Donnerstag, 25. April 2024

Schottland
Neues Unabhängigkeitsreferendum im Jahr 2023?

Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon möchte ein zweites Unabhängigkeitsreferendum auf den Weg bringen. Aber das geht nicht ohne Zustimmung der britischen Regierung, wie der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs jetzt entschied.

23.11.2022
    Die schottische Ministerpräsidentin will ein zweites Unabhängigkeitsreferendum abhalten lassen
    Die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon will ein zweites Unabhängigkeitsreferendum abhalten lassen (picture alliance / empics / Jane Barlow)
    Schon 2014 hat es ein Unabhängigkeitsreferendum in Schottland gegeben. Nach dem Abschied Großbritanniens aus der EU sind die Diskussionen darum erneut entfacht. Auch der Tod der britischen Königin Elisabeth II. verleiht der Unabhängigkeitsdebatte neuen Auftrieb. Bei den letzten Parlamentswahlen verfehlte die Pro-Unabhängigkeitspartei SNP knapp die Mehrheit. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon und ihre schottische Nationalpartei (SNP) sowie ihr Koalitionspartner, Schottlands Grüne, befürworten ein zweites Unabhängigkeitsreferendum.
    Am 28. Juni 2022 kündigte Nicola Sturgeon ein Gesetz an, mit dem ein neues Referendum auf den Weg gebracht werden kann. Das geht im Grunde nur mit dem Einverständnis Londons - was die Regierung in London bisher ausgeschlossen hat. Um herauszufinden, ob ein zweites Referendum auch ohne Londons Zustimmung legal wäre, hat Sturgeon den Obersten Gerichtshof des Vereinigten Königreichs eingeschaltet. Die Anhörung dort fand am 11. und 12. Oktober statt.
    Am 23. November entschied der Supreme Court of the United Kingdom, dass eine solche Volksabstimmung nicht ohne Einverständnis der britischen Regierung abgehalten werden darf. "Das schottische Regionalparlament hat nicht die Befugnis, Gesetze für ein Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands zu erlassen", erklärte der Präsident des Obersten Gerichtshofes des Vereinigten Königreiches, Robert Reed, in London.
    Eingang zum Supreme Court in London
    Eingang zum Supreme Court in London (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Alberto Pezzali)
    Aufgeben werden Sturgeon und die SNP nach dem höchstrichterlichen Urteil sicherlich nicht. So schrieb die Regierungschefin unmittelbar nach dem Richterspruch auf Twitter: "Ein Gesetz, das es Schottland nicht erlaubt, seine eigene Zukunft ohne Billigung von Westminster zu bestimmen, entlarvt jede Vorstellung, dass das Vereinigte Königreich eine freiwillige Partnerschaft ist, als Mythos und liefert Argumente für die Unabhängigkeit." Sturgeon hatte bereits vor dem Urteil angekündigt, dass eine Niederlage vor Gericht bedeuten würde, dass ihre Partei bei der nächsten Parlamentswahl in Großbritannien die Unabhängigkeit zum wichtigsten Thema machen werde. Das Referendum sollte nach den Vorstellungen von Sturgeon am 19. Oktober 2023 stattfinden.

    Welche Gründe sprechen für einen Scexit, welche dagegen?

    Dafür spricht vor allem der Brexit. Die Mehrheit der Schotten wollte in der EU bleiben und hat auch so abgestimmt, schon 2016 beim Brexit-Referendum. Auch jetzt wollen viele wieder zurück in die Europäische Union. Die meisten Schotten mochten Boris Johnson und seine Tory-Regierung nicht. Die Schotten haben seit Jahrzehnten nicht konservativ gewählt und fühlen sich fremdbestimmt. Die Konservativen stellen seit 2010 den Premierminister in Großbritannien. Äußerungen von Liz Truss, der zwischenzeitlichen britischen Kurzzeit-Premierministerin, während ihres parteiinternen Wahlkampfes über Nicola Sturgeon hatten zuletzt für Empörung in Schottland gesorgt.
    Der britische Schottland-Minister in London steht auf dem Standpunkt: Wenn 60 Prozent der Schotten über einen hinreichend langen Zeitraum – den er nicht definiert hat – für ein zweites Referendum sind, dann sollte es dieses zweite Referendum geben. Doch von diesen 60 Prozent sind die Schotten gerade sehr weit entfernt. Das deutet darauf hin, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass es dieses zweite Referendum aus Londons Sicht geben kann.
    Allerdings hat der Tod von Königin Elisabeth II. am 8. September den Unabhängigkeitsbestrebungen wieder Auftrieb verliehen. Sie galt vielen als Garant der Union zwischen England und Schottland. Politische Kommentatoren trauen dem neuen König Charles III. eine solche Fähigkeit nicht zu. Doch selbst zwischen Unabhängigkeitsbefürwortern gehen die Meinungen darüber auseinander, welche Staatsform Schottland im Falle seiner Unabhängigkeit annehmen solle - Teil der Monarchie bleiben, wie Kanada oder Australien, oder aber Republik werden mit einem weltlichen Staatsoberhaupt.
    Geleit für den Sarg der verstorbenen Königin Elisabeth II. durch die schottische Hauptstadt Edinburgh am 12. September 2022
    Geleit für den Sarg der verstorbenen Königin Elisabeth II. durch die schottische Hauptstadt Edinburgh am 12. September 2022 (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Lesley Martin)
    Gegen einen Scexit spricht, dass man in Krisen besser nicht allein ist, zum Beispiel in der Coronakrise. Viele Schotten waren während der Pandemie doch sehr froh, Teil des Königreichs zu sein - vor allem wegen des am Anfang sehr viel erfolgreicheren britischen Impfprogramms. Wenn die den Schotten sympathischere Labour-Partei wieder übernehmen würde, würde das einerseits nichts an der Brexit-Entscheidung ändern. Es könnte aber zu einem pragmatischeren Umgang mit Schottland führen. Mehr Eigenständigkeit könnte dazu führen, dass die Lust vieler Schotten auf die Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich abnimmt.

