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Schäuble fordert klarere Entscheidungsstrukturen für Europa

15.06.2001
    Kapérn: Gestern trafen sich die Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten mit US-Präsident George Bush zum Abendessen in Göteborg – Gelegenheit, den europäischen Schulterschluss zu demonstrieren, zum Beispiel in Sachen Klimaschutz, wo die USA mit der neuen Administration nicht mehr so mitmachen wollen wie der Rest der Welt. Heute bleiben die Europäer unter sich. Es ist Zeit, die Ergebnisse der schwedischen Ratspräsidentschaft zu diskutieren.

    Deutliche Fortschritte auf dem Weg zur Erweiterung wollten die Schweden erzielen, doch schon vor dem Gipfel ist klar, dass die Beitragskandidaten wieder nicht erfahren werden, ab wann sie denn dabei sein dürfen. Kann da von Fortschritt überhaupt noch die Rede sein? Das habe ich vor der Sendung den ehemaligen CDU-Vorsitzenden Wolfgang Schäuble gefragt.

    Schäuble: Es ist wahr, die Verhandlungen oder die Auseinandersetzungen innerhalb der EU in den letzten Monaten waren nicht gerade ein besonderes Ruhmesblatt. Man ist ja schon erfreut, dass jetzt der Zusammenhang zwischen der Regionalförderung für Spanien und den Beitrittsverhandlungen wieder aufgelöst worden ist. Also, man ist manchmal schon mit der Rücknahme von Rückschritten zufrieden. Aber das Ganze zeigt, wie zäh dieser Prozess ist.

    Kapérn: Und warum?

    Schäuble: Ja, vermutlich, weil man in Nizza – vor und in Nizza – nicht wirklich die Reformen auf den Weg gebracht hat, die auf den Weg gebracht werden müssen. Dafür ist ja auch der Ausgang der Referendums zum Nizzavertrag in Irland ein Ausdruck. Die Menschen begreifen nicht mehr, was eigentlich in Europa passiert, wer was entscheidet und wie die Dinge zusammenhängen, und sie fühlen sich durch dieses Durcheinander und diese mangelnde Effizienz immer weniger angesprochen. Und deswegen ist die Wahlbeteiligung gering und die Europamüdigkeit weg. Insofern muss man das Ergebnis des irischen Referendums ernst nehmen. Ich glaube nicht, dass sich dahinter eine grundsätzliche Haltungsänderung der Mehrheit der Iren zu Europa – die immer sehr europafreundlich waren – verbirgt, sondern ich vermute, es ist Ausdruck einer Unzufriedenheit mit der Ineffizienz der Arbeit im Europäischen Rat.

    Kapérn: Stellt denn das Votum der Iren den Zeitplan für die Erweiterung in Frage?

    Schäuble: Das hoffe ich nicht. Ich hoffe, dass es gelingt, rechtzeitig durch verstärkte Aufklärung in Irland eine Korrektur dieser Entscheidung zu erbringen. Insofern halte ich es auch für richtig, dass man gesagt hat, man will den Zeitplan nicht verändern. Man muss ja aufpassen, dass man Prozesse, wie man jetzt in Irland feststellt, nicht demnächst auch noch bei den Beitrittsländern zusätzlich befördert. Wir müssen schon uns in allen Ländern, auch bei uns im eigenen Land, darum mühen, durch eine Politik, die eben entsprechend klar und auch nachvollziehbar und demokratisch legitimiert ist, die Menschen weiterhin überzeugt zu halten, dass dieser Prozess der europäischen Einigung das beste für unser aller Zukunft ist.

    Kapérn: Bleiben wir noch ein wenig, Herr Schäuble, bei dem Referendum von Irland. Man hat der Europäischen Union ja schon häufig ein Legitimationsdefizit oder Demokratiedefizit nachgesagt. Nun haben die Iren also, wie man es von ihnen ja verlangt hat, entschieden, und die Antwort ist nicht so ausgefallen, wie man das in Brüssel hören wollte. Und die Reaktion lautet nun: Das Vertragspaket von Nizza wird nicht wieder aufgeschnürt; Augen zu und durch. Irgendwann dürfen die Iren nochmal abstimmen. Kann man so dem Vorwurf des Demokratiedefizits begegnen?

