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Schamanismus in Südkorea
Hexerei trifft Hightech

Der Leistungsdruck in Südkorea ist enorm - eine Folge der rasanten Modernisierung. Die Bedeutung traditioneller Religionen schwindet, aber uralte schamanische Rituale sind beliebt. Sie gelten als Gegenprogramm zum alltäglichen Stress.

Von Margarete Blümel | 27.11.2019
Eine südkoreanische Schamanin nimmt die Rolle eines Mediums zwischen den Lebenden und der Geisterwelt ein.
Eine südkoreanische Schamanin (imago / Michael Macinty)
"Was die Religion angeht, ist unsere südkoreanische Gesellschaft pluralistisch. Nehmen Sie mich: Ich bin Katholikin. Wenn ich Zukunftssorgen habe, wende ich mich ganz selbstverständlich an einen schamanistischen Wahrsager. Diese Schamaninnen oder Schamanen sind in Korea heutzutage zugleich Berater und Wegbegleiterinnen, besonders, wenn es um psychologische Anliegen geht."
Seong Nae Kim ist Professorin für Religiöse Studien an der Sogang University, einer römisch-katholischen Privatuniversität in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul. Ihr hauptsächliches Forschungsgebiet ist die Religionsanthropologie. Schamanen sind grundsätzlich Ritual-Gestalter, sagt Seon Nae Kim. Sie inszenieren religiöse Zeremonien, im Zuge derer sie Himmelsgötter, die Urahnen, Gottheiten des Wassers oder des Hauses anrufen und um Hilfe bitten.
Persönlichkeiten mit geistlicher Macht
"Ich bin einigen Schamanen und Schamaninnen begegnet, die nicht rechnen und weder lesen noch schreiben können. Und doch sind sie hoch qualifiziert. Sie wissen genauestens über ihre Religion Bescheid, haben die verschiedenen Rituale bis ins kleinste Detail memorisiert und verfügen über besondere Techniken, die ihnen den Kontakt zu den spirituellen Wesen erleichtern. Am Ende versuchen diese Ritualexperten dann stets, zwischen den beiden Parteien zu vermitteln, um die irdischen Probleme der Gläubigen zu lösen."
Jongsung Yang ist Anthropologie-Professor, er leitet in Seoul ein Schamanismus-Museum. "Einige unserer Schamaninnen und Schamanen sind von der Regierung als "Verkörperungen des koreanischen Kulturerbes" ausgezeichnet worden – eine hohe Ehre, die auf einer sehr alten Tradition basiert. Als Koreaner pflegen wir eine tiefe Verbindung zu spiritueller Kraft und damit auch zu Persönlichkeiten, denen geistige Macht innewohnt", sagt er.
Seelische Erkrankungen sind schambehaftet
Welche Möglichkeiten der Schamanismus Menschen mit seelischen Erkrankungen bietet, erläutert David A. Mason von der Sejong-University in Seoul. Wer in Korea psychische Probleme hat, würde niemandem davon erzählen:
"Solche Dinge sind in Korea schambehaftet. Wer davon betroffen ist, gilt als Versager, verliert den Job, wird an der Uni gemobbt oder bestenfalls einfach ignoriert. Im Schamanismus jedoch haben wankelmütige Menschen und psychisch Kranke immer schon Zuflucht und Hilfe gefunden. Das ist bis heute so geblieben."
Die Manshin, die schamanistische Priesterin, erzählt: "Nachdem ich mein traditionelles Gewand angezogen habe und meine Helferinnen ihre Trommeln und Zimbeln aufgenommen haben, wende ich mich an die Urahnen-Götter. Ich verbinde mich mit ihnen, um den Menschen, die ihre Hoffnungen auf mich setzen, beizustehen. Viele, die zu mir kommen, sind sehr krank. Und den meisten von ihnen kann ich auf diese Weise helfen."
Zusammentreffen von Göttern und Menschen
Sie vollführt gerade ein mehrstündiges Ritual für eine junge Frau. Die Leiterin einer Sprachenschule hat die Frau der 10.000 Götter um Hilfe gebeten. Begleitet wird die 30-Jährige von ihrer gleichaltrigen Freundin, einer Collegeprofessorin. Unter der Last ihrer Arbeit, dem Tod des Vaters und dem bei ihrer Mutter diagnostizierten Gehirntumor habe sie einen Burn-Out erlitten, erzählt sie. Die Manshin wendet sich in ihrem rituellen Tanz an die Verantwortlichen – die Geister und schamanischen Götter, die der Gläubigen nicht gewogen sind. Sie erklärt:
"Ich war 31, als mir bewusst wurde, dass ich diese Gabe habe. Erst wollte ich nicht Schamanin werden. Bis meine Großmutter, der ich sehr nahe stand, mich davon überzeugt hat."
