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Roger Deakin: "Wilde Wälder"
Literarische Erkundung des fünften Elements

Für "Wilde Wälder" ist der Autor Roger Deakin durch die Wälder Großbritanniens und quer durch Europa bis nach Zentralasien und Australien gereist. In seinem literarisch-essayistischen Band zeigt er auf, wie sehr der menschliche Alltag mit dem kostbaren Rohstoff Holz verwachsen ist.

Von Antje Rávic Strubel | 14.05.2018
    Der Wald von Richmond im Südwesten von London, England
    Erkundung der jahrhundertealten Reise des Menschen durch die Welt der Bäume: Deakins "Wilde Wälder" ist Autobiografie und Abenteuerroman, Natur- und Kulturgeschichte zugleich und nicht zuletzt eine eindringliche Anleitung zur Achtsamkeit (imago / P. Frischknecht)
    Eines gilt es gleich zu Anfang klarzustellen. "Wilde Wälder", Roger Deakins neues Buch berichtet nicht von unberührten, wilden Wäldern dieser Welt, von denen es so gut wie keine mehr gibt. Vielmehr befasst es sich mit der jahrhundertealten Reise des Menschen durch die Welt der Bäume zum Zweck, Früchte, Samen und Holz auf die unterschiedlichste Weise zu nutzen. Es geht um den menschlichen Zugriff auf den Wald. Die inhaltliche Engführung im deutschen Titel zugunsten des Klangs kann man den Übersetzern Andreas Jandl und Frank Sievers aber leicht nachsehen. Sie haben dieses facettenreiche, wissenssatte und präzis beobachtete Buch des Naturkundlers Deakin, das voller sachkundiger Details und lehrreicher Fakten steckt, nicht nur bewundernswert adäquat übersetzt; sie haben es auch in ein wunderbar melodisches Deutsch gebracht.
    Holz als fünftes Element
    Im "Logbuch eines Schwimmers" war Roger Deakin in die Gewässer seiner Heimat eingetaucht, um sie vom Wesen her zu verstehen; nun taucht er tief ins Holz ein. Wie für die Chinesen wird es auch für ihn zum fünften Element. Er ist ein Waldmensch. Schon im Namen seiner Eltern steckt das Wort Holz oder Wald: der Mädchenname der Mutter lautete Wood, sein Vater trug den Namen Greenwood als Mittelnamen. Deakin sieht sich als Teil einer Generation, die mit Ulmen aufgewachsen ist, und das Ulmensterben in seiner Heimat Suffolk stürzt ihn in fast physische Trauer.
    Als Schüler erforschte Deakin die Ökologie eines Waldstücks, was früh seine Beobachtungsgabe schärfte, und das Wurzelschlagen nimmt er gern wörtlich: In Suffolk sanierte er ein vierhundert Jahre altes Bauernhaus aus Eiche so sanft, dass er unter freiem Himmel darin wohnen konnte, als lebte er im Wipfel eines Baums wie Cosimo, der Held aus Italo Calvinos Roman "Der Baron auf den Bäumen". Für ihn ist ein Holzhaus lebendig, die Balken sind Äste. In den eigenen Adern, schreibt Deakin, fließe Baumsaft. Ähnlich wie Thorau in "Walden oder das Leben in den Wäldern" führt er Tagebuch über seinen alternativen Lebensstil, ähnlich wie Giles Winterborne aus Thomas Hardys "Die Woodlanders" verortet er sich in der Tradition einfacher Holzarbeiter.
    "Im Frühling bezog ich im oberen Stockwerk eine Art Baumhaus und schlief unter den Sternen. (…) Ich liebte diese Ruine, damals wie heute, deshalb zögerte ich, mich als ihr Heiler aufzuspielen. Ich mochte die vielen von nistenden Mauerbienen und solitären Wespen in die Südwand gegrabenen Krater, die in den sonnenzermürbten Flechtwänden wie jemenitische Türspione aussahen. Mir gefiel, wie die vorwitzigen Efeuranken mit ihren Spuren von grünen Algen und Schneckenschleim ihre Köpfe durch die Spalten der maroden Fenster streckten. Ich hieß die Spatzen und Stare willkommen, die im Strohdach hausten, wie auch die Fledermäuse, die später durch den noch offenen Dachstuhl flitzten, während ich nach eines langen Tages Arbeit mit herrlich schmerzenden Gliedern auf mein Lager sank.
