Donnerstag, 25. April 2024

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Roman
Aufwachsen in Kiew

"Frühling auf dem Mond" von Julia Kissina ist ein Roman über Kiew, über die Kindheit der Autorin im sowjetischen Kiew der 70er-Jahre mit einer Fülle von exakten Beobachtungen, genauen Ortsangaben und signifikanten Details der Lebensumstände der späten Sowjetzeit.

Von Karla Hielscher | 09.01.2014
    Der literarische Zugang zu diesem Stoff aber ist ganz außergewöhnlich: Der originelle, andere Blick auf die sowjetische Wirklichkeit entsteht dadurch, dass die Autorin aus der Perspektive eines aufsässigen, altklugen pubertierenden Kindes erzählt, das wegen seiner überbordenden, somnambulen Fantasie von seinen Mitschülerinnen Lunatikerin genannt wird. Das reale Kiew und die konkreten Lebensgeschichten seiner Bewohner nehmen dadurch traumhafte, grotesk verzerrte Dimensionen an. In der doppelten Brechung der geschilderten Realität durch die surreal mythische Wahrnehmung des Kindes sowie die heutige postsowjetische Haltung der Icherzählerin dazu erscheint das Leben in der Sowjetunion der Breschnew-Zeit fremd und bizarr wie das auf dem Mond.
    Dazu wird gleich auf den ersten Seiten des Buches deutlich, dass Julia Kissina bildende Künstlerin ist, dass sie visuell denkt, in einer reichen, farbigen Bildersprache, die - gesättigt mit literarischen und kulturellen Mustern und von Valerie Engler adäquat übersetzt - einen faszinierenden Sog entwickelt.
    "Während du sprichst, während du etwas tust, musst du unentwegt die Pferde bändigen [...] Denn von diesen Pferden gibt es ganze Händevoll, ganze Felder oder Fächer, und das Fuhrwerk spuckt diese Pferde nicht nur aus, sondern kann auch selbst verschluckt werden von diesen Pferden, und sie heißen - Gefühle, ungezügelte, wilde, aber vergebens hat man das Fuhrwerk in sie eingespannt, denn sie streben in unterschiedliche Richtungen, diese Hecht-Pferde mit arabischen Schwanenhälsen unter dem Gold der seidigen Felle."
    Die Gestalten aus der Kindheit der Autorin erscheinen - in der Spiegelung durch die überspannte Vorstellungskraft des exzentrischen Mädchens - als skurril verfremdete Wunderwesen und sind doch ganz in der sowjetischen Realwelt verwurzelt.
    Familienzirkus
    Der Schriftstellervater schreibt Sketche und Revuen für den Zirkus, in denen die Luftakrobaten die Bezwinger des Weltraums darstellen. Und weil das bei einem Gastauftritt in Moskau Breschnew gefallen hatte, erhält der Vater einen Staatspreis.
    Die Mutter ist ewig um andere besorgt, schleppt herumstreunende, verrückt gewordene Alte mit nach Hause und besucht sie dann in der staatlich-städtischen "Greisenklapse", deren halbdunkle, nach Urin riechende Baracken mit den vergitterten Fenstern dem Kind als die Hölle erscheinen. Dort liegt die wie Jean Gabin aussehende unglückliche Tante Vera im Bett, die während der deutschen Besatzung ein von einem SS-Mann stammendes sogenanntes "Nazikind" geboren hat, dessen Lebensgeschichte in unterschiedlichen Erzählversionen immer wieder auftaucht.
    Da ist Onkel Wolodja, der bewunderte Schulfreund des Vaters mit seinem "Rostbratlachen", der "Zauberer Merlin des Fußballs", der als Wirtschaftsleiter von Dynamo Kiew alle schwer zu beschaffenden Waren - Käse, Stör, Lachs und exklusive georgische Weine - auftreiben kann und sich schließlich als ausgemachter Mistkerl herausstellt, der Kinderheime beklaut hat.
    Irina Andrejewna, die Dozentin für wissenschaftlichen Kommunismus an der Staatlichen Roten Universität ist das einzige Parteimitglied unter den Bekannten der Eltern. Und ausgerechnet sie veranstaltet spiritistische Sitzungen und beschwört die Geister Verstorbener.
    Der Zirkusmusiker Onkel Philip - ein eingefleischter Antisowjetler - betet alles "Westliche" an. Bei einer Abendeinladung präsentiert er als große Überraschung echtes schottisches Salz, das er von einer Englandtournee mitgebracht hat. Später stellt sich heraus, dass er sich in der Untersuchungshaft mithilfe einer diagonal gestreiften, violetten Krawatte erhängt hat.
    Die Kapitel tragen keine Nummern, sondern erzählende Titel wie "Das Bein des Geologen" über den Forscher, der mit seinem Bein in einen kochenden Geysir geraten ist, oder "Der Mann mit der Maske" über den irrwitzigen und für das Kind völlig unverständlichen Auftritt eines Exhibitionisten.
    Aus den zahlreichen bunten Gestalten und Einzelgeschichten setzt sich mosaikartig das Bild einer Welt voll absurder Komik und zugleich tiefer Menschlichkeit zusammen.
    Erinnerungen an die historische Stadt
    Als durchgehendes Motiv zieht sich die Zerstörung des alten historischen Kiew - des berühmten "Podol" mit dem Andreassteig, wo die Kinder in den Ruinen spielen - durch den Text:
    "Vor den Fenstern zappelten tote Wäschefahnen an der Leine, zum ewigen Trocknen verdammt. Seit alle weggezogen waren, schienen die Häuser auf den Hügeln zu schweben, aufgehängt zwischen Himmel und Erde - vom Leben im Stich gelassen, von der Erde noch nicht angenommen. Die Mauern waren über und über mit Flüchen, Klagen und Versen bekritzelt. In den Ecken drängten sich Flaschen und dampften frische Exkremente. Membranen und blaue Schimmelkränze zitterten auf den Überresten der Möbel wie aus dem Nichts herübergewehte Pusteblumen [...] An den braunen Tapeten hingen alte Porträts. Diese Porträts waren etwas ganz Besonderes, denn sie waren die einzigen Bewohner und zugleich Zeugen des vergangenen Lebens."
    Eine Schlüsselmetapher des Textes ist das "anatomische Theater" - ein Gebäude mit diesem Namen, in dem für Medizinstudenten menschliche Exponate in Spiritus ausgestellt werden - steht tatsächlich in Kiew an der Kreuzung Funduklejew-/Pirogow-Straße. Die so vollkommen unvereinbar erscheinenden Begriffe Theater und Anatomie - "genauso unvereinbar wie Borschtsch und Saturn" - beherrschen die Fantasie des Kindes. "Anatomisches Theater" ist auch ein treffendes Bild für die bezaubernde Poetik dieses Buches mit seiner Mischung aus Todesgewissheit und dem ewigen Theaterspiel des menschlichen Lebens. Ein großes Lesevergnügen mit Tiefgang!
    Julia Kissina: "Frühling auf dem Mond"
    Suhrkamp Verlag, 249 Seiten, 18,95 Euro