    Schäuble: Nun ja, man muss sehen: Es sind 15 Mitgliedsländer, und es kann ja auch nicht so sein, dass eine Minderheit der irischen Wähler – die Wahlbeteiligung war ja beklagenswert niedrig – dann eine Entscheidung trifft, die alle bindet . . .

    Kapérn: . . . aber so sind die Spielregeln eigentlich doch in der Demokratie.

    Schäuble: Ja, die Spielregeln in der Demokratie sind natürlich nicht so, dass Minderheiten alleine entscheiden.

    Kapérn: Aber es entscheiden die, die zur Urne gehen.

    Schäuble: Ja, in Irland. Für Irland ist die Entscheidung natürlich verbindlich, aber für Deutschland, Frankreich ist sie nicht so ohne weiteres verbindlich. Deswegen muss man ja darüber reden. Natürlich kommt der Nizzavertrag nur zustande, wenn alle Mitgliedsstaaten ihn ratifizieren. Das irische Volk hat jetzt entschieden, ihn nicht zu ratifizieren. Wenn es bei dieser irischen Entscheidung bleibt, würde dieser nicht zustande kommen. Deswegen muss man natürlich versuchen und alles daransetzen, doch noch eine Zustimmung auch Irlands zu dem Vertrag zu bekommen. Wir in Deutschland haben übrigens die Ratifizierungsentscheidung auch noch nicht getroffen. Wir machen sie nicht in einer Volksabstimmung, sondern durch Bundestag und Bundesrat. Ich bin auch ganz sicher, dass wir in Deutschland die notwendigen Mehrheiten dafür haben. Aber es hilft nichts: Eine solche Entscheidung wie in Irland, auf die kann man dann entweder so reagieren, wie es damals in Dänemark der Fall gewesen ist, dass man dann eben sagt: ‚Dann entscheiden sich die Dänen, einen bestimmten Schritt der Integration nicht mitzugehen‘, oder man muss versuchen, die Mehrheit zu überzeugen. Bisher jedenfalls, und das zeigt das Referendum in Irland, klagen die Menschen - und ich vermute, nicht nur in Irland - darüber, dass man nicht mehr erkennen kann, wer eigentlich für was in Europa verantwortlich ist. Und deswegen sagen wir ja - die Christlichen Demokraten - seit langem, daran arbeiten wir, konkrete Vorschläge zu machen: Wir müssen klarer unterscheiden, wer in Europa was entscheidet, wer für was verantwortlich ist. Das ist die Voraussetzung für demokratische Legitimation.

    Kapérn: Wie kommt man dahin, wie startet man so einen Prozess, und was müsste am Ende stehen, damit das wieder alles klar erkennbar wird?

    Schäuble: Wir müssen in einem Verfassungsvertrag - das ist eine Forderung, die die Union schon 1999 im Europawahlkampf erhoben hat und der sich jetzt auch die Bundesregierung angeschlossen hat, insofern haben wir erfreulicherweise in dieser Grundfrage in Deutschland eine Übereinstimmung zwischen den großen politischen Lagern – in einem Verfassungsvertrag klären: Was soll in Zukunft durch die Europäische Union entschieden werden? Der gemeinsame Markt - die gemeinsame Währung - erfordert insoweit europäische Zuständigkeiten, um ein Beispiel zu sagen. Aber genau so muss geklärt werden, was in Zukunft auch Sache der Mitgliedsstaaten bleibt, denn es darf ja nicht so sein, dass quasi die Nationalstaaten in Europa sich auflösen. Das wäre völlig unrealistisch, niemand will das, und dafür wird es niemals eine Mehrheit in den allermeisten Mitgliedsstaaten geben. Also muss man genau diese Frage - das nennt man die Kompetenzfrage - präzise beantworten. Das ist nicht leicht, aber es ist auch möglich. Dazu muss man Vorschläge machen; wir haben Vorschläge vorgelegt.

    Außen- und Sicherheitspolitik beispielsweise muss Europa möglichst gemeinsam machen, gemeinsamer Markt, gemeinsame Währung muss europäisch gemacht werden. Aber zum Beispiel alles, was mit der gewachsenen Kultur und Zivilisation zu tun hat, was ja in den einzelnen europäischen Ländern ganz unterschiedlich ist, das muss in der Zuständigkeit der Nationalstaaten bleiben, also Schule, Erziehung, Familie, ich glaube auch, soziale Sicherung, denn das hängt mit Familie zusammen. Alles, was mit Zivilgesellschaft, mit ehrenamtlicher und gemeinnütziger Tätigkeit zu tun haben, das ist alles in den europäischen Ländern sehr unterschiedlich über Jahrhunderte alte unterschiedliche Traditionen. Das sollte nicht europäisch geregelt werden, sondern in der ausschließlichen Zuständigkeit der Nationalstaaten, der Mitgliedsstaaten bleiben.

