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Roman "Die Schuld der Anderen"
Zwischentöne der französischen Gesellschaft

Ein Journalist deckt einen gewaltigen politischen und wirtschaftlichen Skandal in der französischen Provinz auf. Mit ihrem Roman legt Autorin Gila Lustiger eine komplexe aber stets souverän beherrschte Intrige an, die nicht in Schwarz-Weiß-Konturen stagniert, sondern spannende Zwischentöne in der französischen Gesellschaft darstellt.

Von Jürgen Ritte |
    Der französische Ex-Staatschef Nicolas Sarkozy auf einer gefälschten Banknote
    Symbolbild für Korruption in Frankreich: Ex-Staatschef Nicolas Sarkozy auf einer gefälschten Banknote (picture alliance / dpa / Foto: Maxppp)
    Frankreich erzählen heißt einen Kriminalroman erzählen. Denn im Lande Honoré de Balzacs und seiner bunt schillernden "Göttlichen Komödie", im Lande Eugène Sues und seiner "Geheimnisse von Paris", im Lande des Gentleman-Gauners Arsène Lupin ist nichts so, wie es sich auf den ersten Blick darbietet.
    Das wissen nicht nur die großen Romanciers des Landes, die mit geheimnisvollen Macht- und Ränkespielen ihr Geschäft betreiben, das wissen auch die so auf- wie abgeklärten Bürger dieses schönen Landes, in dem ein kleiner Gangster wie Eugène François Vidocq zu Anfang des 19. Jahrhunderts vom Kriminellen und Zuchthäusler zum Chef und Erfinder der Pariser Kriminalpolizei aufsteigen konnte. Und in dem ein so grandioser Zyniker, Intrigant und Verräter wie Joseph Fouché vom Ancien Régime über die Revolution und das napoleonische Kaiserreich bis hin zur restaurierten Monarchie als Polizeiminister, Botschafter, blutrünstiger Präfekt und dergleichen mehr sein Wesen treiben konnte.
    Das ist beileibe nicht nur pittoresk oder romanesk. Hinter den Kulissen wird nicht allein mit harten Bandagen gekämpft - das dürfte überall so sein-, es bilden sich dort auch kuriose Seilschaften und Allianzen.
    So war der sozialistische Staatspräsident François Mitterrand mit einem gewissen René Bousquet befreundet, der als höchster Polizeifunktionär des Vichy-Regimes im Jahre 1942 die Deportation der französischen Juden organisiert hatte und nach dem Krieg unbehelligt als Geschäftsmann, Zeitungsverleger und graue Eminenz von Politikern weitermachen konnte. Bevor Bousquet schließlich doch noch der Prozess gemacht werden konnte, wurde er 1993 in seiner Wohnung ermordet. Mitterrand haben solche Freundschaften nicht wirklich geschadet, eher im Gegenteil, trugen sie doch zu dem Ruf des gewieften Taktierers, des Florentiners, wie er oft respektvoll und wohl auch ängstlich genannt wurde, erheblich bei. Dem Mörder Bousquets schlug indes keine Welle des Verständnisses entgegen, sondern ein unguter Verdacht: "A qui profite le crime", fragten die Zeitungen damals, wem nutzt dieses Verbrechen? Den Opfern Bousquets jedenfalls nicht, denn sie werden nie erfahren, wer diesen Mann so lange gedeckt hat, wer seine Seilschaften waren.
    Hinter den Fassaden bürgerlichen Anstands und politischer Normalität spielen sich darüber hinaus geradezu täglich filmreife Szenarien von Sex-and-Crime ab, ganz so, als habe ein Claude Chabrol sich das alles ausgedacht. Und fällt mal jemand auf, etwa ein Finanzminister, der die Steuer betrügt, ein vormals hoch- und höchstrangiger Politiker, der in wilder Sexbesessenheit im Hotel über ein Zimmermädchen herfällt, ja, liegt vielleicht auch einmal irgendwo eine Leiche im Wald oder im Wasser, die Leiche eines ehemaligen Premierministers, eines Präsidentenberaters – das alles hat es in den letzten beiden Jahrzehnten gegeben - , dann wundert sich eigentlich niemand. Das sind eben die Betriebsunfälle.
