Was war das - eine Meuterei, eine Revolte oder eine Aktion, um den russischen Präsidenten Putin bloßzustellen? Plötzlich machten sich Kämpfer der Privatarmee Wagner von der Ukraine aus auf den Weg nach Moskau. Sie gaben als Ziel aus, die russische Militärführung stürzen zu wollen, und nahmen in Rostow das südrussische Armee-Hauptquartier ein.
Am Abend des 24.06.2023 machte Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin dann - nach Gesprächen mit dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko - überraschend eine Kehrtwende und kündigte den Rückzug seiner Kämpfer an.
Im Gegenzug sollen Prigoschin und seine Kämpfer nach Angaben des Kremls nicht strafrechtlich verfolgt werden. Prigoschin sollte nach Belarus ausreisen, dort ist er laut Lukaschenko inzwischen auch angekommen. Putin forderte die Wagner-Söldner in einer Rede auf, sich entweder dem russischen Militär anzuschließen oder ebenfalls nach Belarus zu gehen.
Wer ist Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin?
Jewgeni Prigoschin saß in den 1980er-Jahren wegen Diebstahls und eines Raubüberfalls in einem sowjetischen Gefängnis. Nach dem Ende der Sowjetunion machte er einen Fast-Food-Laden auf. Später gelang es ihm, in St. Petersburg ein Luxusrestaurant zu eröffnen, zu dessen Gästen auch Putin zählte. Nach dessen Aufstieg zum Staatschef belieferte Prigoschins Kette den Kreml, was ihm den Spitznamen "Putins Koch" eintrug.
Im September 2022 erklärte Prigoschin erstmals öffentlich, der Chef der berüchtigten Söldnergruppe Wagner zu sein, die er 2014 gegründet hatte und die nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Syrien, Afrika und Lateinamerika bereits im Einsatz war. Die Wagner-Gruppe wurde ursprünglich aus Veteranen zusammengestellt, nun zählt sie auch zahlreiche Kriminelle in ihren Reihen.
Während des Ukraine-Kriegs kritisierte Prigoschin immer wieder das russische Verteidigungsministerium. Er beklagte Nachschubprobleme und forderte mehr Munition. Tausende seiner Männer wurden in der Ukraine getötet, auch in den erbitterten Kämpfen um Bachmut.
Prigoschin warf der russischen Militärführung zuletzt vor, an der Front den Rückzug angetreten zu haben und die Öffentlichkeit über das wahre Ausmaß der Verluste zu täuschen. Er beschuldigte sie zudem, Raketenangriffe auf seine Truppen angeordnet zu haben, bei denen zahlreiche Wagner-Söldner getötet worden seien. Beweise dafür gibt es bisher nicht. Prigoschin wurden Ambitionen nachgesagt, eine wichtige politische Figur in Russland werden zu wollen.
Erst Aufmarsch, dann Rückzug: Wie ist das Verhalten von Prigoschin zu erklären?
Sabine Fischer, Russland-Expertin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, macht mangelnden Rückhalt und ein „Machtungleichgewicht“ für den Rückzug Prigoschins verantwortlich. Dass sich andere Teile des Sicherheitsapparats nicht mit ihm solidarisiert hätten, habe mit Sicherheit eine Rolle gespielt. „Er hat am Ende erkannt, dass sein Unterfangen aussichtslos ist.“
Prigoschin ist in den Augen der Russlandkennerin der „große Verlierer“ - er habe seine Macht eingebüßt und müsse sich ins Ausland absetzen. Sie würde nicht viel Geld auf das Überleben Prigoschins wetten, sagt Fischer. Putin sei bekannt dafür, „dass er Verrat nicht vergibt“.
Der Politologe Gerhard Mangott sieht das ähnlich. "Putin wird, je nachdem, wie sich Prigoschin jetzt verhalten wird in den nächsten Wochen, nicht umhinkommen, dieses Problem endgültig zu lösen", betont er. "Wenn Putin jemanden einen Verräter nennt, dann war das, seitdem Putin an der Macht ist, immer gleichbedeutend mit Liquidation."
Es sei nicht sehr wahrscheinlich, dass sich Prigoschin in Belarus aufs Altenteil zurückziehe und schweige, meint der Politologe. Eher sei zu erwarten, dass er weiterhin die russische Militärführung und auch Putin attackiere: "Eine solche fortdauernde Kritik kann sich Putin nicht gefallen lassen."
Inzwischen hat sich Prigoschin tatsächlich erstmals wieder zu Wort gemeldet. In einer Audiobotschaft auf Telegram bestritt er, dass ein Machtwechsel in Moskau das Ziel des Aufstands gewesen sei. Es sei um "Protest" gegangen, nicht um den Sturz der Obrigkeit, sagte der 62-Jährige. Seine Kämpfer seien 780 Kilometer vorangekommen, bis rund 200 Kilometer vor Moskau: "Der Marsch hat schwerwiegende Sicherheitsprobleme in dem Land zum Vorschein gebracht."
