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Sarah Kirsch
Cornwall, Fischbrötchen und Tee

Sarah Kirsch wurde vor allem durch ihre Naturgedichte bekannt und gilt als bedeutende Lyrikerin der deutschen Gegenwartsliteratur. Am 16. April wäre sie 80 Jahre alt geworden.Posthum erscheint nun ihr Reisetagebuch "Ænglisch" mit Fotos und Faksimile-Seiten aus dem Original.

Von Michaela Schmitz |
    "Nichts Besonderes, nur unvergesslich", heißt es in "Allerleih-Rauh", der realitätsnahen Märchen-Chronik von Sarah Kirsch aus dem Jahr 1988. Die Formel könnte über Sarah Kirschs Gesamtwerk stehen. Sie gilt für Sarah Kirschs Lyrik genauso wie für ihre Prosa, darunter das jetzt posthum erschienene Tagebuch "Ænglisch" mit Notizen über eine Reise nach England im August 2000. Statt in die Metropole London zieht es sie mit ihrem Sohn Moritz nach Cornwall und Devon, in kleine Örtchen mit wenig touristischen Attraktionen. Die Tage verlaufen unspektakulär. Zwischen täglichen Spaziergängen gibt es Fischbrötchen und Tee. Im Hotel hört die Autorin Classic Radio und schreibt auf, was sie gerade erlebt hat. "Nichts Besonderes, nur unvergeßlich" wird es dadurch, wie Sarah Kirsch "Das simple Leben", so heißt ein anderes Buch, beschreibt.
    "28. Augustus 2000, Mohn-Tach
    Ein launisches Atlantik-Kanalwetter, bei dem man nit weeß, was es allet im Köcher oder uff die Pfanne hat. Ne kleene Regenhaut muß man schon haben. Für alle Felle. Und immer dabei. Wir bleiben heute hier in der näheren Umgebung einschließlich Fischerdörfer. 'Save our fish!' Steht über der Sardinenfabrik. Pilcher = Sardine. So schaut es nämlich aus. Jedenfalls fast. Pilchard ist the same! Wir sind durch die kleene Stadt und haben sehr verzauberte kleene Häuserken und gloriose Gärten gefunden und sind nach Penlee House gekommen. "
    Typisch hier der "Sarah-Sound", wie Peter Hacks Sarah Kirschs virtuose Kunstsprache bezeichnet. Als "märchenhaft und umgangssprachlich, lautmalerisch, berlinerisch und altertümlich gleichermaßen" beschreibt Frank Trende ihren Sprach-Mix in seinem "nachgerufenen Nachwort". Einfache Vokabeln, nur etwas verrückt und ein bisschen verschroben kombiniert. "Nichts Besonderes, nur unvergesslich" eben. "Very special" wie das britische Inselvölkchen. Sarah Kirsch liebt die exzentrische Art der Briten. Sie fühlt sich ihnen wesensverwandt. An der Küste von Cornwall, mit den Möwen im Regen findet sie ihr Arkadien. Wenn sie davon in ihren Tagebuchnotizen schreibt, schlägt sie übermütig wie der Troll aus einer englischen Sage vor Freude Wort-Purzelbäume. Wie das "Selbstporträt einer Schriftstellerin als kichernder Lachsack" liest es sich, als die Autorin im lokalen "post office" diesen Scherzartikel kauft.
    "Aus dem Rucksack lachte er, pfiff wie auf den Fingern, schrie gräßlich wie am Spieß (...). Dann wieder im strömenden Regen zwischen den schreienden Möwen rumgerannt. In meinem Rucksack das Geschrei des Lachsacks, sehr ähnlich dem Möwengelächter. Wir mussten lachen lachen lachen! Es war sehr entzückend! Völlig durchweicht im Hotel."
