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Rutger Bregman
Warum der Mensch im Grunde gut ist

Im Grunde ist der Mensch gut: Zu diesem Fazit kommt der Historiker Rutger Bregman in seinem neuen Buch mit dem Untertitel "Eine neue Geschichte der Menschheit". Er widerspricht damit Philosophen wie Thomas Hobbes und Jean-Jacques Rousseau - und nimmt den Menschen dabei rein wissenschaftlich unter die Lupe.

Von Ralph Gerstenberg | 08.06.2020
Rutger Bregman vor einer Hausfassade
Der niederländische Historiker Rutger Bregman wagt einen Blick in die Geschichte der Menschheit: Was befindet sich hinter dem dünnen Firnis der Zivilisation? (laif / eyevine / Gary Doak )
Könnte der Mensch tatsächlich gar nicht so schlecht sein, wie ihm selbst immer wieder weisgemacht wird? Was wäre, wenn in Bewährungssituationen unter dem dünnen Firnis der Zivilisation gar kein bösartiges, barbarisches Wesen zum Vorschein käme, sondern ein grundgutes? Eines, das nicht nur die eigenen Interessen im Blick hat, sondern auch die der Gemeinschaft? Ein Gedanke, der angesichts leer gekaufter Supermarktregale und zu Wucherpreisen gehandelter Atemschutzmasken in Zeiten der Coronakrise durchaus abwegig erscheint.
Die Freiheit prägt den Menschen
Dennoch, ein Blick in die Historie zum Zwecke der Selbsterkenntnis könnte lohnen, meint der niederländische Historiker Rutger Bregman. Immerhin hatte sich bereits Winston Churchill verschätzt mit seiner Befürchtung, die deutschen Bombardements während des Zweiten Weltkrieges würden nicht nur britische Städte zerstören, sondern Angst und Panik auslösen und somit die Moral wie den Verteidigungswillen der Bevölkerung schwächen. Doch nichts dergleichen geschah:
"Die psychiatrischen Notaufnahmen blieben leer. Mehr noch, mit der mentalen Gesundheit vieler Briten ging es bergauf. Der Alkoholmissbrauch nahm ab. Weniger Menschen als in Friedenszeiten begingen Selbstmord. Nach dem Krieg sehnten sich viele Briten sogar nach der Zeit des Luftkrieges zurück, als jeder jedem half und es keine Rolle spielte, ob man links oder rechts, arm oder reich war. ‚Die britische Gesellschaft wurde durch den Luftkrieg in vielerlei Hinsicht stärker‘, schrieb ein britischer Historiker später. ‚Hitler war enttäuscht.'"
Die Fehleinschätzung resultierte aus der Annahme, dass der Mensch eine einsame und armselige Kreatur sei, dessen kriegerischer und zerstörerischer Drang im Grunde nur durch eine autoritäre Macht im Zaume gehalten werden könne, durch einen großmächtigen Leviathan beispielsweise, wie beim Philosophen Thomas Hobbes. In Freiheit werde er unweigerlich zu einem wilden Tier.
Thomas Hobbes 1588-1679, Englischer Philosoph. Aus der Londoner "Book Gallery of Portraits", London 1833
"Der Mensch ist des Menschen Wolf" - Eine Theorie des englischen Philosophen Thomas Hobbes (imago/Ken Welsh)
Muss der Mensch zivilisiert werden?
Jean-Jacques Rousseau hingegen hielt die Zivilisation für das eigentliche Verderbnis. Sie hat den Menschen aus seinem seligen Naturzustand gerissen, ihm die Freiheit geraubt und zu einem zynischen Egoisten geformt. Beide, Hobbes und Rousseau, hätten noch immer großen Einfluss auf unser heutiges Menschenbild, meint Rutger Bregman.
"So fußte die Wirtschaftswissenschaft von Anfang an auf einem Hobbes’schen Menschenbild: dem des rationalen, egoistischen Individuums. Rousseau dagegen ist enorm einflussreich auf die Pädagogik geblieben, weil er daran glaubte, dass Kinder so frei wie möglich aufwachsen sollten (ein revolutionärer Gedanke im 18. Jahrhundert)."
