Friedbert Meurer: In Brüssel berät heute ein Sondergipfel der Europäischen Union die Krise rund um die Ukraine. Zwei Themen stehen im Vordergrund. Erstens: Was kann und will die Europäische Union tun, um der Ukraine finanziell und wirtschaftlich unter die Arme zu greifen? Und zweitens: Welche Sanktionen sollen notfalls gegen Russland verhängt oder doch zumindest angedroht werden?
In Brüssel begrüße ich Werner Schulz, den Grünen Europaabgeordneten, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und stellvertretender Vorsitzender im Ausschuss für die parlamentarische Kooperation der EU mit Russland. Guten Morgen, Herr Schulz!
Werner Schulz: Schönen guten Morgen.
Meurer: Vielleicht diese Geschichte als erstes. Welchen Reim machen Sie sich auf dieses Telefonat des estnischen Außenministers?
Schulz: Na, dass die russische Seite offenbar noch wirksamer als die NSA arbeitet. Das kann man auf jeden Fall daraus ableiten. Aber ansonsten: Ich habe Filme gesehen, die vom polnischen Fernsehen gemacht wurden. Da konnte man die Scharfschützen in Aktion sehen. Die befanden sich in den Reihen der Berkut-Leute, also umringt und geschützt von denen, und die haben mit diesen berüchtigten Scharfschützen-Gewehren geschossen. Also es ist relativ eindeutig.
Meurer: Das heißt, unsere Korrespondentin Sabine Adler hat heute Morgen schon gesagt, dann müsste die Opposition sich sozusagen die Uniform der Berkut-Leute übergestülpt haben?
"Räuberpistolen"
Schulz: Ja, die müssten dann sich unter die Berkut-Leute geschmuggelt haben. Das sind Räuberpistolen, die hier auftauchen.
Meurer: Kommen wir zum EU-Gipfel heute, Herr Schulz. Sie sind ja bekannt dafür, dass Sie eigentlich insgesamt sagen, der Westen muss härter auftreten, entschlossener auftreten gegenüber Russland. Welche Sanktionen müssen da heute beschlossen oder angedroht werden?
Schulz: Ja! Der Westen muss deutlicher auftreten, denn wir haben es hier um den Bruch des Völkerrechts zu tun. Die UNO-Charta ist gebrochen worden, die KSZE-Schlussakte, vor allen Dingen das Budapester Memorandum von _94, wo sich die Mächte Russland, USA und Großbritannien verpflichtet haben, die Souveränität und die territoriale Integrität der Ukraine zu wahren und die Ukraine auf der anderen Seite bereit war, ihre Atomwaffen abzugeben. Nun ist die Frage: was ist das wert, so ein völkerrechtliches Abkommen? Russland hat das gebrochen. Das heißt, Putin ist ein Verbrecher, und da geht es nicht nur darum, dass man miteinander redet oder eine neue Kontaktgruppe einrichtet, so eine Art von Selbstbefriedigung. Wie viele Kontaktgruppen wollen wir denn noch schaffen? Wir haben die Minsk-Gruppe, da soll der Nagorny-Karabach-Konflikt geschlichtet werden. Wir haben die Fünf-plus-Zwei-Gespräche zur Schlichtung des Transnistrien-Problems. Wir haben die Genfer Gespräche zu Südossetien und Abchasien. Das sind alles Gebiete, die widerrechtlich von russischem Militär besetzt sind.
Meurer: Sie halten vom Versuch der Bundesregierung und von Steinmeier oder Merkel gar nichts, über diese Kontaktgruppe ins Gespräch zu kommen?
"Eine Art von Selbstberuhigung"
Schulz: Nein, das ist eine Art von Selbstberuhigung. Oder fact finding mission – das ist dann so wie Syrien: Man stellt fest, dass Giftgas eingesetzt wurde, aber man weiß nicht wer oder so etwas.
Meurer: Aber es könnte auch die Russen zu mehr Vorsicht veranlassen, wenn da jemand ihnen auf die Finger guckt.
Schulz: Ja, ich lehne das nicht ab. Aber das allein ist es nicht. Darüber lacht doch Putin nur. Der lacht doch darüber, wenn man sagt, er wird ausgeladen bei den G8 oder die G8 findet nicht statt. Man erinnert sich: der ist da schon mal nicht hingefahren und hat Medwedew geschickt. Also er hält davon nichts. – Nein, es geht wirklich um Sanktionen, und da höre ich relative Einfallslosigkeit, weil es geht ja nicht nur um Gasexport. Wir sollten vor allen Dingen die Militärexporte, die Rüstungskooperation stoppen. Schauen Sie, in diesem Jahr sind zum Beispiel zwei Mistralschiffe von Frankreich geplant im Wert von 1,2 Milliarden Euro. Das sind Hubschrauberträger. Oder Rheinmetall in Deutschland soll ein Trainings-Center für 30.000 Mann Bodentruppen liefern. Das ist eine Konsequenz aus dem Georgien-Krieg, als die Russen festgestellt haben, dass ihnen vielleicht ein Trainings-Center fehlt. Diese Kooperation muss sofort beendet werden.
