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Sanktionsregelung bei Hartz IV
"Man muss Sanktionen haben, die auch gerichtsfest sind"

Das Prinzip des Hartz-IV-Systems Fördern und Fordern sei im Kern richtig, sagte der SPD-Bundestagsabgeordnete Johannes Kahrs im Dlf. Reformen seien aber überfällig. Beispielsweise brauche es mehr Flexibilität in den Jobcentern und eine stärkere Ausrichtung auf Qualifizierung und Umschulung.

Johannes Kahrs im Gespräch mit Martin Zagatta | 15.01.2019
    Johannes Kahrs, Chef des konservativen Seeheimer Kreises in der SPD, spricht im Bundestag.
    Sanktionen dürften aber nicht zu Obdachlosigkeit führen, sagte der SPD-Bundestagsabgeordnete Johannes Kahrs im Dlf (dpa / picture-alliance / Michael Kappeler)
    Martin Zagatta: Fördern und Fordern – auf diesem Prinzip fußt das Hartz-IV-System, das Kanzler Gerhard Schröder und seine Sozialdemokraten einst auf den Weg gebracht haben. Zum Fordern gehören insbesondere die Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger – Vorschriften, die das Sozialgericht in Gotha allerdings für verfassungswidrig hält. Und deshalb muss jetzt das Bundesverfassungsgericht auch entscheiden, ob es rechtens ist, Betroffenen die Leistungen zu kürzen, auch wenn das bedeutet, dass sie damit gegebenenfalls unter das Existenzminimum fallen. Die Verhandlung hat am Vormittag begonnen.
    Mitgehört hat der SPD-Bundestagsabgeordnete Johannes Kahrs, einer der Sprecher des eher konservativen Seeheimer Kreises. Guten Tag, Herr Kahrs!
    Johannes Kahrs: Moin!
    "Fördern und Fordern als Prinzip ist richtig"
    Zagatta: Herr Kahrs, Sie sind ja juristisch bewandert. Wie bewerten Sie denn diese Klage beim Verfassungsgericht? Sind diese Hartz-IV-Sanktionen, die die SPD einst auf den Weg gebracht hat, verfassungswidrig?
    Kahrs: Na ja, sie bestehen seit 15 Jahren. Sie haben vielfach funktioniert. Die Zeiten haben sich geändert; deswegen ist es gut, dass man jetzt darüber befindet. Was mich an diesen Sanktionen persönlich immer stört ist, dass ein Großteil, dass ein hoher Prozentsatz davon vor Gericht aufgehoben wird. Das heißt, man muss Sanktionen haben, die auch gerichtsfest sind. Aber das Prinzip, dass jemand, der von der Gesellschaft, von seinen Nachbarn und von den Kollegen finanziert wird, daran mitwirken muss, finde ich in Ordnung. Das heißt, Fördern und Fordern als Prinzip ist richtig. Man muss aber natürlich gucken, ob zum Beispiel dieses verschärfte Sanktionsrecht für Jugendliche richtig ist. Ich persönlich fand das immer schwierig. Da muss man halt ran.
    "Es wird immer Sanktionen geben müssen"
    Zagatta: Die Frage ist ja, wenn ich das richtig verstanden habe, worum es in Karlsruhe jetzt geht, ob man Sanktionen durchsetzen kann, Leistungen streichen, wenn es um das Existenzminimum geht. Wie sehen Sie das?
    Kahrs: Im Kern ist es so, dass das Existenzminimum ja gewährleistet ist. Das heißt, der Staat finanziert das Existenzminimum. Und dadurch, dass dann derjenige, der eine Arbeit nicht annimmt, nicht kommt, Sanktionen bekommt, hat er sie ja selbst, sage ich mal, heraufbeschworen. Im Kern ist das schwierig, aber jeder hat es selber in der Hand. Deswegen wird es immer Sanktionen geben müssen, weil sanktionslos Geld Leuten zu geben, ist vielleicht nicht der richtige Weg, damit dann dieses Fördern und Fordern, dieses gemeinschaftliche Miteinander funktioniert. Aber natürlich muss man gucken, wenn man so was auf Augenhöhe macht, dass man das gemeinschaftlich vernünftig hinkriegt und dass der Staat und derjenige, dem man helfen will, dass man gemeinsam auch miteinander klarkommt. Aber dazu gehören auch immer beide.
