Montag, 29. April 2024

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Rühe: NATO ist kein Weltpolizist

Nach Ansicht des ehemaligen deutschen Verteidigungsministers Volker Rühe sollte sich die NATO nicht als Weltpolizist verstehen. Maßstab für das Handeln müsse immer die Gefahr für das Bündnisgebiet sein, sagte Rühe. Er bedauere zugleich, dass der Jubiläumsgipfel durch eine Personaldebatte überschattet werde.

Volker Rühe im Gespräch mit Gerwald Herter | 04.04.2009
    Gerwald Herter: Nun bin ich mit einem echten Fachmann für Fragen der internationalen Politik und der Sicherheitspolitik verbunden, mit dem früheren deutschen Verteidigungsminister Volker Rühe. Herr Rühe, eine Ihrer Aussagen ist besonders gut in Erinnerung geblieben: Die Bundeswehr sei nicht dazu da, die Dünen im Tschad zu verteidigen – das hatten Sie gesagt. Sollte das aus Ihrer Sicht immer noch gelten, wo die NATO doch weltweit aktiv ist?

    Volker Rühe: Zunächst guten Morgen, Herr Herter! Ich glaube nicht, dass die NATO den globalen Weltpolizisten spielen sollte. Wir sind in Afghanistan, weil von dort durch El Kaida Gefahr für das Bündnisgebiet ausging, und das muss der Maßstab sein. Wo immer Gefahr für unser Bündnisgebiet ausgeht, muss die NATO handeln. Insofern ist Afghanistan eine Ausnahme. Ansonsten sehe ich, wenn wir in die Zukunft dieses ja bisher unglaublich erfolgreichen Bündnisses schauen – deswegen ist es schade, dass dieser Geburtstagsgipfel überlagert wird durch die personellen Fragen –, wenn man an die Zukunft schaut, dann sehe ich zwei Aufgaben: Neben der Sicherheit im Bündnisgebiet, das ist die Stabilisierung des größeren Europa, auch Einbindung Russlands in eine europäische Sicherheitsstruktur. Und das Zweite könnte sein, dass nicht der Tschad, sondern eine Rolle von Amerikanern und Europäern bei einer Lösung im Nahost-Friedensprozess – auch wenn der im Augenblick weit her ist –, ich glaube, das wäre eine wirklich historisch wichtige Aufgabe im 21. Jahrhundert, nicht der Tschad.

    Herter: Im Entwurf des Kommuniqués, das von den Gipfelteilnehmern heute beschlossen werden soll, da findet sich eine Formel, nach der das Bündnis aktiv werden soll, wenn die Interessen der NATO betroffen sind. Lässt sich das so genau abgrenzen, oder ist es nicht doch ein bisschen schwammig?

    Rühe: Na ja, das ist ja genau das, was ich eben auch gesagt habe. Ich glaube, dass man das nicht genauer formulieren kann und dass man eben aufpassen muss, dass man sich nicht verrennt und die Mission sich ausweitet. Ich glaube, das ist sehr vernünftig, dass die Amerikaner deutlich gemacht haben, dass es in Afghanistan um den Kampf gegen El Kaida ging und nicht im Prinzip gegen die Taliban insgesamt. Wir können auch nicht entscheiden, wer in Afghanistan regiert. Wir können auch nicht Demokratie einführen oder unsere Soldaten dafür sorgen lassen, dass auch alle Mädchen zur Schule gehen können. Man muss sich wirklich darauf besinnen, was man mit militärischen Mitteln erreichen kann. Ansonsten kommt es zu einer unendlichen Verstrickung. Und in dieser Gefahr sind wir durchaus in Beziehung zu Afghanistan. Also es muss immer wieder gefragt werden, was bedeutet das an Gefahr für das Bündnisgebiet, das ist das Entscheidende und das ist das transatlantische Territorium.

    Herter: Sie plädieren für ein Engagement im Nahen Osten. Inwieweit wäre die NATO betroffen und, wenn ich Sie richtig verstanden habe, muss man Ziele immer sehr klar definieren, und wenn die erfüllt sind, wieder abziehen, was wären solche Ziele?

