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Sachsen-Anhalt
"SPD muss abgrundtiefe Enttäuschung erst verarbeiten"

Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat Vorbehalte der SPD in Sachsen-Anhalt gegen eine Koalition mit CDU und Grünen verteidigt. Nach der "furchtbaren Niederlage" sei es verständlich, dass die SPD-Mitglieder geradezu betäubt seien, sagte der SPD-Politiker im Deutschlandfunk. Erst müsse man innehalten.

Wolfgang Thierse im Gespräch mit Christine Heuer | 16.03.2016
    Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) spricht am 27.01.2016 auf einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung in München (Bayern).
    Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (dpa / picture-alliance / Andreas Gebert)
    In Sachsen-Anhalt kommen CDU, SPD und Grüne am Vormittag zu Sondierungsgesprächen über eine Koalition zusammen. Bislang regierte in Sachsen-Anhalt eine Koalition von CDU und SPD unter dem Ministerpräsidenten Reiner Haseloff (CDU). Die Sozialdemokraten erhielten bei der Wahl 10,6 Prozent der Stimmen und sind damit viertstärkste Partei im Landtag.
    Weil das Wahlergebnis so schlecht ausfiel, gibt es in der SPD-Basis Vorbehalte gegen eine Regierungsbeteiligung. "Ich finde, es ist sehr verständlich, dass man nach einer so schweren Niederlage erst mal innehält und sich fragt: Was bedeutet das für uns?", sagte Thierse. Das sei nicht antidemokratisch. "Eine Volkspartei muss an einer solchen Niederlage laborieren." Er wisse nicht, ob es dann zu Koalitionsgesprächen komme, aber: Die Mitglieder an der Basis wüssten, dass es vernünftig sei, unter demokratischen Parteien miteinander zu sprechen.
    Der frühere Bundestagspräsident betonte, wenn eine Partei so abgestraft werde, dann wolle der Wähler, dass sie weniger Verantwortung übernehme. Er stellte klar: "Ein bisschen ist die SPD für die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel abgestraft worden."

    Das Interview in voller Länge:
    Christine Heuer: Die CDU hat am Sonntag in Rheinland-Pfalz gegenüber den letzten Wahlen leicht, gegenüber ihrem zwischenzeitlichen Höhenflug in den Umfragen sogar stark verloren. In Baden-Württemberg stürzte sie um sagenhafte zwölf Prozent ab. Nur in Sachsen-Anhalt kam der Christdemokrat Reiner Haseloff mit leichten Verlusten über die Hürden und kann theoretisch weiterregieren. Bloß ist ihm der Koalitionspartner SPD abhandengekommen. Jedenfalls kann die CDU mit einer nur noch gut zehn Prozent starken SPD allein nicht regieren in Magdeburg. Haseloff möchte deshalb die Grünen mit ins Boot holen. Schwarz-Rot-Grün, das würde reichen, um weiterzumachen. Aber an der SPD-Basis in Sachsen-Anhalt gärt es gewaltig. Möglich, dass die Sozialdemokraten am Ende Nein sagen zu einem Dreierbündnis. Das hätte dann aber schwerwiegende Konsequenzen.
    Die SPD-Basis in Sachsen-Anhalt möchte lieber nicht mit der CDU über ein Dreierbündnis mit den Grünen verhandeln. In Baden-Württemberg möchte die SPD eigentlich auch nicht oder nicht viel mit der CDU reden. Aber darf eine Volkspartei das? Darf sie sich verweigern in so politisch aufgewühlten Zeiten mit den Rechtspopulisten in zweistelliger Größe in drei Bundesländern und möglicherweise bald im Bund auch? Fragen jetzt an Wolfgang Thierse, Sozialdemokrat, ehemaliger Bundestagspräsident. Guten Morgen, Herr Thierse.
    Wolfgang Thierse: Guten Morgen, Frau Heuer.
    Heuer: Franz Müntefering hat gesagt, Opposition ist Mist. Gilt das jetzt nicht mehr für die SPD?
    "Dass man miteinander Geduld hat, gehört sich doch so"
    Thierse: Ach wissen Sie, wenn eine Partei in zwei Ländern, in diesem Fall in Sachsen-Anhalt und in Baden-Württemberg, eine so furchtbare Niederlage erlitten hat, dann ist doch nichts anderes als verständlich, dass ihre Mitglieder geradezu betäubt sind und ihre Niederlage, ihre Enttäuschung, die abgrundtief ist, erst verarbeiten müssen. Gelegentlich haben doch Journalisten kritisiert, auch nach diesen Wahlergebnissen, dass die Parteien so tun, als hätten sie alle gewonnen, als müsste man jetzt Business as usual machen.
    Heuer: Das stimmt ja auch!
