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Supreme Court in den USA
Ein Gericht als ideologische Waffe?

Mit umstrittenen Urteilen zum Waffenrecht, Klimaschutz und Abtreibungen war der US-Supreme Court in den Schlagzeilen. Weitere kontroverse Entscheidungen könnten folgen, denn das Oberste Gericht ist längst Teil der aufgeheizten Debatten in den USA.

Von Katja Ridderbusch | 27.09.2022
Protest von Befürwortern des Rechts auf Abtreibung gegen die konservativen Verfassungs-Richter Thomas, Kavanaugh, Samuel Alito, Amy Coney Barrett und Neil Gorsuch
Mai 2022: Protest von Befürwortern des Rechts auf Abtreibung gegen die Richter Thomas, Kavanaugh, Samuel Alito, Amy Coney Barrett und Neil Gorsuch (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Jacquelyn Martin)
Abtreibung, Waffenrecht, Klimapolitik: Die Fernsehnachrichten überschlugen sich. Mit einem Bündel von umstrittenen Entscheidungen entlang der großen politischen Reizthemen schloss der Supreme Court, der Oberste Gerichtshof der USA, im Juni seine Sitzungsperiode ab.

Kontroverse Entscheidungen

Damit ging eine Sitzungsperiode zu Ende, die unter Experten und Bürgern viele Fragen zurücklässt. Ist das höchste Gericht des Landes, jene Institution, die frei von politischer Ambition die rechtmäßige Auslegung der amerikanischen Verfassung prüfen soll, zur ideologischen Waffe geworden?
Und: Wie geht es weiter, welche kontroversen Entscheidungen könnten die nächsten sein, wenn die neun hohen Richter am 28. September das erste Mal hinter verschlossenen Türen und am 3. Oktober zur Eröffnung der nächsten Sitzungsperiode zusammenkommen?
Fred Smith ist Professor für Verfassungsrecht an der Emory-Universität in Atlanta. Er gehe davon aus, dass das Oberste Gericht weiterhin das konservativste Gericht bleibe, das es bisher gegeben hat, sagt er. Der Supreme Court ist Teil der polarisierenden Debatten zwischen den politischen Lagern geworden, die die Vereinigten Staaten seit Jahren spalten. Und auch nach den Urteilen im Frühjahr gingen Bilder wütender Demonstranten durch die Medien.

Der Streit ums Abtreibungsrecht

Die spektakulärste unter den jüngsten Entscheidungen: Das Oberste Gericht kippte mehrheitlich das seit 1973 bestehende Urteil des Supreme Court – das schreibt das Recht auf Abtreibung landesweit fest und ist bekannt unter dem Namen des damaligen Falls "Roe versus Wade". Damit fällt die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen zurück an die Einzelstaaten.
Juli 2022: Unterstützerin des Rechts auf Abtreibung bei einer Kundgebung
Juli 2022: Unterstützerin des Rechts auf Abtreibung bei einer Kundgebung (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Meg Kinnard)
Wie erwartet teilte die Reaktion auf das Urteil das Land durch die Mitte: Vor allem konservative christliche Amerikaner bejubelten die Entscheidung. Progressive Gruppen sahen in dem Urteil einen Angriff auf die persönliche Freiheit. Die Wirkung des Urteils ist unmittelbar: Rund die Hälfte aller 50 US-Bundesstaaten dürfte Abtreibungen zukünftig stark einschränken. Einige Staaten hatten bereits entsprechende Gesetze beschlossen, die mit dem Urteil automatisch in Kraft traten.  
Das Oberste Gericht traf kurz vor der Sommerpause noch weitere brisante Entscheidungen. So hob es ein mehr als 100 Jahre altes Gesetz aus dem Staat New York auf, das das Tragen einer Waffe in der Öffentlichkeit reguliert. Das Urteil gilt als deutliche Ausweitung des Waffenrechts – einen Monat nach dem Massaker an der Grundschule von Uvalde in Texas, bei dem ein Amokschütze 19 Kinder und zwei Lehrerinnen erschoss.
In einem weiteren Urteil sprach der Supreme Court der US-Umweltbehörde EPA, der Environmental Protection Agency, das Recht ab, weitreichende Regeln zur Begrenzung der Treibhausgasemissionen zu erlassen – ein Schlag für die Klimapolitik von Präsident Joe Biden. Verfassungsrechtler Smith: "Das jüngste Bündel von Urteilen sendet ein klares Signal an die amerikanische Öffentlichkeit: Dies ist kein Supreme Court, der in kleinen Schritten vorgeht. Das Gericht hätte zum Beispiel die Möglichkeit gehabt, sich in seiner Entscheidung zum Abtreibungsrecht an Staaten zu orientieren, die Schwangerschaftsabbrüche nach der 15. Woche einschränken. Damit hätte das amerikanische Abtreibungsrecht mehr auf der Linie anderer westlicher Länder gelegen. Aber dieser Oberste Gerichtshof in seiner derzeitigen Zusammensetzung zielt ganz klar auf Maximalentscheidungen ab, auf Urteile mit der größtmöglichen Wirkung."