    Rühe: Ja, ich plädiere nicht für den Einsatz, und ich sage nur, wir brauchen eine Friedensregelung im Nahen Osten. Das ist vielleicht der gefährlichste Konflikt überhaupt, und die Lage ist ja auch nicht gerade besser geworden durch das, was in Gaza passiert ist und auch die neue israelische Regierung. Also der Friedensprozess ist in Gefahr. Hier muss mehr Druck gemacht werden. Und wenn man zu einem historischen Ergebnis kommt, dann könnte ich mir vorstellen, dass das nur durch ein gemeinsames Handeln auch von Europäern und Amerikanern abgesichert werden kann. Und das wäre mit Sicherheit eine historische Aufgabe.

    Herter: Der NATO-Gipfel soll auch ein neues strategisches Konzept in Auftrag geben, das derzeit gültige strategische Konzept ist etwa zehn Jahre alt. Worin liegt die Bedeutung eines solchen strategischen Konzepts der NATO?

    Rühe: Ja, das muss man sehen, ob es da wirklich so viel Neues gibt. Ich finde, an diesem 60. Geburtstag muss man sagen, die NATO hat zunächst mal Grund, wirklich stolz zu sein auf ihre Geschichte. Und was viele verkennen, das ist ja ganz ungewöhnlich in der Geschichte, dass die Amerikaner sich hier in Friedenszeiten in feste integrierte Militärstrukturen mit den Europäern in eine enge Partnerschaft hineinbegeben. Das gibt es sonst nirgendwo auf der Welt. Und die Europäer, die sollten nicht glauben, dass das sozusagen automatisch auch im 21. Jahrhundert so weitergeht. Es ist in unserem Interesse, dass es diese enge Verbindung gibt, aber wir müssen auch füreinander wichtig sein bei der Lösung von Aufgaben im 21. Jahrhundert. Und deswegen, wenn man so Vorschläge hört, dass die NATO revolutioniert wird, indem sie auch mit Nichtregierungsorganisationen zusammenarbeitet, ich glaube nicht, dass das dieser Vision gerecht wird. Wir müssen füreinander auch nach dem Ende des Kalten Krieges entscheidend wichtig sein, sodass auch diese Militärstrukturen ohne Beispiel im Frieden integrierte, politische, militärische Hauptquartiere zwischen Europäern und Amerikanern auf Dauer erhalten bleiben. Und da scheint es mir manchmal, als ob die Europäer dieser historischen Aufgabe nicht ausreichend nachkommen.

    Herter: Frankreich kehrt zurück in die Strukturen der NATO. Glauben Sie, dass die Entscheidungsfindung im Bündnis dadurch einfacher wird?

    Rühe: Ja, darauf kommt es ja nicht an. Am einfachsten wäre es ja, wenn nur ein paar zusammen wären, aber dann wäre das Bündnis weniger wichtig. Große Leistung von Präsident Sarkozy, Frankreich zurückzuführen. Ich habe selbst in den 90er-Jahren erlebt, wie Chirac einen ersten Vorstoß gemacht hat, habe auch versucht mitzuhelfen, aber das ist damals gescheitert …

    Herter: Beim Gipfel von Madrid.

    Rühe: Eine Stärkung der NATO ist das, nicht eine Schwächung, auch wenn manche Beratungen komplizierter werden. Pardon?

    Herter: Das war beim Gipfel von Madrid in den 90er-Jahren, wo es dann zu großen Auseinandersetzungen zwischen dem französischen Präsidenten Chirac und dem amerikanischen Präsidenten Clinton kam, ja?

    Rühe: Ja, und vorher Verteidigungsminister auch in Bergen. Wir haben versucht, französische Admirale in Neapel zu haben, aber das ging den Amerikanern zu weit. Also die Franzosen werden wichtige Ämter in den Positionen, auch militärische Positionen in der NATO übernehmen, aber die europäische Seite in der NATO wird natürlich gestärkt durch diesen französischen Schritt. Und darauf kommt es ja auch an, dass es wieder ein besseres Gleichgewicht zwischen Europäern und Amerikanern gibt. Und die Europäer, die haben eh ihre Schwierigkeiten zu liefern innerhalb dieses Bündnisses. Zusammen mit Frankreich wird das leichter.

