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Russisch-deutsches Historikerprojekt
Den Kriegsgefangenen ein Gesicht geben

Deutschland und Russland werden bei der Aufklärung des Schicksals von Kriegsgefangenen des 2. Weltkriegs in Russland und Deutschland zusammenarbeiten. Zum Auftakt findet gerade eine Historiker-Konferenz in Berlin statt. Noch immer ist das Schicksal von Millionen von Kriegsgefangenen ungeklärt.

Von Christiane Habermalz |
    Foto aus dem Jahr 1941 zeigt russische Kriegsgefangene auf dem Weg zur Exekution im russischen Kriwoj Rog (vermutlich aufgenommen am 15.10.1941). Das Foto wird in der neuen Wehrmachtsausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht zwischen 1941 und 1944 zu sehen sein.
    Russische Kriegsgefangene auf dem Weg zur Exekution im Oktober 1941 im russischen Kriwoj Rog durch die deutsche Wehrmacht (vermutlich aufgenommen am 15.10.1941). (dpa / picture alliance / Institut für Sozialforschung Hamburg)
    Franz Herstein, Arzt aus Ludwigburg, und Kriegsgefangener in Donezk in der Ukraine, wurde kurz nach dem Krieg im Lager wegen Spionage verhaftet und zu Zehn Jahren Gulag verurteilt. Der Vorwurf: Herstein habe Daten über verstorbene deutsche Kriegsgefangene aufgezeichnet, die er nach Deutschland übermitteln wolle, damit sie dort als antisowjetisches Propagandamaterial verwendet werden könnten. Herstein dagegen erklärte laut Akte aus einem russischen Militärarchiv, er habe die Liste, "aus rein menschlichen Gründen zusammengestellt, um später einmal den Angehörigen vom sicheren Tod ihrer Verwandten Nachricht geben zu können". Franz Herstein könnte heute als Pionier gelten für das Ziel, das der frühere Außenminister Frank-Walter Steinmeier und sein russischer Amtskollege Sergeij Lawrow im Juni 2016 vereinbarten:
    Ein gemeinsames Recherche- und Datenbankprojekt, das das Schicksal von Millionen Kriegsgefangener des zweiten Weltkriegs aufklären will. Jetzt soll eine erste binationale Konferenz im Deutsch-Russischen Museum in Berlin-Karlshorst wichtige Impulse geben, um genau das zu erreichen: Den Toten ihr Gesicht und ihren Namen zurückzugeben.
    "Trotz aller Verständigungsschwierigkeiten im politischen Alltagsgeschäft wird auf diese Weise ein weiteres Mal deutlich, dass die Zusammenarbeit ehemaliger Kriegsgegner keinesfalls unmöglich ist, sondern vielmehr einen erheblichen Nutzen für die Zivilgesellschaft haben kann." sagt Wolfgang Schneiderhan, Präsident des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, der das Projekt von deutscher Seite koordiniert.
    Auf russischer Seite ist das Verteidigungsministerium federführend, genauer: Die "Abteilung zur Wahrung des Gedenkens an die bei der Verteidigung des Vaterlandes Gefallenen". Bis heute klaffen große Lücken in der Forschung, sagt Andreas Hilger vom ebenfalls beteiligten Deutschen Historischen Institut in Moskau.
    "Rund vier Millionen Schicksale sind noch völlig ungeklärt, man weiß dass sie in Gefangenschaft geraten sein müssten, es gibt aber auch eine große Zahl an Vermissten, wo man nicht definitiv sagen kann, was mit den Personen dann in Gefangenschaft passiert ist."
    Großes Interesse der Zivilgesellschaft
    Das Projekt ist ambitioniert in einer Zeit politischer Kälte zwischen beiden Ländern – in der zudem in Russland eine Renationalisierung der Geschichte stattfindet, insbesondere des Großen Vaterländischen Krieges. Doch das Interesse der Zivilgesellschaften ist groß. Allein in diesem Jahr sind in der Deutschen Dienststelle WASt, die auch für Auskünfte über ausländische Kriegsgefangene zuständig ist, 3814 Anfragen nach Angehörigen eingegangen, die meisten aus Nachfolgeländern der ehemaligen Sowjetunion. Etwa eine Million deutsche und drei Millionen sowjetische Soldaten kamen in Gefangenschaft ums Leben. Das grausame Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen, die zu Hunderttausenden planmäßig dem Tod durch Hunger überlassen und durch Zwangsabeit vernichtet wurden, ist in der Bundesrepublik über lange Zeit ignoriert worden, sie lagen in einem "Erinnerungsschatten", wie Bundespräsident Joachim Gauck es bezeichnete.
    "Und auch in der DDR waren die sowjetischen KG ebenfalls jahrzehntelang kaum beachtete Opfer der NS-Herrschaft, hier vor allem in Folge der Tabuisierung der Thematik in der sowjetischen Politik und Gesellschaft." Erläutert Rolf Keller von der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten.
    Nur langsam änderte sich das, auch durch neue Quellen. In den 90er Jahren wurden mit Glasnost erste Einblicke in die Sonder- und Militärarchive in Moskau möglich. Dort lagen die erbeuteten deutschen Personendateien der Kriegsgefangenenlager in den besetzten Ostgebieten. Boris Chavkin, Historiker an der Moskauer Universität RGGU:
    "Die moderne russische Historiografie der Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen in der UDSSR hat in den letzten Jahren ihre Selbstisolierung und ihre ideologischen Vorurteile im Grunde überwunden. Es sind neue interessante Quellen veröffentlicht. Neue wichtige Forschungen, auch gemeinsame deutsch-österreichisch-russische, sind entstanden."
    Hans Modrow war vier Jahre lang in russischer Kriegsgefangenschaft
    Nicht jedes Schicksal wird sich aufklären lassen. Doch die Wissenschaftler erhoffen sich auch neue Impulse für die Forschung, die noch immer kaum die Universitäten erreicht hat. Aus dem Publikum meldet sich zum Schluss ein Zeitzeuge. Er habe vier Jahr in sowjetischer Gefangenschaft gesessen, sagt er. Die Zeit sei eine wichtige Schule seines Lebens gewesen, habe ihn als 17-jährigen vom Faschismus kuriert. Es ist der fast 90-jährige Hans Modrow:
    "Ich war auf der Antifa-Schule, und wenn ich's bis zum Ministerpräsidenten der DDR gebracht habe, dann möchte ich mit aller Eindeutigkeit sagen, dass diese Universität meiner sowjetischen Kriegsgefangenschaft mit dazu gehört, dass das möglich war, sich so zu trennen und so zu lösen."
    Wer ist das? Fragt jemand aus der hinteren Reihe. Ein junger russischer Historiker antwortet, ackselzuckend: Ein Veteran.