    Mehr Spielräume für Jobcenter-Mitarbeiter
    Zagatta: Da habe ich Sie richtig verstanden? Sie wären dafür, dass zumindest so beizubehalten, wie es im Moment in Extremfällen wahrscheinlich auch läuft, dass dann Menschen die Sozialhilfe gekürzt wird und sie notfalls dann auch mit Beträgen auskommen müssen, die unter dem Existenzminimum liegen? Das soll bleiben?
    Kahrs: Wichtig ist, finde ich, dass es nicht zu Obdachlosigkeit führen darf. Wichtig würde ich es finden, dass man den Mitarbeitern in den Jobcentern die Möglichkeit gibt, Sanktionen auch kurzfristig zurückzunehmen, dass sie mehr Spielraum bekommen, dass man den Mitarbeitern die Möglichkeit gibt, wenn jemand einen Termin nicht angetreten hat, aber diesen Termin nach zwei Wochen, nach drei Wochen wahrnimmt, dann auch von der Sanktion zu entlasten, dass man das nicht auf drei Monate macht, wie das jetzt gesetzlich vorgesehen ist. Deswegen ist dieses Gerichtsverfahren ja gut, dass man das einmal überprüft, was da seit 15 Jahren läuft, und im Kern muss man das ja auch immer anpassen. Deswegen hat die SPD ja gesagt, wir haben das damals unter Rot-Grün beschlossen. FDP, CDU und CSU haben im Bundesrat zugestimmt. Aber das war eine Zeit, da war Deutschland, sage ich mal, der kranke Mann in Europa. Da ging es uns schlecht, wir hatten Millionen von Arbeitslosen. Inzwischen hat sich die Lage geändert. Deswegen sagt ja die SPD, …
    Hartz IV - "War damals die richtige Maßnahme zum richtigen Zeitpunkt"
    Zagatta: Dank Hartz IV, sagen viele!
    Kahrs: Ja, klar! – Natürlich! – Das war ja damals die richtige Maßnahme zum richtigen Zeitpunkt. Jetzt sind wir aber 15 Jahre weiter und wenn man in die Zukunft guckt, dann muss ein Sozialstaat ja ausgerichtet sein auf das, was auf uns zukommt. Im Moment ist es ja so, dass wir eine sehr hohe Beschäftigungsquote haben, aber das auf uns zukommt Digitalisierung und vielleicht das Problem nicht darin besteht, dass wir Millionen von Arbeitslosen haben, sondern dass wir Menschen haben, deren Jobs verschwinden können, so dass wir Qualifikation, Umschulung und solche Dinge mehr in den Vordergrund stellen müssen, weil ja jede Form von staatlicher Unterstützung auch passen muss. Deswegen finde ich es immer etwas schwierig, dass die Union unsere alten Reformen von vor 15 Jahren, zu denen sie alleine die Kraft nie hatte, verteidigt, während wir in die Zukunft gucken und sagen, die Gesellschaft hat sich geändert, die Zeit auch, der Arbeitsmarkt, und jetzt muss man sich neu aufstellen, und dieser Prozess kann bei dieser Neuaufstellung auch helfen.
    Koalitionspartner "auf dem Stand von vor 15 Jahren verkantet"
    Zagatta: Kommt Ihnen da das Bundesverfassungsgericht jetzt unter Umständen gerade recht, wenn das jetzt einige Regelungen umsetzt, die Sie vielleicht auch wollen, aber wo Sie sich schwertun, diese Kehrtwende oder dieses Abrücken der Öffentlichkeit zu erklären? Passt Ihnen das jetzt?