    Streizüge durch die ganze Welt
    Sein selbstgezimmerter Tisch, sein Bett mit aus Ulmenholz an der Drehbank seiner Werkstatt gefertigten Pfosten, sein selbstgedecktes Reetdach sind Ausgangspunkt von Streifzügen, die Deakin durch den Wald in Suffolk, nach Devon, Essex oder den Forest of Dean unternimmt - oder nach Frankreich, in die Karpaten, zu den Olivenbäumen von Lesbos, den Eukalyptusbäumen im australischen Outback oder nach Zentralasien. Ob Deakin eine Krähenkolonie beobachtet, den nächtlichen Tanz der Motten erkundet, ob er ein Waldcamp autark lebender Menschen in Somerset besucht, um zu lernen, wie man traditionelle Zelthütten baut, selbst eine Hecke anlegt, ob er mit Aborigine-Frauen Karanda-Pflaumen erntet oder lernt, wie man aus Baumwurzeln Trinkwasser gewinnt; das Augenmerk dieser sich verästelnden Holzenzyklopädie, in der es heißt, die Feinde des Waldes seien immer auch die Feinde der Menschheit, liegt auf dem Wald als Bezugssystem zum Menschen. Nicht immer schadet der menschliche Einfluss dem Wald.
    "Durch das Feuerlegen haben die Aborigines in großem Stil die Landschaft beeinflusst und verändert. (…) Diese Feuer schaden dem Land in keiner Weise, sondern regen das Wachstum der Pflanzen, ihre Anzahl und Vielfalt an. Eukalyptus wächst durch Feuer besser, weil der lebende Kambiumring durch die dicke Borke gut geschützt ist und daher die darunter versteckten epikormischen Knospen sofort neu austreiben. Oft sorgen Feuer für einen Regen holziger Samen aus den Baumkronen. Ihnen ist auch zu verdanken, dass durch das nun ungehindert einfallende Sonnenlicht fruchtbare Asche entsteht, wodurch die Vielfalt der Pflanzenarten zunimmt und mehr Nutzpflanzen wie Wildtomaten oder Buschbananen gedeihen. Ihre Feuer waren eine Art Frühjahrsputz, bei dem das Land geweiht wurde."
    Ein literarisch und romantisch angehauchter Naturforscher
    Auf seinen Erkundungen stellt Deakin elementare Fragen. Wie unmittelbar kann die Begegnung zwischen Mensch und Baum heute noch sein? Wie reagieren verschiedene Holzarten auf Krummäxte, Handsägen, Drechselmesser? Wie lebt es sich ohne zivilisatorische Hilfsmittel im Wald, und was bedeutet Wald in verschiedenen Regionen der Welt? Deakin ist ein Romantiker, auch ihm schmeckt das Brot in freier Natur besser als in der Stadt. Aber statt zu verklären, spürt er den Ursprüngen der Verklärung nach, zeigt wie sich die einst dem Wald abgerungene Existenz des Menschen in Ritualen und Symboliken niederschlägt, die sich Kultur und Religion eingeprägt haben.
    Da ist der Grüne Mann aus Blättern in einer Kirche in Spreyton, der wie Dionysos für das Leben selbst steht. Da sind die Ausgrabungen archaischer Holzkreise; Spuren hölzerner, zu einem Oval angeordneter Pfähle, die ähnlich wie Stonehenge vor tausenden Jahren rituelle Bedeutung hatten. Da feiert Deakin mit den Bewohnern von Great Wishford den Gallapfeltag, ein Fest, das bis ins Jahr 1603 zurückreicht, als die Dörfler das Recht erhielten, im Königlichen Wald Holz zu sammeln. Da ist der Brauch, Frühlingszweige ins Haus zu holen oder der Trend, ganze Bäumen in Galerien auszustellen, wie es David Nash mit seinen Plastiken tut, der mit seinen hölzernen Himmelsleitern berühmt wurde. Mit seinen Atelierbesuchen beleuchtet Deakin exemplarisch die Auseinandersetzung mit Natur in der Gegenwartkunst. Margaret Mellis, die mit Treibholz arbeitet, in dessen Maserung sich die Bewegungen des Wassers abbilden, hat nicht zuletzt Damien Hirst inspiriert. Die Malerin Mary Newcomb lässt durch ungewohnte Perspektiven Unscheinbares der Natur groß und menschlichen Alltag klein erscheinen, wenn sie etwa ein Fußballspiel durch ein Raupenloch im Eichenblatt beobachtet.