    Ein paar Leserbriefschreiber regen sich auf, Berufskrakeeler wie Madame Le Pen vom rechtsextremen Front National, der selbst bis zur Halskrause in unappetitlichen Geschäften steckt, prangern laut die Korruption der Eliten an. Hier tritt jemand rasch zurück, dort wird jemand freigesprochen wie zuletzt etwa Dominique Strauss-Kahn - unter tatkräftiger Hilfe des Staatsanwalts zudem, der nicht glauben mochte, dass der ehemalige Präsident des Weltwährungsfonds bei seinen wohl reichlich brutalen Sexspielen im Kreise nordfranzösischer Provinzhonoratioren wissen musste, dass die eigens von "Dodo der Salzlake" aus Belgien herangekarrten Damen Prostituierte waren. Wie gesagt, ein Film, gar nicht einmal ein guter, von Claude Chabrol.
    Man kann die Geschichte Frankreichs in der Tat als eine "chronique scandaleuse" darstellen, in der die Reichen und Mächtigen ihre kleinen und großen Abmachungen treffen, für das Publikum ein Schauspiel namens Politik und Demokratie und Wirtschaft und Wettbewerb aufführen – und immer mehr Menschen auf der Strecke bleiben. Und das wäre nicht einmal eine große oder fahrlässige Vereinfachung, jedenfalls nicht, wenn man wie die Schriftstellerin Gila Lustiger an die Sache herangeht.
    Ein Roman der heutigen französischen Gesellschaft
    Ihr soeben erschienener Roman "Die Schuld der Anderen" ist ein Kriminalroman und gleichzeitig der Roman, ein Roman der heutigen französischen Gesellschaft. Er entzündet sich an einem "fait divers", einer kleinen, unscheinbaren Begebenheit, wie sie in den Zeitungen unter der Rubrik "Vermischtes" verkommt. In diesem Falle einem lange – 27 Jahre - zurückliegenden Prostituiertenmord, der nun, dank einer DNA-Analyse aufgeklärt werden konnte. Für den Reporter Marc Rappaport, er ist der Held der Geschichte, ist das in diesem französischen Jahrhundertsommer, da ohnedies nicht viel passiert, immerhin eine Meldung wert.
    "Die Prostituierte hieß Emilie Thevenin. Das zu erfahren hatte ihn eine gute halbe Stunde Telefonrecherche gekostet. Es war eine von diesen Informationen, die er nicht unbedingt zu verwenden gedachte. Denn wen interessierte der wirkliche Name einer Hure, die vor 30 Jahren erdrosselt worden war? Und dennoch gehörten für ihn zu jeder einer Geschichten auch Namen. Andere hätten sich damit begnügt, Emilie das Opfer zu nennen, aber die anderen waren auch nicht so gut wie er. Sie war nicht älter als 19 geworden. Und obwohl er eigentlich nur von ihr wusste, dass sie mit 18 aus einer Kleinstadt nach Paris gekommen war, um Geschichte an der Sorbonne zu studieren, hätte er nun bis ins Detail genau beschreiben können, wie das alles abgelaufen war. Wie sich neben dem Studium als Verkäuferin oder Kellnerin ihren Lebensunterhalt zu verdienen versucht. Wie sie an irgendeinem Wochenende in irgendeiner Disco eine alte Freundin wieder trifft. Wie sie sich beschwatzen lässt, es wenigstens ein Mal zu probieren. Sie solle doch keine große Sache daraus machen und das Thema einmal nüchtern angehen. Ob sie sich denn wirklich von Montag bis Samstag herumkommandieren lassen wolle? Das sei doch völlig unlogisch, sich für ein kümmerliches Gehalt derart abzuschinden. Was denn schon dabei sei, ein paar gut situierten Geschäftsmännern zum Orgasmus zu verhelfen und mit ihnen, sozusagen als Escort-Bonus, außerdem noch guten Wein und gute Küche zu genießen? Ob sie sich etwa für den Einzigen aufsparen wolle? Na also. Wie sie sich selbst am Ende davon überzeugt, sogar stolz darauf zu sein. Nein, sie ist nicht eine von diesen unglücklich hineingeschlitterten Frauen, die zur Prostitution gezwungen werden. Sie nicht. Sie vögelt freiwillig, gegen eine finanzielle Zuwendung, die sich stattlich nennen kann. Denn sie ist jung, gebildet - zweites Semester Geschichte-, Französin, hübsch. Und wer da etwas zu beanstanden hat, ist sowieso nur ein kleiner Spießer. Ein makelloser Frauenkörper, die unbestreitbare jugendliche Frische und Naivität, die ihr ein leicht verdientes Geld verschaffen, dazu die völlig selbstbestimmte Zeiteinteilung, ja, daran kann sie sich schnell gewöhnen. Und es hätte noch ein, zwei Jahre so weitergehen können, vielleicht sogar länger, hätte sie nicht an einem späten Nachmittag im Mai der Banklehrling Gilles Neuhart erdrosselt. Geschlagen, gefesselt, missbraucht, stranguliert. Getötet."
