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Saransk
Die kleinste WM-Stadt im Vorbereitungsfieber

Mit etwa 300.000 Einwohnern ist Saransk die kleinste aller WM-Austragungsstädte. Für das FIFA-Turnier - das größte Ereignis in der Stadtgeschichte - hat sich in dem Ort viel getan: Neben einem neuen Stadion wurden ganze Stadtteile und Straßen neu gebaut. Viele Einwohner hofften eine Zeit lang auf das große Geld.

Von Thielko Grieß |
    Das Stadion von Saransk / Russland
    Das Stadion von Saransk / Russland (Deutschlandradio / Thielko Grieß)
    Auf diesem Flecken Erde hat Lidia Nikititschna Wolkowa früher ganz oft Sport gemacht. Inzwischen ist sie 86 Jahre alt, das Gehen fällt ihr etwas schwerer. Saransk, die Stadt, in der sie seit Jahrzehnten lebt, hat sich von Grund auf verändert.
    "Hier war mal ein Stadion. Ich wohne nicht weit von hier, bin früher um sechs Uhr morgens aufgestanden, habe mich angezogen und ab ins Stadion. Dann zurück, duschen und zur Arbeit."
    Am Ort des Stadions findet sich heutzutage ein weiter, zentraler Platz der Stadt, auf dem Fontänen in die windige Luft schießen. Arbeiter bauen ein Zelt auf, in dem Lidia Wolkowa nun bald am Info-Stand auf Fans und Gäste warten wird. Sie ist wohl in ganz Russland die älteste Freiwillige, die während des Turniers Fremden helfen will, sich zurechtzufinden.
    Lidia Nikititschna Wolkowa, wohl älteste Freiwillige WM-Helferin
    Lidia Nikititschna Wolkowa, wohl älteste Freiwillige WM-Helferin (Deutschlandradio / Thielko Grieß)
    Mannschaft von Panama hat Quartier in Saransk
    "Wo gibt es etwas zu essen, wo ist die Toilette, wo der Bus, wo kann man übernachten?" Dänen werden kommen, Portugiesen, Iraner. Im neuen Stadion, der Mordowia-Arena, finden vier Spiele statt. Und außerdem hat die Mannschaft von Panama ihr Quartier in Saransk aufgeschlagen, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Mordowien.
    Wolkowa hat nun versucht, sich ein wenig Englisch einzuprägen. Aber das war nicht leicht.
    "Ja, gelernt habe ich, aber ich weiß nicht. Ich habe ja Übersetzungen bei mir." Sie und andere Rentner heißen "Freiwillige im silbernen Lebensalter". In Lidia Wolkowas Gymnastikgruppe hat der Übungsleiter herumgefragt, wer während der WM helfen könne – und natürlich, erzählt sie, habe sie sofort zugesagt.
    "Was für eine Frage – natürlich ist das interessant, die Leidenschaft!"
    Vorfreude bei der 86-Jährigen – und Vorfreude bei einem Achtjährigen. In einem anderen Stadtteil übt Wowa nach dem Fußballtraining noch ein bisschen Torschüsse. Er spielt in der Jugendmannschaft des "Futbolnyj Klub Mordowia".
    Aufgeregt ist er, weil er die Stars an die Hand nehmen soll. "Ich führe die Spieler auf das Feld. Und wenn die Hymne vorbei ist, gehen wir runter vom Feld. In lockerem Lauf." Traumhaft wäre natürlich, wenn seine Hand ihn auf das Feld führen könnte: "Ronaldo aus Portugal."
    In jedem Fall will Wowa einmal: "Hochklassig spielen. Der FK Mordowia spielt in der kommenden Saison in der zweiten Liga Russlands."
    Gesichtsausdruck der Lenin-Statue passt auch zur FIFA WM
    Auf dem Gelände des Fan-Fests werden noch letzte Dinge gesägt und geschraubt. Zäune bekommen eine blaue Verkleidung, auf denen in der FIFA-offiziellen, kurvigen Schriftart "dobro doschalowat" oder "welcome" prangt, örtliche Tanzgruppen proben auf der Bühne, Pappelsamen fliegen einem in die Nase.