Die Rolle von Donald Trump

Überraschend kommt die Entwicklung nicht, denn dahinter steht eine Strategie. So ist die Aufhebung des Abtreibungsrechts die späte Erfüllung eines Wahlversprechens, dass Ex-Präsident Donald Trump den evangelikalen Christen im Gegenzug für ihre Stimmen gab. Roe versus Wade werde gekippt, weil er "Pro Life"-Richter für den Supreme Court ernennen werde, erklärte Trump 2016 – also Richter, die das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche einschränken würden.
Und so geschah es auch: Trump ernannte während seiner Amtszeit drei Richter für den Supreme Court – Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett. Damit gehören sechs von neun Richtern dem konservativen Lager an, sie sind auf Lebenszeit ernannt – und die Bahn ist frei für die Durchsetzung einer konservativen Agenda.
US-Verfassungsrichterin Amy Coney Barrett
Amy Coney Barrett war eine von drei Richter-Nominierungen in der Ära Trump (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Damian Dovarganes)
Zugleich prägt Kontinuität den Obersten Gerichtshof – nicht nur bei dem Ritual, mit dem jede Sitzung eröffnet wird. Auch ist es ist nicht das erste Mal in seiner mehr als 230-jährigen Geschichte, dass der Supreme Court ebenso wegweisende wie politisch umstrittene Entscheidungen trifft.

Was der Supreme Court leisten soll

Die Kernaufgabe des Obersten Gerichts sei es, sicherzustellen, dass die amerikanische Verfassung überall im Land einheitlich angewandt wird und die Bundesgesetze eingehalten werden, sagt Verfassungsexperte Fred Smith. Auch dient der Supreme Court – anders als das Bundesverfassungsgericht in Deutschland – als eine Art Super-Revisionsinstanz für Fälle, die bereits in anderen Instanzen verhandelt wurden.
Anders als das Grundgesetz regelt die amerikanische Verfassung nur elementare Kompetenzen, Prinzipien und Verfahren. Vieles bleibt also offen für politische Auslegung. Lagerkämpfe, Interessenkonflikte und Kontroversen sind vorprogrammiert ­– stets eingebettet in den aktuellen politischen und gesellschaftlichen Kontext.
Ein Beispiel aus den Jahren vor dem amerikanischen Bürgerkrieg. Rechtsprofessor Smith: "Da gab es eine Reihe von Entscheidungen zur Institution der Sklaverei. Ein besonders drastisches Urteil aus dem Jahr 1857 wurde bekannt unter dem Namen des Klägers, Dred Scott – ein Sklave, der seine Freiheit einklagen wollte. Das Urteil sprach Menschen afrikanischer Herkunft grundsätzlich die Anerkennung der Bürgerrechte ab und bestimmte, sie könnten niemals amerikanische Staatsbürger werden."
Kombiniert mit anderen politischen und sozioökonomischen Faktoren gilt "Dred Scott" als einer der wesentlichen Auslöser für den amerikanischen Bürgerkrieg. Später wurde das Urteil durch die 13. und 14. Verfassungszusätze aufgehoben, die die Sklaverei abschafften und festlegten, dass jeder, der in den USA geboren wird, die amerikanische Staatsbürgerschaft besitzt.

Weichenstellung in der Ära Roosevelt

In den 1930er-Jahren war der Supreme Court erneut an einer historischen Weichenstellung beteiligt – und zwar im Zuge des New Deal, einer Reihe von Wirtschafts- und Sozialreformen, die die Regierung von Präsident Franklin D. Roosevelt als Antwort auf die Weltwirtschaftskrise durchsetzte. Doch zunächst blockierte das Oberste Gericht mehrere Gesetzesinitiativen als unrechtmäßige Eingriffe des Staates. Roosevelt reagierte.
In einer Radioansprache drohte er damit, den Supreme Court durch jüngere Richter zu erweitern. "Court Packing" heißt diese Strategie. Roosevelts Kalkül ging auf. Die Drohung allein reichte, und das Oberste Gericht erklärte von da an die Bestimmungen des New Deal für verfassungskonform.