    Thierse: Ich finde, das ist sehr verständlich, dass man nach einer so schlimmen Niederlage erst mal innehält und sagt, was bedeutet das für uns, was bedeutet das für die Zukunft der Partei. Man muss erst einen Weg daraus herausfinden.
    Heuer: Müssen wir alle mit der SPD einfach ein bisschen mehr Geduld haben, oder finden jetzt viele Sozialdemokraten, Regieren ist auch Mist?
    Thierse: Das weiß ich nicht. Aber dass man miteinander Geduld hat, gehört sich doch so. Wie gesagt: Ich habe noch die Journalistenkritik im Ohr, dass wir so tun, als sei nicht wirklich was passiert. Man muss Konsequenzen ziehen. Das heißt, man muss auch miteinander diskutieren, was bedeutet das inhaltlich und wie stellt man die Partei neu auf, gerade wenn man so verloren hat. Ich höre doch, dass zum Beispiel die FDP, die ein bisschen gewonnen hat in Baden-Württemberg, auch Nein sagt zu einer bestimmten Konstellation. Das ist eine politische Aussage, die Teil der demokratischen Auseinandersetzung nach einem erschütternden Wahlergebnis ist.
    Heuer: Aber, Herr Thierse, die FDP ist keine Volkspartei. Die SPD nimmt das für sich nach wie vor in Anspruch. Müsste eine Volkspartei nicht beherzt mitmachen, wenn ohne sie Neuwahlen und vielleicht noch mehr Stimmen für die Rechtspopulisten drohen?
    Thierse: Das kleine Wörtchen "beherzt" ist entscheidend.
    Heuer: Ja!
    Thierse: Dieses Herz muss man zurückgewinnen und das dauert ein bisschen, denn schließlich ist die SPD ja doch ein bisschen für die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel mit abgestraft worden und die eigenen Kandidaten, die eigenen Spitzenkandidaten haben nicht die nötige Strahlkraft entwickeln können, die es braucht, um Wahlen zu gewinnen, wie man an Kretschmann und Malu Dreyer doch sehen kann.
    "Eine Volkspartei muss an einer solchen Niederlage laborieren"
    Heuer: Aber das Signal, das die SPD im Moment aussendet, ist doch so: Wir übernehmen nur Verantwortung, wenn wir ganz sicher die Stärksten sind, …
    Thierse: Nein! Entschuldigen Sie! Jetzt sollten Sie nicht übertreiben. Die SPD ist in fast allen Ländern in der Regierung. Sie trägt immer Verantwortung mit, auch nach schwierigen Wahlergebnissen, auch als Juniorpartner. Und wenn man dann die Beobachtung macht, genau weil man Juniorpartner ist und weil man Verantwortung übernimmt und Politik mitträgt wird man vom Wähler abgestraft, dann verdient das doch eine angemessene Würdigung, innere Auseinandersetzung, um wieder Kraft zu gewinnen.
    Heuer: Ja, in der Tat! Aber was wir im Moment beobachten, und das ist die Frage an Sie: Zieht die SPD aus diesen Erfahrungen, die sie als Juniorpartner gemacht hat, jetzt die Konsequenz, dann lieber doch keine Verantwortung, weil das schadet uns?
    Thierse: Wir werden sehen. Es sind erst drei Tage nach der Wahl. Entschuldigen Sie! Sie verlangen, dass Politiker, die politische Basis einer Partei eine Maschinerie ist, die sagt, egal was passiert, wir machen immer mit. Das muss wirklich debattiert werden und dafür bitte ich auch um Verständnis. Das ist nicht antidemokratisch, das ist auch nicht gegen den Charakter einer Volkspartei. Im Gegenteil! Eine Volkspartei muss an einer solchen Niederlage laborieren und neue Kräfte sammeln. Und ich hoffe sehr, dass das in Sachsen-Anhalt auch passiert, genau weil ja auch Sozialdemokraten wissen, die Alternative ist doch eine stärkere Wirkung der AfD, ihr Ausbreiten etc.
    Heuer: Die SPD in Sachsen-Anhalt braucht Zeit und dann wird sie schon ins Gespräch kommen mit der CDU, das glauben Sie?
    Thierse: Das weiß ich nicht, aber jedenfalls auch die Mitglieder der SPD an der Basis wissen, dass es vernünftig ist, unter demokratischen Parteien auch miteinander zu sprechen, auch gerade nach einer solchen Niederlage, und es wird ein wenig auch von dem abhängen, was Herr Haseloff der SPD, mit der er ja vier Jahre tapfer regiert hat, anbietet.
    Heuer: In Baden-Württemberg, gucken wir da mal hin, da sagt die SPD jetzt, Winfried Kretschmann sei gewählt und deshalb wolle man eigentlich nicht mit der CDU reden. Beim letzten Mal wurde Kretschmann nicht gewählt und die SPD hat ihm trotzdem den Weg in die Staatskanzlei geebnet. Da stimmt doch irgendwas nicht.
