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Russischsprachige Holocaust-Opfer in Deutschland
Erst verfolgt, dann verarmt

Es war eine ganz besondere Einwanderungswelle: Seit der deutschen Wiedervereinigung emigrierten rund 230.000 Juden und ihre Familien aus der ehemaligen Sowjetunion in die Bundesrepublik. Darunter viele, die einst von Hitler verfolgt wurden. Die sogenannten Kontingentflüchtlinge waren von Deutschland ausdrücklich eingeladen worden. Doch bis heute müssen viele in Armut leben.

Von Jens Rosbach | 24.04.2017
    Festtafel mit symbolischen Speisen zum Pessachfest
    Viele jüdische Kontingentflüchtlinge leben in Deutschland in Armut. (Picture Alliance / dpa / Robert B. Fishman)
    Yevgeniya Usoskina freut sich über Gäste. Zur Feier des Tages hat die 81-jährige Ukrainerin ihre kurzen schwarze Haare zurechtgemacht und einen knallroten Lippenstift aufgetragen. Aus dem CD-Spieler tönt Verdis Aida, auf dem Couchtisch stehen Edelschokolade und Kekse bereit.
    "Fühlen Sie sich bequem, möchten Sie eine Tasse Kaffee?"
    Jedoch: Die Leckereien, die Usoskina ihrem Besuch anbietet, kann sie selbst gar nicht genießen. Denn zum einen leidet die alte Dame an Diabetes, zum anderen leidet sie unter Armut. Die Jüdin aus Berlin-Neukölln muss mit der Grundsicherung im Alter auskommen: mit 409 Euro im Monat plus Mietzuschuss.
    "Nun, ich spare selbstverständlich, weil ich esse zu Hause – nicht in der Gaststätte. Zum Frühstück esse ich Haferflockenbrei, jeden Tag. Und trinke Tee, Kräutertee. Dann esse ich kleine Stullen von schwarzem Brot mit Käse. Und so weiter."
    Yevgeniya Usoskina wurde in St. Petersburg geboren, dem früheren Leningrad. Als die Millionenstadt im Krieg von der Wehrmacht belagert wurde, konnte sie - als Kind - rechtzeitig entkommen. Mit ihrer Mutter floh sie vor dem Hunger – und vor dem deutschen Rassenwahn.
    "Wäre St. Peterburg besetzt, wir wären alle tot als Juden."
    Kein Anspruch auf eine Entschädigungsrente
    Die Shoah-Überlebende musste auch später unter ihrer Herkunft leiden: So durfte die studierte Physiologin nie einen Leitungsposten in der Sowjetunion übernehmen. Als mit dem Ende der UdSSR der Antisemitismus zunahm, emigrierte Usoskina 1994 als Kontingentflüchtling nach Deutschland, mit Ende 50. Doch sie fand keinen Job; seitdem lebt sie von Sozialhilfe. Eine Entschädigungsrente als Holocaust-Opfer steht ihr nicht zu, da Leningrad einst zwar belagert, aber nicht okkupiert wurde. Obwohl die Migrantin nun in Armut lebt, lässt sie ihren Kopf nicht hängen.
    "Ich bin dankbar Deutschland, dass ich überhaupt aufgenommen bin. Gott sei Dank."
    Andere Holocaust-Verfolgte zeigen sich verbittert. Berlin-Wilmersdorf, vor einem grauen Billighotel mit herunter gelassenen Jalousien. Im Eingang steht ein 76-Jähriger mit Zigarette und schwerer schwarzer Umhängetasche: Alexej Heistver, Zuwanderer aus Moldawien und Vorsitzender der Überlebendeninitiative Phönix aus der Asche. Heistver ist von seinem Wohnort, dem mecklenburgischen Wismar, in die Spree gefahren, um eine Konferenz zu veranstalten zur sozialen Lage der jüdischen Kontingentflüchtlinge.
    "Die Leute dachten, wenn sie von der deutschen Regierung eingeladen werden, sie dachten, dass sie hier bekommen nicht große Ehre aber ein bisschen mehr Unterstützung und Verständnis."
    70 Prozent leben in Armut
    Experten schätzen, dass bis zu 70 Prozent der älteren Juden aus den GUS-Staaten hierzulande in Armut leben. Denn ihre früheren, sowjetischen Berufsjahre zählen oft nicht bei der Rentenberechnung. Hingegen können bei den russischsprachigen Spätaussiedlern die Berufsjahre anerkannt werden, weil sie als Deutsche gelten. Demnach erhalten sie eine reguläre Altersrente. Die jüdischen Zuwanderer hingegen landen häufig in der Grundsicherung im Alter. So bekommen sie weniger Geld und müssen außerdem den Behörden oft sämtliche Kontoauszüge vorlegen und sich immer offiziell abmelden, wenn sie mal wegfahren wollen.
    "Dann beginnen verschiedene Streitigkeiten mit dem Sozialamt. Es ist erniedrigend für die Leute, es ist nicht normal."
    "Das ist der springende Punkt. Und das ist auch die Forderung, die jüdische Organisationen stellen, dass die Holocaust-Überlebenden, die als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland gekommen sind, den Spätaussiedlern gleichgestellt werden."
    Rüdiger Mahlo ist Berliner Repräsentant der Jewish Claims Conference, einer Organisation, die weltweit an 55.000 Shoah-Verfolgte Entschädigungsrenten auszahlt – auf Grundlage deutscher Gesetze und deutscher Gelder. Mahlo erklärt, dass auch jüdischen Kontingentflüchtlingen in Deutschland eine Entschädigungsrente zusteht, wenn eine NS-Verfolgung nachweisen können. Und zwar in Höhe von 336 Euro im Monat – zusätzlich zur staatlichen Grundsicherung. Doch immer wieder verhinderten bürokratische Hürden eine Rentenzahlung – wie bei den Leningrader Überlebenden. Die Claims Conference greift die Argumente der Betroffenen auf und fordert mehr Großzügigkeit von der Bundesregierung.
    "Der Grund, den jüdischen Überlebenden aus Leningrad eine Rentenentschädigung zukommen zu lassen, ist erstens die extreme Grausamkeit der Leningrader Blockade und zweitens: Wenn die Deutschen es geschafft hätten, Leningrad zu erobern, wäre das der sichere Tod für die jüdische Bevölkerung gewesen."
    Deutsche Regierung sieht keinen Änderungsbedarf
    Die deutsche Regierung sieht jedoch keinen Änderungsbedarf, insgesamt nicht. So hat Alexej Heistvers Initiative Phönix aus der Asche vom Bundessozialministerium ein Schreiben erhalten, dass für die jüdischen Zuwanderer auch ein Wechsel von der Grundsicherung zu einer regulären Rente – ohne Restriktionen durch die Sozialämter – juristisch nicht möglich sei. Der Überlebendenverein ist überzeugt, dass der Staat Geld sparen will und deswegen eine Lösung des Armutsproblems auf die lange Bank schiebt.
    "Der jüngste von uns ist fast 80, der älteste 95. Wir verstehen, dass deutsche Regierung rechnet mit biologischer Lösung. Das ist so."