Das Kut genannte schamanistische Ritual ist ein Zusammentreffen von Göttern und Menschen. Die koreanischen Schamaninnen und Schamanen können im Zuge eines Kuts von bestimmten Gottheiten besessen werden. Manchmal werden sie in Trance selbst zu einem Gott oder einer Göttin. Oder sie stellen nur den Kontakt zur Gottheit her und teilen ihr mit, welches Anliegen die Gläubigen bewegt.
In diesem Ritual, das in einem kleinen Tempel mitten in Seoul stattfindet, richten gerade um ein Dutzend Menschen erwartungsvoll den Blick auf die völlig selbstvergessen herumwirbelnde Manshin. Die Mittlerin zwischen Göttern und Gläubigen wirft ihren Fächer von sich, schwingt ein Schwert und stößt Gebetsformeln aus. Die Collegeprofessorin hat Tränen in den Augen, während die neben ihr hockende Leiterin der Sprachenschule unverhohlen schluchzt. Die Helferinnen der Manshin trommeln unentwegt, bis die Schamanin sich schließlich zu Boden wirft, mit leeren Augen auf den mit Reiskuchen, Früchten und einem Schweinekopf bedeckten Altar starrt und zu wimmern beginnt.
Passt eigentlich nicht zum Hightech-Image Südkoreas
Was da auf den ersten Blick so wirke, als handele es sich um Hexerei, passe eigentlich so gar nicht zum Hightech-Image Südkoreas, sagt David A. Mason, Professor für Tourismus mit Schwerpunkt Kultur und Religion an der Sejong-University in Seoul:
"Einerseits hat sich hierzulande eine Art Modernisierungs-Ideologie breit gemacht. Nach dem Motto: Wir sind fortgeschritten und sehr gebildet. Dieser ganze Aberglaube ist ein Ding aus den 50er und 60er-Jahren, das wir hinter uns gelassen haben."
Und doch: "Dass Gläubige heute noch Baumgötter anbeten oder zu bestimmten Schreinen pilgern, die an der Küste hoch über den Klippen aufragen, wird gern abgestritten. In Wahrheit aber sind solche Praktiken in Südkorea weiterhin gang und gäbe."
Eine Nachtaufnahme zeigt die illuminierte Innenstadt von Seoul mit Ihren Hochhäusern udn Schnellstraßen. In der Mitte das historische Sungnyemun-Tor.
Schamanismus passe eigentlich nicht zur Modernisierungs-Ideologie, wird aber weiterhin praktiziert, so Prof. David A. Mason (Getty Images / Chung Sung-Jun)
Die koreanischen Schamanen und Schamaninnen gelten als Mittler zwischen den Menschen und Göttern, Geistern und Dämonen, die für die verschiedenen Aspekte des täglichen Lebens verantwortlich zeichnen. Wer von einem Missgeschick oder einer Krankheit befallen ist, geht davon aus, die Götter seien wegen eines Fehlverhaltens verstimmt. Um das wieder gut zu machen, wenden die Betroffenen sich an einen Schamanen oder eine Schamanin, die mittels eines Rituales versuchen, die Gottheiten zu beschwichtigen. Neben der Vermittlung zwischen Diesseits und Jenseits erfüllen die Ritualexperten weitere zentrale Aufgaben: Sie sagen die Zukunft voraus, versuchen durch Beschwörungen Krankheiten zu lindern oder zu heilen und wenden sich in Tanz- und Gesangsaufführungen an die Götter – die dem Menschen wohlgesinnten Gottheiten und Geister sollen auf diese Weise erfreut, die feindseligen verschreckt werden.
"Es ist gar nicht so einfach zu sagen, wie viele Schamanen es hierzulande gibt, weil zahlreiche von ihnen ziemlich isoliert leben", sagt Jongsung Yang.
Das Gefälle zwischen den Schamanen und Schamaninnen Südkoreas sei groß. Einige wenige seien berühmt, ja, sogar reich, während viele andere von der Hand in den Mund lebten. Diejenigen von ihnen, die ihr Dasein durch Weissagungen fristen müssen und vielleicht hin und wieder einmal ein Ritual vollführen, haben es sehr schwer.
Für Frauen eine Möglichkeit, der Unterdrückung zu entgehen
"Die genaue Anzahl der schamanischen Priester und Priesterinnen lässt sich nicht bestimmen. Es sollten aber an die 300.000 sein. Und der Anteil an Frauen ist bedeutend größer als der von Männern – den an die 70 Prozent Schamaninnen stehen 30 Prozent Schamanen gegenüber."