    Kapérn: Nun ist ja, Herr Schäuble, in Nizza beschlossen worden, dass diese Fragen bis 2004 geklärt werden sollen. Nun stellen wir aber fest – wenn wir uns anschauen, wie dieser Diskussionsprozess beginnt –, dass nicht einmal Einigkeit innerhalb der Europäischen Union darüber erzielt werden kann, wie denn diese Diskussion bis 2004 geführt werden soll – von Beamten in Hinterstübchen, wie gehabt, oder von politisch legitimierten Volksvertretern auf offener Bühne quasi.

    Schäuble: Ich glaube, wir brauchen zu allererst eine breitere öffentliche Debatte, wo – wer immer mag – Vorschläge machen muss, wie nach seinen Vorstellungen das aussehen soll. Daran arbeiten wir – CDU/CSU –, auch in Zusammenarbeit mit unseren Schwesterparteien innerhalb der europäischen Volkspartei. Das müssen die anderen politischen Gruppierungen auch tun. Dann müssen wir erst eine öffentliche Debatte haben, und dann brauchen wir natürlich einen Konvent, in dem die Vertreter der nationalen Parlamente, des Europäischen Parlaments, von mir aus auch die Regierungen, vielleicht auch andere in einem öffentlichen Diskussionsprozess versuchen, eine gemeinsame Lösung zu erarbeiten. Und dann irgendwann werden natürlich auch die nationalen Regierungen der Mitgliedsstaaten ihre Verantwortung wahrnehmen. Aber alleine können die das nicht schaffen, das hat übrigens Nizza gezeigt. In der jetzigen Lage sind sie gar nicht imstande, sich zu einigen auf zukunftsweisende Lösungen.

    Kapérn: Herr Schäuble, noch ein kurzer Blick auf ein anderes Thema. Morgen wird aller Voraussicht nach der Regierende Bürgermeister von Berlin, Eberhard Diepgen, im Abgeordnetenhaus abgewählt. Eine Zäsur für die Stadt?

    Schäuble: Ja, ich glaube, das ist schon eine Zäsur. Wir haben am Sonntag den 17. Juni; da war einmal am 17. Juni 1953 ein Aufstand gegen die kommunistische Diktatur. Dass nun zum selben Tag sich einmal 50 Jahre später die Sozialdemokraten – übrigens in einem klaren Wortbruch, denn sie haben vor und nach der Wahl zum letzten Abgeordnetenhaus gesagt, dass sie unter gar keinen Umständen Regierungsverantwortung mit der PDS teilen wollen und zusammenarbeiten wollen –, dass sie sich jetzt nicht mehr daran halten, ist schon ein schwerer Einschnitt für die Stadt. Im übrigen ist das natürlich eine Frage: Kann ein rot-rotes Bündnis der Stadt die notwendige Zukunftsfähigkeit verleihen? Die sind sich ja nur in der Negation einig und es wird nicht gesehen: Berlin braucht, um seine Aufgabe nach 50 Jahren Teilung nun deutsche Hauptstadt zu sein und dies kräftig wahrnehmen zu können, natürlich nach vorne gerichtete Politik und nicht eine rückwärts gerichtete Politik der Spaltung.

    Kapérn: Kann Wolfgang Schäuble der Berliner CDU als Spitzenkandidat Zukunftsfähigkeit verleihen?

    Schäuble: Ach, wissen Sie, es geht in der Politik immer Schritt für Schritt. Im übrigen ist das eine Berliner Debatte. Ich bin baden-württembergischer Bundestagsabgeordneter und vor allen Dingen für Europafragen zuständig. Und in diesem Zusammenhang führen wir unser Gespräch.

    Kapérn: Wolfgang Schäuble, der ehemalige Vorsitzende der CDU, heute Morgen im Deutschlandfunk. Das Gespräch haben wir vor der Sendung aufgezeichnet.

    Link: Interview mit Benita Ferrero-Waldner

    Link: Interview als RealAudio