Die wichtigsten Entscheidungen des Supreme Court

Die nach Auffassung vieler Rechtsexperten wichtigste Entscheidung in der bisherigen Geschichte des Gerichts fiel im Jahr 1954 – "Brown versus Board of Education". Die Richter urteilten damals, dass die sogenannte Rassentrennung an öffentlichen Schulen in den Südstaaten gegen die Verfassung verstoße.
Die Entscheidung veränderte die gesellschaftliche und politische Landschaft im amerikanischen Süden – und ebnete den Weg für die Verabschiedung der Bürgerrechtsgesetze Mitte der 1960er-Jahre. Es folgten eine Reihe progressiver Grundsatzurteile, darunter 1967 die Aufhebung des Verbots von sogenannten gemischtrassigen Ehen. Und 1973 dann "Roe versus Wade", jenes Urteil, das das verfassungsmäßige Recht einer Frau, über Abbruch oder Fortführung ihrer Schwangerschaft selbst zu entscheiden, festschrieb.
Das Gebäude des Supreme Court auf dem Capitol Hill in Washington
Das Gebäude des Supreme Court auf dem Capitol Hill in Washington (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / J. Scott Applewhite)
TV-Berichte zeigen: Nicht nur die Entscheidungen des höchsten Gerichts und das Abstimmungsverhalten der Richter, auch die Ernennung der Richter selbst ist immer wieder Anlass für politische Grabenkämpfe und Ränkespiele – und wird damit ebenfalls zur Nachricht. Denn eine politisch vollständig unabhängige Judikative existiert in den USA ebenso wenig wie ein Beamtenstatus von Richtern. Die meisten Richter werden direkt vom Volk gewählt – und gehören häufig einer Partei an. Bundesrichter, zahlreiche hohe Richter der Einzelstaaten und Supreme Court-Richter werden von den Gouverneuren beziehungsweise dem Präsidenten ernannt.

Der politische Kampf um Neu-Besetzungen

So wollte Präsident Barack Obama nach dem plötzlichen Tod des Obersten Richters Antonin Scalia im Februar 2016 dessen Stuhl neu besetzen – noch vor den Präsidentschaftswahlen im November. Er warnte die Republikaner im Senat, der Kandidaten für den Supreme Court bestätigen muss, vor Obstruktionspolitik – einer Praxis, die während Obamas zweiter Amtszeit zum Standard geworden war. Denn sonst werde der Oberste Gerichtshof nur noch als verlängerter Arm der Politik angesehen, sagte Obama.
Doch die Republikaner blieben unbeeindruckt. Der damalige Mehrheitsführer Mitch McConnell erklärte, dass der Senat einem von Obama nominierten Kandidaten nicht einmal die Möglichkeit zur Anhörung geben würde. Es war dann Trump, der die Vakanz besetzte.
Vier Jahre später wollte McConnell von seinem eigenen Argument nichts mehr wissen – als nämlich im September 2020 die progressive Richterin Ruth Bader Ginsburg starb, weniger als zwei Monate vor den Präsidentschaftswahlen. Trump nominierte die konservative Richterin Amy Coney Barrett, die zügig vom republikanisch dominierten Senat bestätigt wurde.
Der Supreme Court hat seit seinen Anfängen das politische Geschehen in den USA orchestriert, fungierte zeitweise als Spiegel, zeitweise als Spielball und Instrument verschiedener politischer Interessen. Mit den jüngsten Entscheidungen habe die Politisierung des höchsten Gerichts jedoch eine neue Dimension erreicht, sagt Verfassungsrechtler Fred Smith von der Emory-Universität in Atlanta.

Glaubwürdigkeit des Gerichts sinkt

Die Spaltung der politischen Landschaft und des Obersten Gerichtshofes ist nicht neu. Aber mit jedem Urteil, bei dem die Richter gemäß der Linie der Partei, die sie ernannt hat, abstimmen, erscheint der Supreme Court politischer und seine Glaubwürdigkeit sinkt. Es ist nicht eine einzelne Entscheidung, der Schaden geschieht über einen längeren Zeitraum.
Die Folgen spüren Menschen wie Jayme Beasley ganz persönlich, ganz konkret. Die 28-Jährige promoviert in Politikwissenschaften an der Clark Atlanta University. Die Abschaffung von "Roe versus Wade" mache ihr Angst, sagt sie, insbesondere als junge schwarze Frau.
Das Recht auf Abtreibung sei ein wichtiger Teil der Gesundheitsversorgung, sagt sie. Auch in Zukunft werde es Abtreibungen geben, aber sie würden weniger sicher sein – insbesondere für Frauen aus sozial schwächeren Milieus und für ethnische Minderheiten. Im Übrigen betreffe das Urteil nicht nur Frauen, setzt Beasley hinzu.
Bei der Aufhebung von Roe versus Wade geht es um viel mehr als die körperliche Autonomie von Frauen. Es geht um das Recht auf Privatsphäre – darauf basierte ja die ursprüngliche Entscheidung von 1973. Und das Recht auf Privatsphäre, das betrifft jeden im Land, und es ist wichtig, dass wir die Debatte breiter führen.