Meurer: Glauben Sie, dass die Bundesregierung da auch andere Interessen im Kopf hat und dass sie die nicht opfern will?
"Das geht ja nicht nur um Gas"
Schulz: Herr Meurer, ich sage das, was ich fordere und was möglich ist. Das geht ja nicht nur um Gas. Wir können auch beispielsweise das Kontrollverfahren, das Kartellverfahren gegen Gazprom beschleunigen. Da sind ja Klagen von den baltischen Staaten, dass Gazprom als Monopolist seine Stellung ausnutzt und mit dem Gaspreis erpresserisch auftritt. Wir erleben das ja jetzt gerade in der Ukraine: der Rabatt um 30 Prozent ist zurückgenommen worden. Die Ukraine zahlt den zweithöchsten Preis an Gazprom. Also dieses Kartellverfahren muss sofort beschleunigt werden. Auf der anderen Seite müssen wir dafür sorgen, dass diese europäische Liberalisierung des Energiemarktes zustande kommt, dass Gazprom nicht noch Southstream besitzt oder Opal bekommt, also die Leitungen bekommt, sondern wir wollen ja die Trennung von dem Hersteller und dem Leitungssystem. Es gibt da eine ganze Reihe von Möglichkeiten.
Meurer: Es heißt ja alles in allem, Herr Schulz, das kann man machen, Wirtschaftssanktionen, aber das fällt uns auf die Füße und schadet unserer Wirtschaft. Was sagen Sie dazu?
Schulz: In dem Falle ist das wohl verschmerzbar, dass wir mal ein paar Waffen weniger exportieren, glaube ich. Man kann aber auch eine andere Sache machen, die sehr wirkungsvoll ist, und das ist die Reisefreiheit für ukrainische Staatsbürger, damit man deutlich merkt, ein ukrainischer Pass ist etwas wert, und wir dieser Inflation der Ausgabe von russischen Pässen entgegentreten. Es sind ja über 200.000 russische Pässe momentan vergeben worden. Die werden wie Pionierausweise unters Volk gebracht im Moment, um die Argumentation von Putin zu unterstützen, dass er die bedrohte ethnische Minderheit der Russen eigentlich schützt. Im Sommer könnten die Ukrainer frei nach Westeuropa reisen, vor allen Dingen aus der Ostukraine sich das mal anschauen, was der Westen ihnen wirklich zu bieten hat und ob die Orientierung nach Westeuropa nicht doch besser ist, wie wir das mit dem Assoziierungsabkommen vorlegen.
Meurer: Wenn man das ein bisschen insgesamt in Deutschland verfolgt, die Diskussion auch in Blogs und Kommentaren, da schimmert schon immer wieder Verständnis auch für Russland auf. Herr Schulz, die Frage: Ist Russland vom Westen in die Enge getrieben worden und muss man deren nationalen Interessen da auch ein wenig in den Blick nehmen?
"Putin ist ein Despot"
Schulz: Herr Meurer, wir müssen deutlich unterscheiden zwischen Russland und Putin. Verständnis für Russland, für die Menschen in Russland, da hat Jewgeni Jewtuschenko schon vor vielen Jahren geschrieben, meinst du, die Russen wollen Krieg. Nein, das ist ein friedliebendes Volk. Aber Putin ist ein anderer. Putin ist ein Despot und er ist ein Kriegstreiber, wie wir das jetzt erkennen können, und er möchte – er hat das ja so gesagt: die Auflösung der Sowjetunion sei die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen. Nicht der Erste Weltkrieg, nicht der Zweite Weltkrieg, nicht der Holocaust, nicht die Holodomor, sondern die Auflösung der Sowjetunion. Er möchte so eine Reintegration dieser Sowjetunion unter dem Begriff der Eurasischen Union erreichen und da sind ihm alle Mittel recht. Er wendet im Grunde genommen auch aggressive militärische Mittel an, und dem muss man entgegentreten. Russland ist nicht Putin und Putin ist nicht Russland. Er behauptet, die Russen schützen zu wollen auf der Krim, auf der anderen Seite werden friedliche Demonstranten in Moskau zusammengeknüppelt, die Friedenstauben steigen lassen.
Meurer: Werner Schulz, Grüner Europaabgeordneter, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Europaparlaments, vor dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs der EU heute in Brüssel zum Thema Ukraine und Russland. Herr Schulz, danke Ihnen und auf Wiederhören nach Brüssel.
Schulz: Auf Wiederhören.
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