    Natur als Spiegel von Seelenzuständen
    Wie sich im schrulligen Selbstbild Kirschs eigenes Lachen und das Gekreische des Lachsacks mit Möwengelächter mischen, ist kein Zufall. Natur fungiert in den Texten der studierten Biologin Kirsch immer als Spiegel von Seelenzuständen. Sie glaube eher an Bäume als an Gott, bekennt die Autorin in einem Interview mit der Zeit. Und in ihrer Rede zur Verleihung des Büchnerpreises beschreibt Sarah Kirsch ihr literarisches Verfahren als Arbeit eines "Landschafters" von der Natur. Das gilt nicht erst, seit die Autorin auf dem flachen Land wohnt. Seit 1983 ist es Tielenhemme, Schleswig-Holstein, wo sie bis zu ihrem Tod im Mai 2013 lebt und arbeitet. Die Natur rund um "Tee", wie Kirsch ihre Wahlheimat im Reisetagebuch liebevoll nennt, wird für sie zur literarisch immer wieder neu bearbeiteten Seelenlandschaft. Das flache Land ist ungeschützt dem Wind und dem überwältigenden Licht "zwischen den Meeren" ausgesetzt. Die Nähe zum Meer ist Sarah Kirsch wichtig. Wasser nimmt in ihrer poetologischer Geografie eine zentrale Rolle ein. Es kein Zufall, dass sie ihre Reise im Jahr 2000 ans Meer der südostenglischen Küste führt.
    "Wunderbare Farben, ein silberweißes Spitzengrau wie für Herrn Turner, später das Meer schwarzer Lack. Hin & wieder steckte ein Kormoran den Schnorchel aus dem Wasser. Wunderbarste Fregattvögel flogen, wenn ich die See und diese Fregattvögel in den Lüften hab, so haut es mir nahezu um. Weeß ooch nicht weshalb."
    Elfengleich küsst Kirsch den Lesern die Augen wach
    Sarah Kirschs Landschaftsbilder sind keine Naturpoesie im klassischen Sinne. Sie erlauben den Blick durch die Natur hindurch auf die menschliche Seele. Vielleicht ist es das, was Sarah Kirschs Beschreibung unscheinbarer Dinge in ihrem englischen Reisetagebuch so klarsichtig und durchscheinend macht. Kirschs "Akwareller" sind auf den ersten Blick vielleicht "nichts Besonderes, nur unvergeßlich" ist der Hintergrund, der den transparenten Farben erst Leuchtkraft verleiht. Wenn Sarah Kirsch auf ihrer Englandreise einfach nur beschreibt, was sie sieht, beginnt sogar der englische Landregen zu leuchten. Elfengleich küsst Kirsch den Lesern die Augen wach und lässt sie durch die Oberfläche hindurch schauen.
    Wir hätten alles deutlich vor Augen, viel schöner als "Fernsehn", schreibt Sarah Kirsch über ihren Dichterkollegen Christoph Wilhelm Aigner einmal. Und die Autorin rät, man müsse in seiner eigenen Innenwelt eifrig trainieren. Sarah Kirschs poetischer Blick richtet sich auf "Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt", um einen Buchtitel ihres Kollegen Peter Handke zu zitieren. Kirschs Dichtung beschwört keine Naturidylle. Sie ist das Ergebnis jahrelanger literarischer Seelenarbeit. Es sind "sanfte, gefährliche Gärten", so die Autorin, die sie mit ihrer Poesie betritt. Sarah Kirsch selbst sagt in einem ihrer seltenen Interviews dazu:
    "Eigentlich dauern Gedichte jahrelang, auch wenn sie ganz kurz sind und man sie eines Tages ganz schnell hingeschrieben hat. Das muss man alles schon gelebt haben, das muss man alles schon von seinen Vorfahren gehört haben. Und damit meine ich keine eigenen Vorfahren. Damit meine ich irgendwelche Bücher, die man gerne liest. Also, das ist eigentlich nur ein Vorhandensein in der Welt. Und wenn man die Welt gern hat, wenn man sie ganz furchtbar findet, alles zusammen, dann kann man eines Tages drei Sätze über diese komische Welt machen. Und darauf muss man nicht besonders stolz sein, da hat man Glück, wenn man irgendeine Aussage machen kann, die einigermaßen stimmig, aber auch Spaß machen kann. Man darf gar nicht angestrengt sein. Man ist ein Stückchen Natur in dem Ganzen. So was wie ne Wolke vielleicht."