Welche Entscheidungen anstehen

Das politisch explosive Paket von Urteilen am Ende der letzten Sitzungsperiode könnte aber erst der Anfang gewesen sein. Für die kommende Sitzungsperiode stehen weitere brisante Fälle auf der Agenda des Hohen Gerichts.
So wird der Supreme Court einen Rechtsstreit verhandeln, der das Wahlsystem im Land grundlegend verändern könnte. Konkret geht es um Wahlkreisgrenzen, die die republikanische Regierung von North Carolina nach einer Volkszählung vor zwei Jahren neu erstellt hatte – Demokraten meinten: um Wahlen zu ihren Gunsten zu manipulieren.
Auch sollen im Herbst am Obersten Gericht Anhörungen stattfinden, die das seit den 1960er-Jahren geltende Prinzip der Affirmative Action bei Zulassungen zu Universitäten aus den Angeln heben könnten. Die Regelungen von Affirmative Action zielen darauf ab, ethnischen, sexuellen oder religiösen Minderheiten einen besseren Zugang zu Unternehmen und Organisationen im Land zu gewährleisten.
Aber statt zu resignieren, müsse sich jeder einzelne fragen, was er oder sie tun könne, sagt Beasley. "Bei vielen Leuten gibt es die Haltung: Der Staat, die staatlichen Institutionen, das sind leblose Objekte. Aber das stimmt nicht. Wir müssen als Bürger lernen, wie das System funktioniert, damit wir es für uns nutzen können, damit das System für uns arbeitet. Und das braucht Engagement, unabhängig von politischer Einstellung, Hautfarbe oder Religion."
Konkret heißt das aus Beasleys Sicht: Die niedrigeren Instanzen, die Gerichte der 50 US-Bundesstaaten mit Klagen zu Schlüsselthemen von Abtreibung über Affirmative Action bis zum Wahlsystem und Waffenrecht zu fluten. Damit die Klagen irgendwann wieder an den Supreme Court zurückzuspielen.
Die verstärkte Anrufung bundesstaatlicher Gerichte sei eine Möglichkeit, den Urteilen des Obersten Gerichts entgegenzutreten, sagt auch Rechtsprofessor Fred Smith. Eine andere ist eine Verfassungsänderung, mit der bestehende Urteile außer Kraft gesetzt werden. Aber das sei schwierig – und selten.

Der Einfluss der anstehenden Kongresswahlen

Eine Reform des Supreme Court – darunter auch das Court Packing, also eine Anhebung der Richterzahl, so wie es einst Roosevelt während des New Deal erwog – hält Smith für unwahrscheinlich. Abhängig sei der Erfolg einer solchen Gesetzesinitiative ohnehin vom Ausgang der Midterm Elections, der Zwischenwahlen zum US-Kongress am 8. November.
"Es ist zu früh zu sagen, in welche Richtung die Midterms gehen. Im Moment erwarten viele, dass die Republikaner das Repräsentantenhaus zurückerobern und die Demokraten den Senat, wenn überhaupt, mit hauchdünner Mehrheit halten. In diesem Fall wäre eine Reform des Höchsten Gerichts nicht realistisch. Wenn die Demokraten dagegen das Repräsentantenhaus halten und ihre Mehrheit im Senat ausbauen ist vieles möglich."
Aber vielleicht nicht unbedingt realistisch – denn bislang hat eine Reform des Supreme Court keine hohe Priorität auf der politischen Agenda der Biden-Administration. Und jenseits der Wahlen? Welche Rolle wird der Supreme Court in Zukunft für politische Weichenstellungen in den USA spielen? Fred Smith verweist noch einmal auf die Geschichte.
"Als das Oberste Gericht 1954 sein Urteil über die Abschaffung der Rassentrennung an öffentlichen Schulen fällte, gab es massiven Widerstand in weiten Teilen der Bevölkerung. Mittlerweile gilt das Urteil als einer der größten Momente des Supreme Court. Und heute gehen viele Beobachter davon aus, dass die USA in eine ultra-konservative Zukunft steuern, und dass eines Tages die Entscheidung, das Abtreibungsrecht zu kippen, als weitsichtig und besonders mutig gepriesen wird. Die Richtung, in die sich das Land bewegt, wird auch unser Urteil über den Supreme Court bestimmen."