    Kahrs: Ehrlicherweise erklären wir der Öffentlichkeit schon länger, dass wir finden, dass die Hartz-IV-Reformen reformiert werden müssen, gerade was Jugendliche unter 25 angeht, was mehr Flexibilität bei den Mitarbeitern im Jobcenter angeht, damit man auch mehr auf die Leute eingehen kann, weil man ja das auf Augenhöhe machen soll. Wir haben aber einen Koalitionspartner, der das nicht will, der sich da ziemlich verkantet hat, weil der auf dem Stand von vor 15 Jahren ist, und wenn hier vor Gericht was rauskommt, das, glaube ich, eher unsere Vorstellungen unterstützt, dann kann man die Sanktionsregelungen bei Hartz IV hier weiterentwickeln und dann ist das Gericht eher hilfreich, um den Koalitionspartner dazu zu bringen, das zu tun was richtig ist.
    Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz "überfällig"
    Zagatta: Herr Kahrs, vielleicht noch kurz zu einem anderen Thema. Da wird ja gerade gemeldet, der Verfassungsschutz soll die AfD jetzt bundesweit zum Prüffall erklärt haben. Das ist inzwischen auch bestätigt. Ist das aus Ihrer Sicht der richtige Weg, um mit dieser Partei umzugehen, die ja auch im Bundestag sitzt und gerade solchen Zulauf hat?
    Kahrs: Ehrlicherweise ist es so, dass die AfD eine rechtsradikale Partei ist. Das ist unstrittig. Die Frage ist, ob sie rechtsextremistisch ist. Ich halte sie in weiten Teilen für rechtsextremistisch. Ich finde, dass der Verfassungsschutz schon deutlich eher sie hätte beobachten müssen. Dass man jetzt noch eine Zwischenstufe eingeschaltet hat, finde ich eher schwierig. Ich glaube, das was man im Internet über die findet, dafür muss man gar nicht groß beobachten; das muss man einfach nur runterladen.
    In der Vergangenheit war es so, dass man das NPD-Verbot damals nicht durchgezogen hat, weil man gesagt hat, die NPD ist zwar rechtsextremistisch, aber die Schwelle zur Bedeutung ist nicht gegeben und deswegen lohnt sich ein Verbot nicht. Diese Bedeutungsschwelle gibt es bei der AfD und ich glaube, dass sie immer mehr rechtsextremistischer wird, und deswegen ist die Beobachtung überfällig. Deswegen ist sie richtig und gut. Und ich glaube – ich habe das mal bei der Bundeswehr gelernt; ich bin Oberst der Reserve -, im Kern sind wir eine wehrhafte Demokratie und da gibt es klare Grenzen. Da geht nicht alles und das muss die AfD jetzt lernen. Und entweder sie kriegen sich selber vernünftig sortiert, oder es wird nicht nur beobachtet, sondern wir werden auch eine Verbotsdiskussion bekommen.
    Zagatta: Jetzt wird ja erst mal geprüft, noch nicht offiziell beobachtet. Diese Diskussion jetzt und diese Ankündigung, was glauben Sie, schadet das der AfD? Oder ganz im Gegenteil: Kann ihr das vielleicht sogar noch mehr Zulauf bescheren?
    Kahrs: Ehrlicherweise ist mir das vollkommen egal.
    Zagatta: Was!
    Kahrs: Wenn man an eine wehrhafte Demokratie glaubt, dann habe ich feste Grundüberzeugungen, und es steht ja auch im Grundgesetz, was geht und was nicht geht. Und wenn man feststellt, dass die AfD verfassungsfeindlich ist, dann ist es mir eigentlich egal, ob es nützt oder nichts nützt, sondern dann muss man klare Kante zeigen, das heißt Haltung bewahren. Ich habe häufig genug mit meinen Großeltern darüber geredet, wie das in den Endzwanzigern, Anfang Dreißigern passieren konnte, und die Ansage war immer die gleiche: Man hat nicht rechtzeitig aufgepasst, man hat nicht rechtzeitig gesagt, wo es langläuft. Und erst als es zu spät war, hat sich die Gesellschaft aufgestellt. Jetzt diskutieren wir das sehr frühzeitig. Vielleicht kriegt die AfD die Kurve; vielleicht kriegt sie die nicht. Gut, dass wir einen Verfassungsschutz haben. Die AfD wollte den Verfassungsschutz abschaffen, wollte das Geld für den Etat streichen. Jetzt wissen wir warum.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.