    Es war eine weniger mephistophelische, aber darum nicht weniger fatale Stimme, die die junge Emilie Thevenin zur Luxusprostituierten werden ließ. Und es, soviel sei schon verraten, ist nicht der damalige Banklehrling und nunmehr leitende Bankangestellte Gilles Neuhart, der Emilie Thevenin an einem Nachmittag im Mai ermordet hat. Der Journalist Marc Rappaport spürt, dass hinter dieser Geschichte mehr stecken könnte: Er zieht an dem kurzen Fadenende, das da aus der Nachrichtenlandschaft hervorlugt, und deckt nach und nach einen gewaltigen politischen und wirtschaftlichen Skandal auf, in dem ein französisches Chemieunternehmen aus der Provinz wissentlich – und mit Rückendeckung der Politik, denn schließlich geht es um die Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Industrie und um Arbeitsplätze - die Gesundheit seiner Arbeiter aufs Spiel gesetzt hat, darunter auch die Gesundheit des Vaters der unglücklichen Emilie Thevenin sowie die des Vaters einer Freundin und - es ist dies nicht die geringste Entdeckung des Enthüllungsjournalisten Rappaport - nachmaligen Gattin des nur mutmaßlichen, aber eben unschuldigen Gilles Neuhart. Und von hier an wird es kompliziert, aber vor allem auch höchst spannend.
    Die Schriftstellerin Gila Lustiger
    Die Schriftstellerin Gila Lustiger (dpa / Jörg Carstensen)
    Gekonnte Ausleuchtung der Zwischentöne
    Das Gewaltverbrechen an der Prostituierten, ihre Knebelung, ihre Vergewaltigung ist somit nicht nur Anekdote, nicht nur kaum sichtbare Spitze eines gewaltigen Eisberges an verborgenen Ränken, Vertuschungen und Manipulationen, das Verbrechen gerät auch zunehmend zur Metapher für das, was Menschen und ihren Körpern im Interesse des Profits der wenigen angetan wird: Wie eine Reihe anderer Arbeiter erliegt auch Emilies Vater den Vergiftungen, denen er im Betrieb täglich ausgesetzt war. Das hört sich nun, solchermaßen verkürzt und zusammengefasst, recht holzschnittartig an. Doch ist die sehr komplexe, aber stets souverän beherrschte Intrige bei Gila Lustiger nicht als Schwarz-Weiß-Gemälde angelegt, sondern sie lotet die Zwischentöne aus: Die sogenannten Sachzwänge, welche die Tragödiengötter unserer Tage sind, werden ausgeleuchtet, systemimmanente Abläufe werden dargestellt, die kleinen und großen Kompromisse, Kompromittierungen, Korruptionen benannt. Das ist alles sehr gekonnt, erinnert an die Meisterschaft eines Leonardo Sciascia in der Intrigenbehandlung seiner politischen Kriminalromane oder auch an die eines John Le Carré wie zuletzt in "Marionetten". Und am Ende des Romans, wenn bei Gila Lustiger der wirkliche Mörder entlarvt ist, die überlebenden Arbeiter von ihrem Chemieunternehmen endlich entschädigt sind und Marc Rappaport gegen alle Widerstände seine ganz große Story geschrieben hat, erwartet den Leser noch eine wahrhafte theatralische Wende, wie man sie nur aus den ganz großen Tragödiendichtungen kennt, etwa der Ödipus-Legende, und die dem Titel des Romans "Die Schuld der Anderen" seine ganze Bedeutung erschließt.