    Welche Möglichkeiten hat Schottland?

    Schottland gehört freiwillig zum Vereinigten Königreich. Diese Union funktioniert aber nur bei Konsens, das heißt, sie basiert auf der beiderseitigen Zustimmung zu ihr. Die schottische Regierung sagt aber, das sei in Schottland so nicht mehr gegeben: Bei der Wahl im Mai 2021 haben knapp 49 Prozent für die Unabhängigkeitsparteien gestimmt, also für die schottische Nationalpartei und die Grünen. Das sei ein klares Signal für den breiten Wunsch der Schotten nach Unabhängigkeit und deshalb sei es undemokratisch, wenn London ein zweites Referendum verbietet. Ein zweites Referendum ist aber nur mit der Zustimmung Londons rechtlich möglich.
    Schottische Unabhängigkeit ist seit Jahren ein Streitthema der britischen Politik (EPA)
    Wie sein Vor-Vorgänger Boris Johnson lehnt auch der neue britische Premierminister Rishi Sunak ein zweites Referendum bislang ab. Er begrüßte die "klare and definitive" Entscheidung des Supreme Court. Johnson hatte nach seiner Wahl 2021 argumentiert, dass das Referendum vom 18. September 2014 als Generationen-Abstimmung galt. Damals haben sich 55,3 Prozent der befragten Schotten gegen die Abspaltung vom Vereinigten Königreich und damit gegen eine Unabhängigkeit Schottlands von England, Wales und Nordirland ausgesprochen - und dies bei einer hohen Wahlbeteiligung von fast 85 Prozent.
    Der britische Premierminister Rishi Sunak
    Der britische Premierminister Rishi Sunak (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Leon Neal)

    Wäre Schottland eigenständig wirtschaftlich überlebensfähig?

    Das ist wahrscheinlich die wichtigste Frage für Schottland. Denn Schottlands Unabhängigkeit wird es nicht zum Nulltarif geben. 60 Prozent der schottischen Exporte gehen in den Rest Großbritanniens. Wirtschaftsexperten der renommierten London School of Economics haben berechnet, dass der Scexit für die Schotten beim Handel dreimal teurer wäre als der Brexit.
    Das Land stand finanziell lange nicht gut da: Schottland hatte ein massives Staatsdefizit von über 22 Prozent. Vor allem aufgrund der gestiegenen Öl- und Gaspreise hat sich das Defizit aber in 2021/2022 laut dem Institute for Fiscal Studies (IFS) in London um rund zehn Prozentpunkte auf 12,3 Prozent verringert.
    Auch das Vereinigte Königreich insgesamt verringerte demnach sein Defizit, wenn auch nur um rund acht Prozentpunkte, von 14,5 auf 6 Prozent. Schottland hat aber besonders hohe öffentliche Ausgaben und erhält Subventionen aus London. Im Jahr 2020 waren das 36 Milliarden Pfund, die dann wegfielen. Außerdem bräuchte Schottland eine eigene Währung, jedenfalls dann, wenn es wirklich unabhängig werden möchte. Man kann davon ausgehen, dass London keine Währungsunion eingehen würde. In diesem Fall wäre es insgesamt viel schwieriger und teurer für Schottland Geld zu leihen. All das sind ungelöste Probleme.
    Das schottische Bruttoinlandsprodukt pro Kopf sei etwas niedriger als das Großbritanniens insgesamt, sagte der BBC-Journalist Andreas Wolff im Deutschlandfunk. Kalkuliere man allerdings die schottischen Öl- und Gasvorkommen in der Nordsee mit ein, läge es insgesamt in etwa gleich auf mit dem des Vereinigten Königsreichs, sagte er im Deutschlandfunk am 28.06.2022.
    Eine Erdölraffinerie in Grangemouth in Schottland.
    Erdölraffinerie in Grangemouth in Schottland (imago / blickwinkel)
    Die Unabhängkeitsbefürworterin Philippa Whitford (SNP) sagte im Deutschlandfunk, man wolle die Kontrolle über die schottischen Rohstoffvorkommen wiedererlangen. Schottland produziere zwei Drittel des benötigten Gases für Großbritannien und ein Viertel der grünen Energie. Aufgrund der Energiekrise bestehe aber laut einer Studie die Gefahr, dass mehr als 70 Prozent der Schotten im kommenden Jahr energiearm sein werden.

