überquerten, lassen sich nicht als einheitliche Ethnien beschreiben. Die Forschungen von Migrationssoziologen und Ethnologen belegen, dass mobile Menschengruppen wie die Alemannen, Vandalen oder Goten der römischen Geschichtsschreiber nicht unbedingt gemeinsame Vorfahren hatten oder eine lange gemeinsame Kulturtradition.
Vielleicht werden die Untersuchungen der DNA in antiken Skelettresten, die seit wenigen Jahren in großem Stil möglich sind, bald mehr Licht auf die Abstammung dieser Gemeinschaften werden. Bisher ist nur klar: Sie fühlten sich zusammengehörig. Meier:
"Sie haben gemeinsam geglaubt, eine Gemeinschaft zu sein und haben zum Teil auch geglaubt, dass sie eine Abstammungsgemeinschaft sind und haben sich um diesen Glauben herum dann auch ihre eigenen Mythen und Geschichten entwickelt und später dann auch versucht, schriftlich festzuhalten und auf die Weise dann ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt, das uns heute von außen zunächst einmal wie eine ethnische Einheit dann auch vorkommt."
Griffige Völkernamen gehen auf römische Autoren zurück
Vielleicht kann man von Reise-, Kampf- und manchmal auch Siedlungsgemeinschaften sprechen, die sich allmählich über den Westen des Imperiums ausbreiteten. Auch wie sie sich nannten, ist meist unbekannt. Namen wie Alemannen, Vandalen oder Goten gehen in der Regel auf römische Autoren zurück, die eine praktische Bezeichnung brauchten – wie Historiker bis heute. Um die heterogenen Gemeinschaften genauer zu charakterisieren, hat der Historiker Meier eine Reihe von Idealtypen entwickelt:
"Kleine, schlagkräftige Kriegergruppen, die sich um einen charismatischen Anführer scharen und dann immer wieder Einfälle ins Römische Reich vorgenommen haben, das wären etwa die frühen Franken gewesen oder die frühen Alemannen oder Sachsen, " denen es vorrangig um die Reichtümer der Römer ging.
Auch Flüchtlinge wollten ins Römische Reich
Andere waren tatsächlich auf der Suche nach einer neuen Heimat: Die gotischen Flüchtlinge etwa, die, von hunnischen Reiterverbänden bedroht, im Jahr 375 die Donau überquerten. Aber auch ganze Armeen waren unterwegs – vielleicht hofften sie auf den einträglichen Dienst in römischen Truppen:
"Armeen allerdings im antiken Sinn, das heißt, immer auch von einem großen zivilen Tross begleitet, von Frauen und Kindern, von Händlern und allen möglichen anderen Personen."
Schließlich weist Meier auf halb nomadische arabische Gruppen hin. Nicht nur an Rhein und Donau war der Limes auf Dauer nicht zu halten, auch in Syrien oder etwa in Nordafrika erwiesen sich die Legionen als zu schwach.
Doch es lag nicht so sehr nicht am militärischen Druck von außen, dass die römische Macht ins Wanken kam. Historiker sind sich einig, dass die Politik Roms eine entscheidende Rolle spielte. Römer und "Barbaren" hatten eine "verflochtene Geschichte", wie man heute sagt: Seit dem 2. Jahrhundert suchten römische Regierungen gezielt den Kontakt – und lösten damit Veränderungen aus, die später auf das Imperium zurückwirkten. Mischa Meier hält fest:
"Dass die Römer sehr aktiv Einfluss genommen haben auf die Geschehnisse im Barbaricum und dabei natürlich versucht haben, ihre Grenzen zu sichern, aber auch Kontakte zu knüpfen, Handelsverbindungen zu etablieren und in die inneren sozialen und politischen Verhältnissen der Gruppen einzugreifen, nämlich zu ihren Gunsten."
Römische Kultur bei den Nachbarn ständig präsent
Über Jahrhunderte war römische Kultur bei den Nachbarn ständig präsent: Vielen Anführern zahlten die Kaiser hohe Summen, um sie an Rom zu binden. Krieger brachten vom Dienst in den Legionen Geld und römische Lebensweise in ihre Heimat mit. Gesandte, aber auch Händler und Handwerker wechselten über die Grenzen. Diese Politik blieb nicht folgenlos:
"Aus kleineren Verbänden sind größere Zusammenschlüsse geworden, sie haben Identitätsbildungsprozesse durchlaufen, vor allem aber haben sie sich immer stärker auf das Römische Reich auch bezogen."
Neu entstehende Eliten im "Barbaricum" orientierten sich an der benachbarten Großmacht, übernahmen Waffen, Moden, Denkweisen – und erkannten im Imperium bald ein verlockendes Gelobtes Land. Ein strategischer Fehler der römischen Politik?
"Die Römer hatten etablierte Prinzipien der Außenpolitik, die eben viele Jahrhunderte funktioniert haben, aber die eben Folgekosten mit sich brachten, die für die antiken Zeitgenossen nicht erkennbar waren, weil sie sich eben erst nach vielen Jahren und sehr, sehr schleichend materialisierten. Und gleichzeitig haben wir natürlich ein Wohlstandsgefälle zwischen dem Römischen Reich und den Regionen außerhalb des Reiches, und zwar ein sehr erhebliches Wohlstandsgefälle und natürlich hat das Begehrlichkeiten geweckt, ohne Zweifel."