    Das dürfen wir hier natürlich nicht verraten.
    Verraten aber darf man, dass Gila Lustiger es selbstverständlich nicht bei einer geradezu fatalistischen Sicht auf die Dinge belässt und den bei Politikern wie Wirtschaftsbossen so beliebten Sachzwang als Hauptakteur einsetzt. Dieser ist, wie gesagt, trefflich beschrieben, aber Gila Lustiger hat erfreulicherweise auch den Mut, Verantwortliche zu benennen, die sich seiner zu größtem Eigennutz bedienen, und systemische Fehlentwicklungen in der französischen Gesellschaft aufzuzeigen.
    Umfangreiche Recherchen als Ausgang
    Das geht nicht ohne umfangreiche Recherchen wie Gila Lustiger sie über lange Monate vorgenommen hat – bei diversen Polizeidiensten, in den französischen Vorstädten. Natürlich ließe sich die Hauptintrige - ein französisches Unternehmen versucht, mithilfe von Politikern zu vertuschen, dass man es mit der Gesundheit der Angestellten nicht sehr genau nimmt – auch für einen Sonntagabend-Tatort herrichten.
    Allein, es sind die nicht nur atmosphärischen Details, die Lokalisierungen - im zentralisierten Frankreich werden Politiker in der Provinz schneller panisch, wenn ein Unternehmen abzuwandern droht -, die zahlreichen Verknüpfungen mit dem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang, die aus dem Roman auch ein französisches Sittengemälde machen. Da findet man zum Beispiel solch treffende Aperçüs zu einer spezifisch französischen Lebenslüge wie der der sankrosankten Egalité, der Gleichheit:
    "Gleichheit, eins dieser Wörter, die in diesem Land ganz großgeschrieben wurden, aber dem schon längst nichts Revolutionäres mehr anhaftete. Gleichheit, das bedeutete nicht mehr die Nivellierung sozialer Unterschiede, auch nicht Gleichheit vor dem Gesetz, sondern sich so verzagt und bedeckt wie alle anderen durchs Leben zu schummeln, wenn man sich nicht ihre Missgunst zuziehen wollte. Gleichheit war schon seit Jahrzehnten ein Synonym für Neid geworden."
    So sinniert Marc Rappaport an einer Stelle. Diese Figur ist der Autorin Gila Lustiger übrigens so gut gelungen, dass man sich gleich weitere Abenteuer dieses so unerschrockenen wie engagierten Journalisten wünscht, der nie weiß, ob er nun zu Deborah unter die Bettdecke schlüpfen oder sich weiter in der Provinz herumtreiben soll. Rappaport ist auf seine Art ein sehr französisches oder besser pariserisches Produkt: Väterlicherseits stammt er aus einem radikalsozialistischen, dezidiert republikanischen Lehrer- und Intellektuellenhaushalt, mütterlicherseits ist er Miterbe eines immensen Fabrikimperiums, für das er sich allerdings nur mäßig interessiert. Er ist jemand, der sich eigentlich keine Sorgen machen müsste, aber sich lieber doch welche macht, zumeist die anderer Leute.
