Freitag, 29. März 2024

Archiv

Russland-Berichterstattung
"Die Stimmen kommen von links und von rechts"

Die politische Situation rund um die Entwicklung in der Ukraine und das Referendum sei angespannt, die Reaktionen entsprechend deutlich, sagte der Historiker und Schriftsteller Gerd Koenen im DLF. Von einer einseitigen Berichterstattung will er aber nicht sprechen. Bezogen auf die Sanktionsfrage weiche die politische Mehrheit von der "nicht öffentlichen Meinung" deutlich ab.

17.03.2014
    Porträt von Gerd Koenen
    In Deutschland weiche das Bild Russlands von der Realität ab. (dpa / Hermann Wöstmann)
    Friedbert Meurer: Gestern war das Referendum auf der Krim. Damit hat die Krise vielleicht ihren Höhepunkt erreicht, oder es kommt noch schlimmer. In der Ostukraine könnte es zu neuen Konflikten kommen und zwischen dem Westen und Russland droht eine neue Eiszeit. Daran ist der Westen Schuld, der keine Rücksicht auf die Interessen Russlands nimmt. So oder ähnlich steht es in vielen Zuschriften an den Deutschlandfunk.
    Woraus speisen sich diese heftigen Attacken, die auch andere Medien zu spüren bekommen, wenn man die Leserbriefspalten sich anschaut? Gerd Koenen ist Autor des Buchs "Der Russlandkomplex", hat über den Westen und die Revolution in Russland promoviert, in den 70er-Jahren war er in der linken Studentenbewegung aktiv und 2007 schlussendlich hat er den Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung bekommen. Guten Morgen, Herr Koenen!
    Gerd Koenen: Guten Morgen, Herr Meurer.
    Meurer: Berichten die deutschen Medien, "Spiegel", "FAZ", "Welt" und alle, auch der Deutschlandfunk, einseitig, wirklich so einseitig gegen Russland?
    Koenen: Nein, das würde ich überhaupt nicht sagen. Die Stimmen kommen ja von links und von rechts. Das ist ja nicht nur bei Ihnen so, das kann man ja in den Kommentarspalten praktisch auch aller anderen Zeitungen und Zeitschriften sehen. Es ist ja erst mal umgekehrt: Es ist ja eine erstaunliche breite Mehrheit und Einheit in den politischen Vertretungsorganen der Bundesrepublik in diesem Punkt. Da schert nur die Linkspartei aus und die Aktion für Deutschland rechts schert aus. Na ja, gut: Die Situation ist angespannt und die Leute, die davon hoch beunruhigt sind und ihre Meinung haben, die äußern sich jetzt natürlich ganz forciert.
    Meurer: Dieser politische und mediale Mainstream, so will ich es mal nennen, Herr Koenen, weicht das doch von beträchtlichen Teilen der Öffentlichkeit ab?
    Koenen: Ja, das ist natürlich richtig. Wenn man das auf die Sanktionsfrage bezieht, dann weicht die politische Mehrheit in der Bundesrepublik von der sozusagen nicht öffentlichen Meinung deutlich ab, speziell in der Sanktionsfrage. Das ist ein Faktum und dem kann man jetzt nachgehen, was darin steckt. Ich denke, das müsste man aber aufschlüsseln. Das ist ein Element von Angst, ich würde sogar sagen von berechtigter Angst, die aber sich an einer Unschuld Russlands in diesem Konflikt und an einer gewissen Dämonisierung Amerikas entzündet oder festmacht, die, glaube ich, das Ausmaß des Konflikts noch gar nicht begriffen hat.
    Meurer: Angst vor was?
    Koenen: Was Putin dort betreibt – und man muss es auf die Person Putins beziehen, weil Putin, glaube ich, das, was er da jetzt betreibt mit seinem ganzen Lebensprojekt, einer Präsidentschaft, die ungefähr bis ins Jahr 2024 reichen soll, verbunden hat, und das geht darum, im Grunde ein großes Russland wiederherzustellen, welcher politischen Form auch immer, wahrscheinlich in der Form einer eurasischen Union, die noch über die Ukraine hinausgeht. Das ist ein ziemlich großes Projekt und das bringt den gesamten, mühsam geordneten postsowjetischen Raum in eine Schwankung, die tatsächlich schon die Welt erschüttern kann.
    Russland "ist ein ultrakapitalistischer und militaristischer Staatskomplex"
    Meurer: Wenn Sie sagen, Angst vor dem, was da noch kommen kann, gibt es auf der anderen Seite auch so etwas wie eine Russland-Liebe, eine Russophilie in der deutschen Gesellschaft?