Das wiederum fußt auf einer lang zurückliegenden Tradition, die mit der patriarchalischen Gesellschaftsstruktur zu tun hat, erklärt David A. Mason. Denn für die Frauen war die Hinwendung zum Schamanismus früher häufig die einzige Möglichkeit, der Unterdrückung zu entgehen.
Mason sagt: "Zu Hause wurden sie vom Vater und von ihren Brüdern herumgeschubst und wie Sklavinnen behandelt, um im Alter von zwölf Jahren verheiratet und vom Ehemann und seinen Angehörigen kaum anders behandelt zu werden. Manche gerieten dadurch in eine Art von Hysterie, die kein Arzt zu heilen verstand. Bis eine erfahrene Schamanin aus der Umgebung davon erfuhr und zu dem betroffenen Mädchen sagte: "Du hast besondere Fähigkeiten und musst Schamanin werden. Dann wirst du geheilt sein!" Damit begann für die Mädchen ein neues Leben. Sie waren frei. Und wenn sie besondere Fähigkeiten besaßen, hatten sie sogar ein passables Einkommen und genossen einen guten Ruf."
Nur wenige Traditionen haben der turbulenten Geschichte des Landes so erfolgreich widerstanden wie der Schamanismus.
1953 endete der militärische Konflikt zwischen Nord- und Südkorea in einem Waffenstillstandsabkommen. Nordkorea schottete sich ab und konserviert seitdem ein sozialistisches System, dessen Fundament sich auf die Arbeiterpartei, das Militär und die Herrscher-Familie Kim stützt.
"Wir sind zu Sklaven der Technologie geworden"
Der Süden dagegen, heute eine parlamentarische Demokratie, meisterte den Wandel vom Agrarland zum Hightech-Industriestaat in rasendem Galopp - 60 Jahre für eine Entwicklung, die andere Länder in mehreren hundert Jahren durchlaufen haben. Der rapide Fortschritt sei nicht spurlos an den Menschen vorübergegangen, betont der bekannteste Dichter des Landes, Ko Un. Vom religiösen Rückgrat, das Südkoreaner traditionell besessen hätten, sei bei den meisten seiner Landsleute nicht mehr viel übrig geblieben. Er empfindet die Lebensrealität als unerträglich, weil sie voller Gewalt und Wettbewerb ist:
"Wir sind zu Sklaven der Technologie geworden. Denken Sie nur an die vielen Selbstmorde hierzulande! Wir leiden hier unter einer Art von "individuellem Terrorismus", der in vielen kleinen Attentaten, die man gegen sich selbst verübt, seinen Ausdruck findet."
Teilnehmer eines Zen-Kurses
Teilnehmer eines Zen-Kurses (imago / UIG)
Wer in Südkorea keine Karriere macht oder nicht gut genug verdient, ist großem sozialen Druck ausgesetzt. Schüler etwa, die den Sprung auf eine der Elite-Unis nicht schaffen, schädigen den Ruf der Familie. Der ständige Wettbewerb verbunden mit der Grundhaltung, unter allen Umständen sein Gesicht zu wahren, bringt Kälte, Einsamkeit und Depressionen mit sich. Jede zweite Ehe wird in Südkorea wieder geschieden, kein anderes wohlhabendes Industrieland hat eine niedrigere Geburten- und eine höhere Selbstmordrate.
Trost im Schamanismus
"Es ist gut, dass immerhin doch noch etliche meiner Landsleute Trost im Schamanismus finden! Ich habe zwar den Eindruck, dass der koreanische Schamanismus eine Kommerzialisierung erfahren hat. Andererseits bin ich mir aber sicher, dass es nach wie vor viele Schamanen gibt, die spirituell fest verankert sind und den Gläubigen somit hilfreich zur Seite stehen können."
Der Schamanismus ist die älteste Religion Koreas. Die Verehrung von Geistern und der Natur und die Überzeugung, dass nicht nur dem Menschen eine Seele innewohnt, hat auch die später eingeführten Religionen befruchtet und durchdrungen. Taoismus, Buddhismus und Konfuzianismus tragen auf der koreanischen Halbinsel bis heute schamanistische Züge.
Darüber hinaus ist die südkoreanische Gesellschaft von buddhistischen und konfuzianistischen Werten geprägt. Vor allem die Morallehre des Philosophen Konfuzius hat den Koreanern eine ethische Rüstung eingebracht, die gerade jüngere Südkoreaner heute gern abschütteln würden, weil sie ihnen zu schwer geworden ist. Die von Konfuzius geforderten Tugenden wie Sorgfalt und Fleiß, Bescheidenheit und Gleichmut haben die Bewohner der Republik Korea binnen Kurzem weit gebracht. Was ihnen das abfordert, wollen einige aber inzwischen nicht mehr leisten. Auch andere konfuzianistische Kerngedanken stoßen vermehrt auf taube Ohren. Dass die Belange des Einzelnen stets hinter den Interessen der Familie zurückstehen sollen zum Beispiel oder dass es eine Pflicht ist, für die Eltern zu sorgen.