    Herter: Ja, wie sehen Sie denn die zukünftige amerikanische Rolle in der NATO? Hat jedes Land ein Vetorecht? Das hat deswegen auch funktioniert, weil die Amerikaner immer die Linie vorgegeben haben. Wird es unter Obama auch noch so sein in Zukunft?

    Rühe: Also, ich weiß nicht, dass es deswegen funktionierte, weil die Amerikaner immer die Linie vorgegeben haben, unter dem Präsidenten Bush, W., hat es ja genau nicht funktioniert. Und wir haben erlebt, wie einzelne Gruppen in der NATO militärisch, sogenannte "Coalition of the Willing" tätig geworden sind. Das zerstört die NATO auf die Dauer. Es hängt auch nicht alles von den Amerikanern ab. Die Deutschen müssen zum Beispiel begreifen, dass das Bündnis auf die Dauer nur Bestand hat, wenn man auch bereit ist, militärisch die gleichen Risiken zu tragen wie andere. Und deswegen muss Deutschland sich auch mehr an dem orientieren, was die Franzosen und was die Engländer – das sollte der Vergleichspunkt sein – in diesem Bündnis leisten. Ansonsten haben wir einen amerikanischen Präsidenten, der wirklich zuhören kann, der offen ist. Und jetzt wird sich zeigen, ob die Europäer wirklich in der Lage sind, hier auch eigene Beiträge zu leisten.

    Herter: Sollte sich die Bundeswehr auch im Süden Afghanistans engagieren?

    Rühe: Die Bundeswehr sollte ihre Arbeit im Norden fortsetzen, aber wenn es im Norden ruhig ist und Kameraden unserer Soldaten im Süden in Gefahr sind, dann sollte man ihnen helfen. Das ist das eine. Das hat man in der Vergangenheit nicht ausreichend getan. Die Voraussetzungen dafür sind eigentlich durch das Bundestagsmandat gegeben. Und um einen anderen konkreten Punkt zu nennen, der auch zeigt, es geht nicht um eine Ausweitung zahlenmäßig der deutschen Soldaten: Wir bilden afghanische Armee aus durch deutsche Ausbilder, aber in dem Moment, wo sie in den ersten Einsatz gehen, bleiben unsere Ausbilder dann zu Hause, also im Norden. Das halte ich für völlig unangemessen, und das ist auch etwas, was die anderen so nicht machen. Im Prinzip muss eben gelten – das war für mich damals auch immer eine Richtschnur –, dass dieses Bündnis nur dann Bestand haben wird, wenn man wirklich bereit ist, auch das gleiche Risiko zu übertragen. Wir wollen uns nicht mit Amerika vergleichen, aber in einigen Situationen in Afghanistan muss ich sagen, dass die Dänen und auch die Niederländer hier weitergegangen sind. Und im Übrigen, wenn wir gemeinsame europäische Strukturen wollen in Europa, auch gemeinsame militärische Verbände – wir haben ja schon einige –, dann trägt das auf die Dauer nur, wenn die Soldaten aus diesen Verbänden das gleiche Risiko tragen, egal aus welchem europäischen Land sie kommen. Und deswegen steht viel auf dem Spiel durch das deutsche Verhalten.

    Herter: Herr Rühe, ganz kurz noch zum Abschluss: Welche Rolle spielt denn der NATO-Generalsekretär? Ist das nun wirklich ein so wichtiger Posten?

    Rühe: Das ist die Stimme und das Gewicht Europas in diesem Bündnis, und deswegen spielt er potenziell eine wichtige Rolle. Ich muss sagen, der bisher einzige deutsche Generalsekretär, Manfred Wörner, der ja leider nicht mehr lebt, der hat gezeigt, was man alles aus dieser Position machen kann und hat wirklich eine überragende Rolle gespielt, um Positionen voranzutreiben. Und deswegen ist es schon sehr schade, dass die Europäer nicht in der Lage waren, einen Vorschlag zu machen, der auch dann von allen mitgetragen wird bisher. Vielleicht schaffen sie es ja heute?

    Herter: Wollen wir mal hoffen. Volker Rühe, ehemaliger Bundesverteidigungsminister, herzlichen Dank für dieses Gespräch und einen schönen Tag!

    Rühe: Ja, tschüss!