    Koenen: Ja, da gibt es diese Unterströmung sicher noch immer. Russland war immer so als das andere des irgendwie dicht bevölkerten, materialistischen europäischen Westens, war so eine Projektionsfläche für irgendwie eine andere Weise des Lebens. Nur, dass das heutige Russland ja dem überhaupt nicht entspricht. Das sollte irgendetwas mit Natur und Erdverbundenheit und Spiritualität haben. Es gibt nichts, was weniger irgendwie mit Natur, mit Erde, mit Spiritualität verbunden ist wie das heutige Russland. Das ist ein ultrakapitalistischer und militaristischer Staatskomplex, der nichts von dem, was daran geheftet wird, erfüllt. Und das, was dann so vielen gefällt, irgendwie diese weiten Gebiete, in denen die Menschen vor sich hinleben, ganz still und ruhig, das ist eigentlich das Russland, in dem die Entwicklung nicht ankommt.
    Meurer: Wäre das eine Sehnsucht nach der Weite und Tiefe der russischen Ebenen, wie Sie sagen, und vielleicht auch eine Ablehnung, sagen wir mal, des westlichen modernistischen oberflächlichen Fortschritts?
    Koenen: Ja, klar! Das steckt da drin. Ich sage nur, nichts ist brutaler auf Export, auf Devisen, auf einen ganz brachialen Fortschritt eher fast in Anführungsstrichen orientiert, wie das heutige Russland. Dieses Bild klafft in einer ganz erstaunlichen Weise auseinander mit den Realitäten, bis auf die Teile des Landes, die einfach ausgelassen sind, wo die Leute sich selbst überlassen sind. Damit hat man es aber nicht zu tun. Man hat es mit einem hoch organisierten politisch-ökonomisch-militärischen Komplex zu tun.
    Meurer: Deutschland hat bekanntermaßen einen fürchterlichen Angriffskrieg gegen Russland vom Zaun gebrochen. Haben wir Deutschen ein schlechtes Gewissen gegenüber Russland? Spielt das eine Rolle?
    Koenen: Ja, das ist vielleicht sogar noch komplexer. Mein Onkel selber war in Stalingrad und nach dem Krieg war sein Bücherschrank voll mit Büchern über Russland. Dieser epische Zusammenstoß in dieser Zeit von Hitler und Stalin, der sitzt auch natürlich in der deutschen Mentalität tief drin.
    Meurer: Ihr Onkel war fasziniert von Russland?
    Koenen: Bitte?
    Meurer: Ihr Onkel war fasziniert von Russland?
    Koenen: Ja! Der hat immer, was, glaube ich, viele Deutsche damals gedacht haben, gesagt, mit den Russen als solchen, da könnten wir sehr gut auskommen. Nur dieser Bolschewismus oder dieser Kommunismus, das ist schlecht. Aber irgendwie gab es die Sehnsucht nach dem russischen Menschen, der irgendwie eine Ergänzung zu unserer deutschen Umtriebigkeit sein kann. Und der Punkt ist ja noch der: Das hat sogar auch Putin verkörpert, eine Weile noch. Ich weiß nicht, wie weit er das heute noch tut. Es gibt auch in Russland ja dieses Vorurteil über sich selbst. Russland kann man mit dem Verstand nicht erfassen, nur mit der Seele. Russland hat diese weite Natur und Russland könnte aber am deutschen Organisationsgeist genesen. Sozusagen ein historisches Traumpaar, das hat eine ganze Weltkriegsepoche auf verschiedenen Varianten - sogar bei Hitler steckte das irgendwie drin – durchgehalten. Aber das gab es auch in einer positiven Version und Reste davon sind noch da. Aber das ist alles weit, weit von jeder politischen Realität entfernt.
    Meurer: Ich habe eingangs erwähnt, Herr Koenen, als ich Sie vorstellte, dass Sie Teil der 68er-Bewegung waren. Sie waren auch in den 70er-Jahren im Kommunistischen Bund Westdeutschlands, sind dann Ende der 70er, glaube ich, ausgetreten. Haben die linken 68er irgendwas damit zu tun?
    Koenen: Na ja, wir haben immer die Sowjetunion, wenn es das angeht, für einen Staatskapitalismus mit imperialistischen Zügen gehalten. Das war absolut nicht unser Ding. Nein, ich glaube, das hat damit viel weniger zu tun. Es gibt jetzt in den Stimmen, die wir hören, Reste davon, aber das kommt ja genauso von rechts, und so ist es historisch übrigens immer gewesen. Mein Buch "Der Russlandkomplex" handelte nicht nur von den Faszinationen an diesem bolschewistischen Russland auf der Linken in der Weltkriegsperiode, sondern auch auf der politischen Rechten. Das hat diese deutschen Russland-Faszinationen immer ausgezeichnet. Sie kamen in einer Mischung von links und von rechts.
    Meurer: Gerd Koenen, Historiker und Schriftsteller, zum Verhältnis der Deutschen zu Russland und der vielen Kritik, die es an der angeblich einseitigen Medienberichterstattung über den aktuellen Konflikt gibt. Herr Koenen, danke Ihnen sehr für das Gespräch und auf Wiederhören!
    Koenen: Ja, danke Ihnen auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk/Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.