    Wie wahrscheinlich ist ein zweites Referendum?

    Schottlands Regierungschefin Nikola Sturgeon hat wie erwähnt ein Referendum für den 19. Oktober 2023 versprochen. Zurzeit wäre es auch der schottischen Regierung noch zu früh für ein neues Referendum. Denn dafür bräuchten die Unabhängigkeitsbefürworter in den Umfragen eine stabile und deutliche Mehrheit. Sonst geht das zweite Referendum so aus wie 2014. Im Dezember 2020 waren laut einer Umfrage noch 58 Prozent der Schotten für die Unabhängigkeit. Ein Jahr später waren es nur noch 44 Prozent. 47 Prozent waren dagegen - also mehr als dafür - neun Prozent hingegen unentschieden.
    Ein Grund für die Zahlen aus dem Dezember war die Pandemie. Da fühlten sich viele Schotten wegen Corona zunächst besser aufgehoben bei Nicola Sturgeon als bei Boris Johnson. Viele fanden die schottische Ministerpräsidentin seriöser als den britischen Premierminister. Doch das erfolgreiche Impfprogramm war ein wichtiger Grund für viele Schotten, doch noch einmal zu überlegen, ob sie sich wirklich unabhängig machen wollen und dann und bei ähnlichen Krisen alleine dazustehen. Zudem: Die Pandemie, der Brexit, die Diskussionen um die Unabhängigkeit - viele Menschen sind aktuell erschöpft von diesen politischen Aufwallungen und Umbrüchen.

    Wie reagiert die EU auf eine mögliche Rückkehr Schottlands?

    Die EU hätte die europafreundlichen Schotten gern zurück. Es wäre auch politisch ein Erfolg für die Europäische Union, wenn ein Teil von Großbritannien zurückkäme. Doch es ist kompliziert. Denn die Schotten müssten komplett von vorne anfangen. Sie müssten zuerst einmal einen Mitgliedsantrag stellen und dann alle wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Anforderungen erfüllen. Das hohe schottische Defizit ist für die EU allerdings ein No-Go.
    Zudem würde Schottland in der EU bedeuten, dass die Europäer eine Landes-Außengrenze zu Großbritannien hätten. Das ist extrem kompliziert, wie man am Beispiel Nordirland sehen kann. Die EU würde sich damit ein sehr schweres politisches Problem einhandeln. Schottlands Unabhängigkeit müsste wasserdicht sein. Viele in der EU hätten sicherlich Bedenken, sich ein zweites Katalonien einzuhandeln. Alle EU-Staaten müssten der Aufnahme Schottlands einstimmig zustimmen - auch Spanien zum Beispiel.

    Eine Hürde: die Währung

    Eine weitere Hürde ist die Währung. Die EU ist nicht daran interessiert, jemanden mit einer eigenen Währung aufzunehmen, sondern will, dass das neue Mitglied den Euro einführt. Schottland hat sich diesbezüglich aber noch nicht festgelegt. 
    Katarina Barley (SPD), Vizepräsidentin des Europaparlaments, sagte im Dlf, Schottland könne bei einer Rückkehr keine Sonderrolle zukommen, nur weil Schottland als Teil von Großbritannien schon einmal Mitglied der EU war. Allerdings könnten manche Voraussetzungen deswegen aber schneller erfüllt werden, sagte die SPD-Politikerin. Fakt ist für Barley: Je länger es dauert, desto komplizierter wird eine mögliche Rückkehr.

    Welche Auswirkungen hätte der Scexit für das Vereinigte Königreich?

    Wenn die Schotten gehen, wäre das ein tiefer Einschnitt. Man könnte mutmaßen, dass das der Anfang vom Ende Großbritanniens sein könnte. Denn nicht nur die Schotten sind nicht glücklich im Königreich - auch viele Nordiren freunden sich zunehmend mit der Idee an zu gehen. Die Tories, die Konservativen, würden Schotten und den Nordiren keine Träne hinterherweinen. Vielen Tories ist es völlig recht, wenn diese "teuren" Störenfriede gehen. Am Ende könnten dann die Engländer tatsächlich allein dastehen. Das sind aber mögliche Entwicklungen in sehr langen Zeiträumen. Von heute auf morgen ändert sich bestimmt nichts im Vereinigten Königreich.
    Quellen: Christine Heuer, Statista, Reuters, og, tih, tei