    Und so geraten auch jene muslimischen Vorstadtjugendlichen ins Blickfeld, für die das Wort Gleichheit auch nicht mehr viel bedeutet und die sich dafür an den französischen Juden rächen. Es sind dies Passagen, in denen Gila Lustiger, die weiß, wovon sie spricht, unversehens, das heißt, seit den Attentaten vom 7. und 9. Januar 2015, kurz bevor ihr Roman erschien, Sätze von bedrückender Aktualität zu Papier gebracht hat. Die Rede ist von einem realen antisemitischen Mord im Jahre 2006, der im Freundeskreis von Marc Rappaports jüdischer Geliebten Deborah diskutiert wird:
    "Und seit 2006 der 24-jährige Handyverkäufer Ilan Halimi als Jude zu Tode gefoltert worden war, beschäftigte der Antisemitismus der muslimischen Jugend in den Vororten jeden Einzelnen von ihnen. Egal, wie gelöst die Stimmung war, früher oder später wurde dieser neue ekelerregende Judenhass erörtert. Marc hatte damals darüber geschrieben. Er hatte den Körper des armen Jungen gesehen, der zu 80 Prozent mit Säure verätzt worden war. Und der Anblick, der sich ihm geboten hatte, war so schrecklich gewesen, dass es sogar ihn, den abgebrühten Journalisten, erschüttert hatte. Er hatte mit dieser Erschütterung über den Prozess geschrieben, hatte jedes einzelne Gangmitglied porträtiert. Alle waren sie arbeitslos, alle Kinder von Immigranten aus afrikanischen Staaten, alle französische Staatsbürger, alle orientierungslos und frustriert, alle an den Rand gedrängt, alle von radikalislamischer Literatur aufgehetzt und verseucht und auf die Juden fixiert, die zum Objekt von Wahnvorstellungen geworden waren. Und alle hatten sie sich mit ihrem selbst gebastelten Islam, der nichts mehr mit der Religion ihrer Väter zu tun hatte, die sie ihres Integrationswillens und ihrer Schwäche wegen verachteten, eine Ersatzidentität geschaffen, die ihnen eine Wichtigkeit vorgaukelte, die sie nur in der Ausübung von Gewalt ausleben konnten. Erbarmungsloser Gewalt. Vor allen Dingen waren sie alle das, erbarmungslos. 17-, 19-, 20-Jährige, gerade erst dem Kindesalter entschlüpft und schon Barbaren. Sie hatten Koranverse rezitiert, während sie auf Halimi eingestochen und glühende Zigaretten auf ihm ausgedrückt hatten. Und im Namen Allahs hatten sie ihm einen Zeh und ein Ohr abgeschnitten. Drei Wochen hatten sie sich in einem Keller in einem dieser Sozialbauten mit Ilan Halimi amüsiert. Nachbarn und Bekannte hatten vorbeigeschaut. Sie waren vorbeigekommen, hatten sich das Spektakel angesehen. Und keinem Einzigen von ihnen war es eingefallen, die Polizei zu informieren. Das war, was Marc niedergeschmettert hatte, was er nicht mehr hatte nachvollziehen können und wollen, weil es ihm die ganze Nutzlosigkeit dessen verdeutlichte, was man menschliche Kultur nannte oder die Genetik der Moral. Mit ein paar Irren, die quälen wollten, konnte man noch umgehen. Jede Epoche brachte ihre Psychopathen hervor. Sie gehörten weggeschlossen. Fertig, aus. Aber was machte man mit den Gaffern, die sich daran belustigten? Wo war ihr Gewissen als obere Instanz? Waren sie wirklich dabei, sich eine Gesellschaft ohne Gewissen heranzuziehen, in der sich der archaische Impuls, zu töten, nicht mehr durch den verbietenden Gegenimpuls des Gewissens aufgehoben wurde? Waren sie wirklich in dieser Spaßkultur gelandet, vor der sein erzkonservativer Vater immer warnte, die einzig und allein auf Triebbefriedigung ausgerichtet war? Und wenn dem so war, wer trug die Schuld? Er, wir, sie, ihr, die Epochen die Elite, die anderen? Woher kam dieser Hass?"