Bregmans Eingangsthese, dass die meisten Menschen "im Grunde gut" seien, lässt bereits vermuten, welcher der beiden Philosophen für den Autor die größere Überzeugungskraft besitzt. In seiner "neuen Geschichte der Menschheit", wie sein Buch im Untertitel heißt, will Rutger Bregman die Welt jedoch nicht aus dem "Philosophensessel" heraus betrachten, sondern anhand von wissenschaftlichen Erkenntnissen, Berichten und Untersuchungsergebnissen gängige Narrative hinterfragen.
Die angeblichen Barbaren der Osterinsel
Zum Beispiel die Sache mit der Osterinsel - bekannt für ihre ebenso kolossalen wie rätselhaften Steinfiguren. Um diese Moai genannten Skulpturen, heißt es, sei zwischen zwei Stämmen vor Jahrhunderten ein blutiger Krieg entbrannt. Nach der Vernichtung des einen Stammes durch den anderen, begannen die übrig gebliebenen Inselbewohner sich gegenseitig zu töten und zu verzehren. Ein Beweis für Thomas Hobbes’ Theorie, der Mensch ist des Menschen Wolf. Zumal sich die Bevölkerungszahl auf dem Eiland nach Schätzungen von Entdeckungsreisenden von 15.000 auf zirka 2.000 deutlich reduziert hatte. Nach neuen Berechnungen haben jedoch nie mehr als 2.200 Einwohner auf der Osterinsel existiert. Rutger Bregman konstatiert:
"Mit anderen Worten: Die Tausende von Osterinsulanern, die sich gegenseitig gefoltert, getötet und gefressen haben sollen, verfügen über ein ausgezeichnetes Alibi. Es hat sie nie gegeben."
Wie erklärt man das Böse?
Wer über das Gute im Menschen schreibt, das weiß Rutger Bregman, muss sich die Frage stellen, wie der Holocaust, der planmäßig durchgeführte Mord an sechs Millionen Juden, zu erklären ist. Der Holocaust ist das Beispiel schlechthin für die unfassbare Grausamkeit, das unleugbar Böse, zu dem der Mensch nun mal fähig ist. Bregman folgt der Philosophin Hannah Ahrend und betrachtet Adolf Eichmann, den Organisator der Shoah, als Paradebeispiel für die "Banalität des Bösen". Eichmann sei kein Monster gewesen, sondern ein pflichtbewusster deutscher Schreibtischtäter, der aus der Überzeugung handelte, Schaden von dem Staat, dem er diente, abzuwenden.
Die politische Philosophin Hannah Arendt im Jahr 1944
Die Philosophin Hannah Arendt und Autorin des Buches "Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen". (Getty Images / Archive Photos / Fred Stein Archive)
"Der Holocaust wurde [...] nicht von Menschen angerichtet, die sich plötzlich in Roboter verwandelt hatten. [...] Die Täter waren davon überzeugt, dass sie auf der richtigen Seite der Geschichte standen."
Rutger Bregman zeigt in seinem Buch auf nachvollziehbare Weise, wie sich selbst Menschen, die bereit sind, Grausames zu tun, einreden müssen, dass das Böse doch irgendwie gut sei. Sonst würden sich ihre Taten gegen sie selbst richten.
Auch wenn er zum Schluss ein wenig in Richtung Ratgeberecke abdriftet, gelingt es Rutger Bregman über eine lange Strecke, scheinbare Gewissheiten in Frage zu stellen und überzeugende Argumente für seine – wie es heißt – "radikale Idee" ins Feld zu führen. Dabei erweist er sich als unterhaltsamer Erzähler, der weiß, dass man Spannung erzeugt, wenn man den Leser am Prozess der Erkenntnissuche teilhaben lässt, die eigene These immer wieder mit neuen Widersprüchen konfrontiert. Sein Buch ist ein lesenswertes Plädoyer dafür, an das Gute im Menschen zu glauben, um den Herausforderungen der Zukunft gewachsen zu sein.
Rutger Bregman: "Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit",
Rowohlt Verlag, 480 Seiten, 24,00 Euro