    Thierse: Auch da bitte ich Sie, genauer hinzuschauen. Vor vier Jahren haben die Grünen deutlich hinzugewonnen, so wie jetzt noch einmal deutlicher.
    Heuer: Aber sie waren nicht die stärkste Partei damals. Heute schon.
    "Das muss doch erst überwunden werden, solche Emotionen"
    Thierse: Ja, ja. Aber jetzt kommt die SPD aus einer Koalition mit den Grünen und einer Koalition, die ganz gute Arbeit gemacht hat, wie ja insgesamt Baden-Württemberg gut dasteht. Und dass man dann nicht sozusagen wie Brutus als erster zusticht und sagt, es war nichts gewesen, wir verhandeln jetzt umstandslos über eine Alternative, auch das ist doch, glaube ich, ganz gut nachvollziehbar und im Übrigen auch ziemlich menschlich.
    Heuer: Aber Thomas Schmid ist ja nicht der Brutus. Im Gegenteil: Er sagt, er möchte gar nicht mit Guido Wolf reden. Muss man nicht wenigstens reden?
    Thierse: Erst wird Kretschmann das Seinige tun. Er ist der große Wahlsieger. Er wird zu Gesprächen einladen. Und ich bin sicher, dass auch in Baden-Württemberg die SPD sich solchen Gesprächen nicht entzieht. Und im Fortgang der Dinge wird man sehen, mit wem man noch ringsum sprechen muss. Es gibt keinen Mechanismus, wer mit wem wann wie sprechen muss, sondern das muss man miteinander verabredet und darin ist auch ein Widerhall zu finden von dem, was in den vergangenen vier Jahren stattgefunden hat, nämlich eine schwarz-rote Koalition unter heftiger Gegnerschaft und Feindschaft der CDU. Auch das muss doch erst überwunden werden, solche Emotionen.
    Heuer: Wenn ich bei der nächsten Bundestagswahl hingehe und ich sage, ich wähle die SPD, dann muss ich nicht damit rechnen, dass die SPD, wenn sie sehr schlecht abschneidet, sagt, eigentlich wollen wir nicht regieren. Dann fühle ich mich als Wähler ja auch irgendwie nicht ernst genommen.
    Thierse: Entschuldigen Sie! Die Wähler verteilen Aufträge und derjenige, der zugewinnt und der vorne ist, hat vom Wähler den Auftrag zum Regieren bekommen. Und wen der Wähler abstraft, von dem meint er wohl, die sollten nicht so viel regieren, und darauf muss man doch selber auch erst mal antworten und nicht sagen, es ist uns schnuppe, was Wähler gesagt haben, nur weil Journalisten erklärlicherweise ungeduldig sind und sagen, gefälligst haben alle Parteien das zu machen, was wir erwarten. Nein, nein, man muss an Wahlergebnissen schon laborieren und das passiert gerade, gerade wenn sie so umstürzend waren wie die vom Sonntag.
    "Ein solches Wahlergebnis muss verarbeitet werden"
    Heuer: Herr Thierse, Sie haben eingangs mehrfach darauf hingewiesen, dass sonst immer der Vorwurf lautet, dass die Parteien nach Wahlen sagen, auch wenn wir verloren haben, das spielt eigentlich keine Rolle. Der Vorwurf steht tatsächlich gleichzeitig ja auch im Raum. Beide Volksparteien tun im Moment so, als sei am Sonntag die politische Landschaft nicht grundlegend erschüttert worden. Ist es da eigentlich ein Wunder, dass die Wähler den Volksparteien davonlaufen?
    Thierse: Aber, Frau Heuer, jetzt wechseln Sie die Argumentation.
    Heuer: Mache ich jetzt noch mal zum Schluss, ja.
    Thierse: Jetzt sagen Sie genau das Gegenteil dessen, was Sie bisher gefragt haben.
    Heuer: Ja, das stimmt.
    Thierse: Und das geht nicht. Man kann nicht gegensätzliche Vorwürfe gleichzeitig an die Parteien richten. Das nenne ich allmählich latent antidemokratisch. Nein! Ein solches Wahlergebnis muss verarbeitet werden. Da muss man intern miteinander sprechen. Und dann, wenn man sich in der Lage fühlt, kann man und soll man und muss man auch mit den anderen demokratischen Parteien sprechen. Das findet gerade statt. Wie gesagt, der Wahlsonntag mit niederschmetternden umstürzenden Ergebnissen ist drei Tage her.
    Heuer: Der Sozialdemokrat und ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse im Interview mit dem Deutschlandfunk. Herr Thierse, haben Sie herzlichen Dank dafür.
    Thierse: Machen Sie es gut!
    Heuer: Sie auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.