    Am Rande des Areals, das den Namen Sowjetischer Platz trägt, wacht auf hohem Sockel der eigentlich kleine und in Saransk bronzene Lenin mit seinem immerwährend gleichen Gesichtsausdruck, der zu allem passt: zur Oktoberrevolution, zum Aufmarsch der Komsomolsk-Jugend, oder heutzutage eben zum Theater des globalen Kapitalismus‘, der FIFA WM.
    In Lenins Rücken haben Arbeiter an einer Wand Porträts verdienter Saransker aufgehängt, darunter auch das Konterfei Wiktor Tschjogins. Der Mann ist des Dopings überführter Trainer im Gehen.
    In der Stadt Saransk ist ohnehin das meiste fußläufig gut zu erreichen. Mit etwa 300.000 Einwohnern ist sie die kleinste aller Austragungsstädte. Die WM ist das Größte in ihrer Geschichte. Luxushotels, in denen auch ein Ronaldo übernachten kann, gibt es erst seit Kurzem.
    Kurze Zeit träumten viele Einwohner vom großen Geld
    Weil an Spieltagen auch tausende Fans übernachten wollen, haben viele Ortsansässige eine kurze Zeit lang vom ganz großen Geld geträumt, erzählt Swetlana Tirmisi von der Immobilienagentur Nowosjolow: "Die ersten waren vielleicht die cleversten. Sie haben Anzeigen ins Netz gestellt und damit eine Welle ausgelöst. Alle sind plötzlich verrückt geworden, haben ihre Wohnungen für nicht weniger als 50.000 Rubel pro Nacht angeboten. Einige sogar für 100.000 und 300.000", mehr als 4.000 Euro.
    Sie weiß noch gut, wie sie gedacht hat: Das geht nicht lange so. Sie hat Recht behalten. Das WM-Vermietungsfieber ist längst gesunken, denn vor allem rund um das neue, rote Stadion wurde viel gebaut. Hunderte neuer Wohnungen sind entstanden, die nun während der WM an Fans vermietet werden, zu viel geringeren Raten. Und nach dem letzten Abpfiff, wenn absehbar nicht mehr so viele Gäste anreisen, sollen dort Privatleute einziehen.
    Die gebäude sind während der FIFA WM Hotels. Danach werden sie verkauft und zu Wohnungen
    Die Gebäude sind während der FIFA WM Hotels. Danach werden sie verkauft und zu Wohnungen (Deutschlandradio / Thielko Grieß)
    Fassaden wurden auf Kosten der Stadtverwaltung neu gestrichen
    Mit neuen Stadtteilen und neuen Straßen hat Saransk sein Gesicht verändert. Aber doch bleibt Vieles wie gehabt: Im Schnitt liegen die Gehälter weiter bei kaum mehr als 300 Euro monatlich. Und uralte, matte Holzhäuser säumen in oft gebückter Haltung die Wege, manche von ihnen vom langen Stehen ein wenig schief. Doch an einer breiten Hauptstraße fällt ins Auge, in welch frischer Farbe ihre Balken leuchten. Wohl kein Wunder, führt doch die Trasse zum Quartier der Mannschaft von Panama.
    Ein alter Mann kommt den Fußweg herauf: "Die Stadtverwaltung, der Bürgermeister, kümmern sich darum, damit alles gleichmäßig aussieht. Alles wurde organisiert und kostenlos gestrichen. In Hellblau, wie der Himmel. Und in Grün."
    Wer sich die Rückseiten der Häuser anschaut, erkennt: Dort, wohin sich wohl kein Fußballer aus Panama je verirren wird, ist kein einziger Farbpinsel geschwungen worden. Aber was sind schon Fassaden. "Erfreuen Sie sich an unserer Stadt. Das Volk Mordowiens hat ein gutes Herz. Davon können Sie sich überzeugen!"
    Saransk vor der FIFA WM: Einige Häuser wurdenauf Kosten der Stadt frisch gestrichen - etwa dieses an der Hauptstraße zum Quartier von Panama
    Einige Häuser wurden auf Kosten der Stadt frisch gestrichen - etwa dieses an der Hauptstraße zum Quartier von Panama (Deutschlandradio / Thielko Grieß)