    Natur ist für Sarah Kirsch nicht heile Welt, sondern ein wechselhafter, unruhevoller Prozess. Politik, Gesellschaft und Zeitgeschehen gehören dazu. Es brauche, so Kirsch "viel zärtliche Demut, und ein gerüttelt Maß wahnsinniger Zuneigung für seine arme absterbende Welt", um darin weiterleben zu können.
    Marcel Reich-Ranicki nannte sie der "Droste jüngere Schwester".
    Politisch und persönlich unruhige Zeiten kennt Sarah Kirsch aus eigener Erfahrung nur zu gut. 1935 in Limringerode geboren, erlebt sie die Zeit des Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg, politische Verfolgung in der DDR und die Wiedervereinigung. Sie ist zehn Jahre alt, als 1945 Bomben auf Halberstadt fallen; die Stadt, in der sie groß wird. Sie studiert erst Biologie in Halle, später Literatur in Leipzig und beginnt zu schreiben. Die Ehe mit Lyriker Rainer Kirsch geht 1968 nach acht Jahren in die Brüche. Sohn Moritz aus einer anderen kurzen Beziehung zieht sie alleine groß. Zunächst in Ost-Berlin. Dann in West-Berlin, wohin sie nach ihrem Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1977 ausreist. Neben der Arbeit als Schriftstellerin hält sie sich und ihren Sohn als Journalistin, Hörfunkmitarbeiterin und Übersetzerin über Wasser. 1983 zieht sie nach Tielenhemme, Schleswig Holstein und lebt dort bis zu ihrem Tod im Mai 2013.
    Aus dieser Abgeschiedenheit heraus schreibt Sarah Kirsch sich ins Herz der literarischen Welt. Sie gilt als eine der bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen der Gegenwart. Ihr umfangreiches Werk umfasst neben Gedichten auch Prosatexte. Gedichte wie "Der Droste würde ich gern Wasser reichen", werden zu Klassikern. Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki nannte sie der "Droste jüngere Schwester". Sarah Kirsch selbst sagt dazu:
    "Man hat immer mit denen, die vor einem gelebt haben, zu tun, aber das sind gar nicht mal nur Dichter oder große Wesen und Menschen. Sondern, ich habe es auch mit den ganz normalen tapsenden Schritten zu tun, die ich hier hören kann, wenn ich hier auf der Straße gehe und dann mache ich eine Kurve und dann klappert etwas hinter mir her. Ach, da denke ich, das könnten jetzt auch irgendwelche Kinder aus der Schule sein, in der ich jetzt wohne. So vermischt sich das alles."
    Man müsse ganz demütig und ganz einfach sein, sagt Sarah Kirsch in einem Interview mit der „Zeit". Es ist Demut vor der Natur und Einfachheit aus Tiefe, die Sarah Kirschs Dichtung so unvergleichlich macht. Kirsch öffnet das Sehen für Bilder, die "nichts Besonderes, nur unvergeßlich" sind; wie die norddeutsche Landschaft, der sie die letzten Jahrzehnte ihres Lebens ihre Gedichte und Prosa widmet. Nur Meistern wie Sarah Kirsch bleibt es vorbehalten, immer wieder dasselbe zu beschreiben, ohne je das Gleiche zu sagen.
    Sarah Kirsch: Ænglisch.
    Deutsche Verlagsanstalt 2015, 96 Seiten, Preis: 19,99 EUR