In einem Alltag, der von klein auf von pausenlosem Leistungsstreben bestimmt ist, suchen viele Koreaner vor allem Trost und Stütze im Hier und Jetzt und für die unmittelbare Zukunft. Anweisungen zur richtigen Lebensführung und ethische Pflichten, deren Erfüllung nach dem Tod einen Platz im Paradies verheißen, sind meist weniger gefragt.
Instant-Helfer bei allen Gefahren des Daseins
Auch Christentum, Buddhismus, Konfuzianismus und Daoismus haben in Südkorea Zulauf. Doch wenn es darauf ankommt, nehmen viele Südkoreaner Zuflucht zum Schamanismus, der für die meisten die einzige religiöse Praxis ist, die mit beiden Beinen im Leben steht.
Die mit Göttern und Geistern verbundene schamanistische Schutzmacht samt ihrer Ritualspezialisten gilt als Instant-Helfer bei allen Gefahren des Daseins, sagt der Anthropologe Jongsung Yang:
"Wer Probleme mit seinem Geschäft oder innerhalb der Familie hat, wendet sich an einen Schamanen oder eine Schamanin. Wer Kinder hat, bittet um Rat, im Sinne von: Wie kann mein Sohn die Aufnahmeprüfung für eine bestimmte Universität schaffen? Oder auch: Wie finde ich einen guten Mann für meine Tochter? Desgleichen, wenn ein neues Haus gebaut wird – dann befragt man gern zuvor die schamanischen Priester oder Priesterinnen."
Die Palette der Anliegen ließe sich erweitern. Um die Untreue oder die Verschwendungssucht des Ehemannes etwa, um die Vernichtung der Ernte durch eine Naturkatastrophe – oder womöglich sogar um eine Wahl, die gewonnen werden will.
Diesen Punkt möchte Jongsung Yang lieber nicht ausführen. Der Philosophie-Professor Andrew Kim von der Seoul National University hingegen schon. Zunächst erläutert er aber etwas Grundsätzliches:
"Bezeichnend für den Schamanismus ist die Bedeutung von Wahrsagungen und das Hauptaugenmerk auf die Gegenwart. Anders als im Christentum, im Islam oder im Judentum, wo es sich oft um ein Dasein in einer späteren Welt oder um ewiges Leben dreht. Nicht so im Schamanismus, in dem weit eher das, was im gegenwärtigen Dasein wichtig ist, verhandelt wird. Und dazu zählen unter anderem ein langes Leben, Gesundheit und Wohlstand."
Schamaninnen von Politikern frequentiert
Es gibt vielleicht ein Dutzend Schamaninnen, die regelmäßig von Politikern frequentiert werden. Häufig wollen diese wiederum auf dem Weg gern in Erfahrung bringen, was sie tun müssen, um die Wahlen zu gewinnen.
"Nicht nur Politiker, auch die Besitzer großer Unternehmensnetzwerke, der Chaebol, konsultieren unsere Schamanen regelmäßig und beauftragen sie damit, Riten zu vollführen",ergänzt die Religionsanthropologin Seong Nae Kim. "Ich kenne zum Beispiel eine über 60-jährige Schamanin, die für ein paar sehr wohlhabende Geschäftsleute regelmäßig Rituale ausführt."
Auf diese Weise soll der Erfolg des Unternehmens gestärkt werden und zudem dient es dazu, den Familien der Klienten Glück zu bringen.
Es gibt viele Beispiele dafür, dass der Schamanismus jeden Tag aufs Neue einen Lichtschein in die unbarmherzige Lern- und Arbeitsrealität seiner Landsleute bringe, sagt Professor Jongsung Yang. Für Südkoreaner sei dieser Glaube ein Rettungsanker.
Er erinnert an das mehrstündige Ritual, das die schamanistische Priesterin für eine junge Frau durchgeführt hat. Begleitet wurde die 30-Jährige von ihrer gleichaltrigen Freundin, einer Professorin an der Universität:
"Das waren zwei sehr gebildete junge Frauen. Wenn die Professorin mit ihren Freunden ausgeht, wird sie bestimmt nichts darüber verlauten lassen, dass sie erst kürzlich an einem schamanistischen Ritual teilgenommen hat. Aber sie glaubt an den Schamanismus. Nein, ein Ende des Schamanismus in Korea, das kann ich mir nicht vorstellen! Im Gegenteil - er wird auch in Zukunft nicht im Geringsten an Bedeutung verlieren."