Der Domino-Effekt im 4. Jahrhundert
Was gegen Ende des 4. Jahrhunderts den Druck der Hunnen auf ihre westlichen Nachbarn auslöste, ist unklar. Ob klimatische Veränderungen und Seuchen in Zentralasien die Ursache waren, ist umstritten. Jedenfalls fiel die militärische Aggression der Hunnen mit einer römischen Schwächephase zusammen und es kam zu einem Domino-Effekt. Immer mehr Menschen drängten ins Reich, die Zentralmacht konnte sie nicht aufhalten - ja, sah sich im Jahr 382 schließlich gezwungen, gotischen Kriegern für den Dienst in römischen Legionen Wohngebiete auf dem Boden des Imperiums abzutreten.
"Kaiser Theodosius machte König Athanarich Geschenke, schloss eine Allianz mit ihm. Nach Athanarichs Tod blieb seine Armee in den Diensten des Kaisers, unterwarf sich der römischen Herrschaft und fügte sich in die kaiserlichen Truppen ein, als wäre sie eins mit ihnen."
So berichtete der Geschichtsschreiber Jordanes später. Kriegsdienst gegen römisches Land – bis dahin ein unerhörtes Tauschgeschäft! Der Grund ist offensichtlich:
"Foederaten, unter Vertrag stehende, von außen kommende Soldaten, die kein römisches Bürgerrecht haben, die sind natürlich deutlich billiger zu haben als römische Bürger."
Der Kaiser konnte nicht mehr genug römische Legionäre besolden – das war ein entscheidender Faktor für den Niedergang des Imperiums, betont der Historiker Robert Steinacher, Professor in Innsbruck.
Und so vermischten sich die beiden Sphären, die einst der Limes getrennt hatte, immer stärker: Mal kämpften Legionäre mit hunnischen Einheiten gegen Franken, mal mit gotischen Abteilungen gegen Hunnen und in Bürgerkriegen mit diesen oder jenen gegen Römer. Oberbefehlshaber wurden Männer wie Stilicho, der von Vandalen abstammte oder Aetius, der lange am Hof der Hunnen gelebt hatte. Der gotische Warlord Alarich führte erst Truppen des Kaisers, dann plünderte er Rom, die frühere "Beherrscherin der Welt".
Christentum erschüttert ideologische Basis des Imperiums
Der Osten des Reiches mit der gut befestigten Hauptstadt Konstantinopel überstand die unruhigen Zeiten, doch in Spanien, Nordafrika und Italien, in Teilen Galliens und Germaniens gründeten Vandalen, Goten, Franken neue, kleinere Reiche, die leichter zu verteidigen waren als das heterogene Gebilde, das Rom einst kontrolliert hatte.
"Stellen Sie sich mal vor die Grenzen zwischen Britannien und dem Euphrat: Das zu kontrollieren und auch mit einem entsprechenden ideologischen Unterfutter zu versorgen, ist natürlich schwieriger als einen Teil, ein Bündel von Provinzen wie zum Beispiel Nordafrika oder Gallien oder Italien als partikularen politischen Apparat zu organisieren."
Und die ideologische Basis des Imperium Romanum war eben auch erschüttert worden: Dass sich das Christentum als neuer Glaube in der Bevölkerung verbreitete und im 4. Jahrhundert auch im Staat etabliert wurde, trug ebenfalls zur Instabilität bei.
"Der tiefe Wandel von Mentalitäten und ideologischen Strukturen, der Schritt zum Christentum, der eine mittelmeerische Gesellschaft fundamental verändert hat."
Die römische Kultur überdauerte
So bildeten sich auf weströmischem Boden neue Reiche mit neuen Mächtigen – aber dennoch erwies sich römische Kultur als der Kitt der Kontinuität, der Antike und Mittelalter verband.
"Im Westen entwickelt sich ja auch eine letztlich kontinuierliche antike Struktur, denken Sie daran - eine kontinuierliche katholische Kirche, die die lateinische Sprache als Sprache der Liturgie wie aber auch der Bildung, der Überlieferung, weiter verwendet. Die Kirche ist die spätantike bürokratische Struktur, die kontinuierlich fortbesteht - nicht umsonst residiert der Papst in Rom, kein Wunder!"
Die Übergangsphase – früher "Völkerwanderung" genannt - zog sich vom 4. bis ins 6. Jahrhundert hin. Manche Historiker zählen auch die arabische Expansion im 7. Jahrhundert noch dazu und sprechen erst danach von der neuen Epoche, dem Mittelalter.
Für Zeitgenossen kann der Untergang des weströmischen Reiches kein radikaler Einschnitt gewesen sein. Wenn man als Handwerker in Speyer lebte oder in der Pfalz Wein anbaute, änderte sich nicht viel. Der Archäologe Ulrich Himmelmann meint:
"Dass die Menschen diesen Bruch nicht so wahrgenommen haben, ach Gott, jetzt ist das Römische Reich weg, sondern dass für die Menschen das Römische Reich eigentlich der Staat war, in dem sie lebten und dass das Römische Reich eigentlich fortbestand und jetzt gerade in einer Krise war und eben lokale Autoritäten dieses Machtvakuum füllten. Und dass Karl der Große sich um 800 genau auf diese Tradition beruft, entspringt sicher aus dem noch vorhandenen Gefühl dafür, dass es da einen Staat gab, der halt gerade renoviert werden muss."