    Sätze wie diese, Fragen wie diese scheinen auf eine bedrückende, schier unaushaltbare Realität zu reagieren. Die Entführung und den Mord an dem kleinen jüdischen Handyverkäufer Ilan Halimi hat es im Januar 2006 wirklich gegeben. Die sich selbst so nennende Gang des Barbares, die Gang der Barbaren, hatte ein hübsches Mädchen vorgeschickt, um Ilan in eine Falle zu locken, in der er drei Monate lang gefoltert wurde, weil man sich von ihm und für ihn ein fettes Lösegeld erhoffte, denn schließlich war er ja Jude und also, so das Räsonnement der Folterknechte, reich.
    Grad an Verrohung und Gewalt in der französischen Gesellschaft
    Mit eben diesem Argument ist noch im Dezember 2014 eine Bande von maghrebinischen Jugendlichen in die Wohnung eines jungen jüdischen Ehepaars eingedrungen, hat den Mann zusammengeschlagen, auf dass er seine Reichtümer rausrücke, denn als Jude habe er ja seine Kohle, so die Aussage der brutalen Kleingangster, unter der Matratze und nicht auf der Bank, und vergewaltigte zum Abschied noch die Frau. Und so weiter. Es ist ein Grad von Verrohung und Gewalt in der französischen Gesellschaft erreicht, der nicht nur die von der Romanfigur Marc Rappaport beobachteten Jugendlichen mit ihrem explosiven, selbst zusammengebastelten Islam kennzeichnet, der zunehmend die Ränder der Gesellschaft beherrscht.
    Die Gewalt, die auf den Körper der Opfer zielende, ihn unterwerfende, nackte Gewalt steht auch am Anfang und also gewissermaßen im Zentrum dieses Romans in Gestalt eines besonders bestialischen Mords an einer Prostituierten, verübt von einem jener einflussreichen, mächtigen Vertreter des politischen Establishments, der auch nicht davor zurückschreckt, den Journalisten Marc Rappaport, als dieser ihm zu nahe kommt, von zwei Handlangern zusammenschlagen zu lassen, gleichsam als letzte Warnung. Die vermeintliche Prostituierte Emilie war ihm zu nahe gekommen.
    Im 18. Jahrhundert sah Thomas Hobbes die Gewalt hinter allen menschlichen Verhältnissen. Einzig die Monopolisierung der Gewaltanwendung auf den Staat schien ihm Garantie für eine halbwegs lebenswerte Gesellschaft zu sein. Aber was, wenn der Staat oder, wie bei Gila Lustiger, auch nur Staatsvertreter, das Gewaltmonopol missbrauchen oder der Staat als Inhaber des Gewaltmonopols nicht mehr glaubhaft ist? Dann stellt man sich, unter bangen Vorzeichen, die Frage, die sich schon Thomas Hobbes Zeitgenosse und Widersacher David Hume stellte:
    "Nichts erscheint erstaunlicher bei der philosophischen Betrachtung menschlicher Angelegenheiten als die Leichtigkeit, mit der die Vielen regiert werden und die stillschweigende Unterwerfung, mit der Menschen ihre eigenen Gesinnungen und Leidenschaften denen ihrer Herrscher unterordnen."
    Von stillschweigender Unterwerfung kann bei Gila Lustiger keine Rede sein. Die verborgene Heldin des Romans, Emilie Thevenin, wehrt sich – und wird dafür grausam bestraft. Und das, wogegen sie sich wehrt, wird dem Roman in Gestalt eines Zitats des zuletzt aus der Mode gekommenen Karl Marx vorangeschickt. Nachdenkenswert sind diese Sätze aus "Das Elend der Philosophie", geschrieben 1847, allemal:
    "Kam endlich eine Zeit, wo alles, was die Menschen bisher als unveräußerlich betrachtet hatten, als Gegenstand des Austausches, des Schachers, veräußert wurde. Es ist dies die Zeit, wo selbst Dinge, die bis dahin mitgeteilt wurden, aber nie ausgetauscht, gegeben, aber nie verkauft, erworben, aber nie gekauft: Tugend, Liebe, Überzeugung, Wissen, Gewissen etc., wo mit einem Wort alles Sache des Handels wurde."
    Buchinfos:
    Gila Lustiger: "Die Schuld der Anderen", Berlin-Verlag, Berlin 2015, 494 Seiten, Preis: 22,99 Euro.