Was sind mögliche Folgen des Wagner-Aufstands für Putin und sein Regime?
Putin geht stark geschwächt aus dem Konflikt hervor, er sei jetzt angreifbar und verwundbar, sagt der ehemalige deutsche Botschafter in Moskau, Rüdiger von Fritsch: "Seine Propaganda hatte nicht mehr die Kontrolle über das Land. Das ganze Land weiß, dass der scheinbar unbestrittene starke Führer so stark gar nicht ist. Und Russland hat gezeigt, dass es ein Koloss auf tönernen Füßen ist."
Zu dem Aufstand sei es nur gekommen, weil Putin in den letzten Monaten eklatantes Führungsversagen gezeigt habe, betont der Politologe Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck. Prigoschin habe eine rote Linie nach der anderen "überrannt" - und Putin habe nichts dagegen getan.
Die zugesagte Straffreiheit für Prigoschin lasse nun die Menschen in Russland zweifeln, ob Putin noch alles unter Kontrolle habe. Die Beschädigung seiner politischen Autorität müsse der Kreml-Herrscher jetzt in den nächsten Akten des Dramas wettmachen, sagt Mangott.
Doch wird das gelingen? Das Geschehen zeige, dass die Fundamente des Putin-Regimes „bei weitem nicht so stabil“ seien wie oft angenommen, betont auch Sabine Fischer, Russlandexpertin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Die Ereignisse hätten seinem Image „schwer geschadet“. Gewinner in der Machtelite sieht Fischer dennoch nicht. Es sei nicht auszuschließen, dass es zukünftig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen komme, sagt sie. Russland werde jetzt aber nicht im Chaos versinken: „Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass die Repressionen in Russland weiter zunehmen werden.“
Welche Konsequenzen könnte das Geschehen auf den Krieg in der Ukraine haben?
An der Front in der Ukraine zeichnen sich unmittelbar keine großen Veränderungen ab. Doch ein weniger stabiles Regime in Moskau könne für die Ukraine „durchaus positive Auswirkungen haben“, sagt Russlandexpertin Fischer. Man dürfe sich aber nicht der Illusion hingeben, dass der Krieg nun schnell zu einem Ende komme.
Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sagte, die Ereignisse hätte keinen Einfluss auf den Krieg. Er dementierte Gerüchte, dass es Personalveränderungen in der russischen Führung geben soll und Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow abgelöst würden. Beide waren von Prigoschin scharf kritisiert worden.
In der Ukraine gab es Sarkasmus und Schadenfreude, aber insgesamt nehmen Regierung, Parlamentarier und Öffentlichkeit die Lage in Russland ernst. So wird beobachtet, ob es Truppenverschiebungen an der Front oder mögliche Auswirkungen auf die Kampfmoral der russischen Truppen gibt. Auch der weitere Verbleib der Wagner-Söldner wird genau beobachtet.
Die ukrainischen Streitkräfte haben nach Einschätzung britischer Geheimdienste bei ihrer Offensive Fortschritte gemacht. Die Einheiten hätten sich in den vergangenen Tagen neu formiert und größere Operationen im Osten und Süden des Landes durchgeführt, teilte das britische Verteidigungsministerium mit.
Was passiert mit der Söldner-Armee von Prigoschin?
Die russische Privatarmee Wagner wird auch nach dem bewaffneten Aufstand unter ihrem Chef Jewgeni Prigoschin nach Einschätzung von US-Experten weiter zum Einsatz kommen. Die Rückkehr von Wagner-Truppen in ihre Ausbildungslager mit militärischer Ausrüstung deute darauf hin, dass der Kreml zumindest Teile der Gruppe eher aufrechterhalten als auflösen wolle, erklärte das US-Institut für Kriegsstudien (ISW). Die Zukunft der Kommando- und Organisationsstruktur sei jedoch unklar.
Die Denkfabrik stützte sich bei ihren Einschätzungen auf die Aussagen des Leiters des russischen Verteidigungsausschusses, Andrej Kartapolow. Dieser hatte erklärt, dass es nicht notwendig sei, die Wagner-Gruppe zu verbieten, da sie "die kampfbereiteste Einheit in Russland" sei.
Dass Kartapolow versuche, Wagner-Söldner von der Verantwortung für den Aufstand freizusprechen, deutet nach Einschätzung des ISW auf den Wunsch der russischen Regierung hin, die Kämpfer weiterhin etwa in der Ukraine oder in anderen internationalen Missionen einzusetzen. Präsident Putin hat die Söldner inzwischen aufgefordert, sich der russischen Armee anzuschließen oder nach Belarus zu gehen.
Florian Kellermann, Sabine Adler, Peter Sawicki, dpa, AFP, tei, ahe