    "Mary Newcomb interessiert sich für Halbverstecktes oder sogar Unsichtbares. (…) Überall in ihrem Werk sind Vögel manchmal halb verborgen und schwer zu erkennen, wie im Wald oder einer Hecke … in ihrem Tagebuch spricht Mary zudem von 'halben Männern' als Bildmotive: 'halbe Männer in Mulden, in Feldern, in hohem Gras'. So ist das: In den Feldern, Hecken und Wäldern hört man Dinge, die unsichtbar bleiben oder halb versteckt und nur flüchtig zu sehen sind. Im Gesamtbild als Hecke oder Wald werden Bäume von Natur aus zu einer abstrakten Masse aus Farbe und Form. Die Wahrnehmung ist mehr als der Blick auf den einzelnen Baum."
    Ein Blick geschmeidig wie poliertes Walnussholz
    Die Erde hat 400 Millionen Jahre gebraucht, um Wälder hervorzubringen, der Mensch braucht weitaus weniger lange, um sie zu vernichten. Diese Feststellung, die die schwedische Autorin Kerstin Ekman in ihrer großen, eindrücklichen Kulturgeschichte des Waldes trifft, greift Deakin auf. Aber er bleibt immer ein emphatischer Beobachter. Von Neugier getrieben, ist sein Blick doch sanft und geschmeidig wie das polierte Walnussholz der Armaturen eines Jaguars, das aus dem wertvollen Wurzelholz kalifornischer Walnussbäume stammt. Wenn Deakin den Weg dieses Holzes von seiner Gewinnung bis zum letzten Schliff auf den Fertigungsbändern des Autoherstellers oder zur Herstellung von Flugzeugpropellern nachzeichnet, um zu verdeutlichen, wie sehr der menschliche Alltag mit dem Rohstoff Holz verwachsen ist, ist sein Anliegen, das Bewusstsein für die Kostbarkeit von Bäumen zu schärfen, nurmehr erahnbar. Und der Hinweis, auch Gewehrkolben seien aus Walnussholz, muss als Kritik daran genügen, dass etwas, das wir mit Ruhe und Erholung verbinden, zum Zwecke des Zerstörens zerstört wird.
    "Für jeden Wagen wird ein guter halber Quadratmeter des kostbaren Wurzelholzfurniers benötigt. Ich sah, wie das in Form geschnittene Walnussholz behutsam auf eine Grundierung aus drei Lagen Pappelfurnier gebettet wurde, wobei die Maserung benachbarter Blätter immer im rechten Winkel zueinander liegen musste. Dann wurden die Holzsandwiches kunstfertig in einer Presse an die Konturen des Metallrahmens von Armaturenbrett, Türverkleidung oder Schaltkonsole angepasst und fünf Minuten bei 140 Grad Celsius gekocht."
    Der Wald als Abbild gesellschaftlicher Zustände
    Für nachhaltige Holzwirtschaft plädiert Deakin schon aus Gründen menschlichen Selbsterhalts. Das verdeutlichen seine Reisen nach Australien oder in die weltweit größten Walnusswälder und zu den ältesten, ursprünglichen Apfelbäumen Kirgisistans, wo die Menschen viel unmittelbarer vom Ertrag der Bäume abhängen als in Europa. Hier zeigt sich auch, dass der Wald immer ein Abbild gesellschaftlicher Zustände ist, ob er von Kriegen ausgebrannt, vom Tourismus gezeichnet oder von jeweils herrschenden Systemen geschätzt oder vernachlässigt wird. Ähnlich dem Treibholz spült es Deakin auf seinen Erkundungen mal hier, mal dorthin, abhängig von dem, was seine Aufmerksamkeit fesselt.
    Und wenn seine Beobachtungen mitunter zerfasern oder die Betrachtungen sich wildwüchsig verzweigen, entschädigt doch mit jedem Umblättern wieder die außergewöhnliche Gestaltung dieses Buches, die Judith Schalansky zu verdanken ist. Die in zurückhaltend dunklem Grün gesetzten Seiten erinnern an Blätter am Baum. Und jedem Unterkapitel ist eine andere Stammscheibe, der Querschnitt durch eine andere Holzart, in Nahaufnahme vorangestellt. Diese Abbildungen des Innenlebens eines Wachholders, Walnussbaums oder Eukalyptus, die sich stark voneinander unterscheiden, veranschaulichen auf verblüffend schlichte, schöne und einprägsame Weise die Individualität jedes Baumes und lassen zwischen den Zeilen jenen Rohstoff aufleuchten, von dem in "Wilde Wälder" die Rede ist.
    Roger Deakin: Wilde Wälder
    Judith Schalansky (Hg.); Übersetzung: Frank Sievers, Andreas Jand
    Matthes & Seitz, Berlin 2018, 440 Seiten, €38,00