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Schabowskis Zettel
Startschuss für den Mauerfall

Der Zettel, den Günter Schabowski auf seiner Pressekonferenz am 9. November 1989 dabei hatte, galt als verschollen. Damals, als er verkündete, dass DDR-Bürger künftig in den Westen reisen dürften. Schabowski hatte den Zettel einem Bekannten gegeben. Der hat sich jetzt anonym gemeldet und das Original für 25.000 Euro an das Haus der Geschichte in Bonn verkauft.

Von Henning Hübert | 16.04.2015
    Ein Besucher verfolgt in der Gedenkstätte Deutsche Teilung in Marienborn (Sachsen-Anhalt) die Fernsehaufzeichnung der Pressekonferenz vom 09. November 1989.
    Ein Besucher verfolgt in der Gedenkstätte Deutsche Teilung in Marienborn (Sachsen-Anhalt) die Fernsehaufzeichnung der Pressekonferenz vom 09. November 1989 (dpa / Jens Wolf)
    Liniertes Papier, krakelige Handschrift mit schwarzem Kuli, dazu zwei spitze rote Pfeile. Auf dem Zettel, mit dem Günter Schabowski in die Pressekonferenz in Ostberlin am 9. November 89 ging, kündigt sich der wohl wichtigste Moment der Wende an.
    Dort steht: "Zeit! Kurz vor Schluss: Verlesen Text Reiseregelung". Auch wenn die PK chaotisch verlief - diese Stichworte auf dem Originalblatt lesen sich als präzise geplante Regieanweisung an sich selbst. In der Mitte des Zettels hat der frisch ernannte Sekretär des ZK der SED für Informationswesen, also quasi der DDR-Regierungssprecher, sich noch die neue Regel in Großbuchstaben eingebläut: Frage - ANTWORT. Es war die erste DDR-Pressekonferenz, die nach diesem bis dahin ungewohnten Schema ablaufen sollte:
    "Äh haben wir uns dazu entschlossen, heute äh eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, äh über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen. Ministerrat hat beschlossen, dass bis zum Inkrafttreten einer entsprechenden gesetzlichen Regelung durch die Volkskammer diese Übergangsregelung in Kraft gesetzt wird. – Gilt das auch für Berlin-West? Doch, doch. Ständige Ausreise. Alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise Berlin-West erfolgen."
    Regieanweisung an sich selbst
    Also auch die Mauer soll über Nacht durchlässig werden, schloss zuspitzend daraus die Tagesschau. Unbedingt wollte Schabowski die neue Reiseregelung des DDR-Ministerrats in den Abendsendungen verkündet gesehen haben - "PK nicht länger als 19 Uhr" schrieb er in die obere rechte Ecke des Zettels.
    Das weiter folgende Gestotter des DDR-Regierungssprechers führte fast unverzüglich zur Öffnung erster Grenzübergänge nach Westberlin noch am späten Abend des 9. November, und zwar nicht nur für Ausreisewillige, sondern für alle - es ist inzwischen Weltdokumentenerbe der UNESCO:
    "Also Genossen, mir ist det hier also mitgeteilt worden, dass eine solche Mitteilung heute schon verbreitet worden ist. Sie müsste eigentlich in Ihrem Besitz sein. Das tritt - nach meiner Kenntnis - ist das sofort, unverzüglich."
    Harte Verhandlungen
    Schabowskis Sprechzettel war lange verschwunden, seit er ihn 1991 an einen Bekannten gegeben hatte. Jetzt zahlte die Stiftung des Hauses der Geschichte dem Verkäufer viel Geld für das Original-Papier, von dem bislang lediglich eine Fotokopie vorlag. Der Verkäufer will anonym bleiben. Er soll ebenfalls zum privaten Umfeld des schwer erkrankten Schabowski gehören. Dem Verkauf vorausgegangen waren jahrelange Verhandlungen, die die wissenschaftliche Mitarbeiterin des Bonner Hauses der Geschichte, Tuya Roth, geführt hat:
    "Wir mussten natürlich hart verhandeln, insofern, weil es klar war, dass wir es sehr gerne haben möchten. Einfach auch um es zu sichern. Wir wollten verhindern, dass es auf den internationalen Auktionsmarkt kommt. Wir wollten es eben für ein Museum sichern. Wir haben 25.000 Euro dafür bezahlt – ein sicher angemessener Preis. Inhalt der Verhandlungen war natürlich die Frage: Ist es echt? Das mussten wir wasserdicht überprüfen. Das hat aber auch hervorragend mit dem Verkäufer funktioniert."
    Zettel zum "Schnäppchenpreis"
    Der Kaufpreis wurde aus Steuermitteln finanziert. Bei einer Auktion hätten private Devotionaliensammler wohl mindestens das Vierfache bezahlt, schätzt der Stiftungspräsident.
    Seit heute hat der Zettel in Bonn eine eigene Vitrine. Nur zehn Schritte entfernt von der Elfmeterliste des Ex-Fußball-Nationaltorwarts Jens Lehmann aus dem WM-Viertelfinale 2006 gegen Argentinien - die vor neun Jahren für eine Million Euro versteigert wurde und danach vom Ersteigerer, dem Energiekonzern EnBW, dem Haus der Geschichte überlassen wurde. Da erscheint die Investition von 25.000 Euro fast als Schnäppchen:
    "Es ist mit das wichtigste Dokument der neueren deutschen Geschichte. Das Ende der DDR, die friedliche Revolution, so wie wir sie heute kennen, wär sicherlich anders verlaufen, wenn sich die Mauer an dem Tag nicht geöffnet hätte."
    Der gesicherte Original-Zettel macht klar: Günter Schabowskis Verkündung der Reiseregelung direkt über DDR-Grenzstationen war geplant. Auch wenn alles so holprig rüber kam - der Zettel ist der Startschuss für den Mauerfall - ohne lange Anträge, sondern durch offene Schlagbäume. Auch Dank der damals für den Osten neuen Regel: Reporter fragen - Regierung antwortet.