Montag, 13. Mai 2024

Archiv


"Scharon ist ein Überläufer"

Hans-Joachim Wiese: Vorgestern protestierten Zehntausende Israelis mit einer rund 90 km langen Menschenkette, die vom Gaza-Streifen bis zur Klagemauer in Jerusalem reichte gegen die Räumungspläne von Ministerpräsident Scharon. Bis 2005 will Scharon alle Siedlungen im Gaza-Streifen und vier kleinere Siedlungen auf der West Bank vollständig auflösen. Das hat ihm erbitterte Feindschaft vor allem der jüdischen Siedler, aber auch von Teilen seiner eigenen Likud-Partei eingetragen. Am Telefon in der Siedlung Kiryat Arba bei Hebron begrüße ich jetzt Elyakim Haetzni, er ist Rechtsanwalt, war früher Knesset-Abgeordneter und ist selbst Siedler-Aktivist. Guten Morgen Herr Haetzni.

Moderation: Hans-Joachim Wiese | 27.07.2004
    Elyakim Haetzni: Guten Morgen.

    Wiese: Scharon gilt als Vater der Siedlungen. Auf seine Initiative hin sind viele Siedlungen im Westjordanland und im Gaza-Streifen entstanden. Hätten Sie sich jemals träumen lassen, dass ausgerechnet Scharon mit der Räumung von Siedlungen Ernst machen will?

    Haetzni: Nein, das war eine sehr unangenehme Überraschung. Ich möchte aber erst zwei Dinge berichtigen: Es waren vorgestern 150.000 an dieser Kette und ich mache Gebrauch von dem Begriff Judäa Samaria, ich kenne kein Westjordanland. Wenn Sie sagen "Westjordanland", meine ich damit Judäa und Samaria.

    Wiese: Nun zu meiner Frage, ist Scharon in Ihren Augen mittlerweile zu einem Verräter geworden?

    Haetzni: Ich möchte von solchen Begriffen keinen Gebrauch machen, das ist ein Schimpfwort. Scharon ist ein, ich würde sagen, Überläufer von dem Lager der nationalen Einstellung gegenüber unser Recht auf das Land Israel in das andere Lager, in das Lager der Linken - nicht nur in Bezug auf den Gaza-Streifen. Sein ganzes Benehmen, seine ganze neue Einstellung ist links.

    Wiese: Worauf führen Sie das zurück? Wie kann so etwas passieren?

    Haetzni: Es gibt viele Theorien. Einige sagen, wegen einer Fahndung, er hat Probleme in Bezug auf Korruption und so weiter, manche sagen, das sei der Grund. Ich glaube es nicht. Er ist im Grunde genommen vielleicht ein Opportunist und er fand es jetzt opportun. Aber das ist für die Historiker oder seine Biographen wichtig. Für uns ist maßgebend, wie diese Situation einzuschätzen und was zu tun ist, um das zu vereiteln. Das ist unsere Aufgabe heute.

    Wiese: Sie haben ja selbst gesagt, Herr Haetzni, dass Sie an dieser Menschenkette teilgenommen haben. Nun hat Scharon ja angekündigt, dass er sich durch solche Demonstrationen von seinen Plänen überhaupt nicht beeindrucken lässt und auch nicht abbringen lassen wird. Welche Möglichkeiten sehen Sie denn noch, die Räumung von Siedlungen zu verhindern?

    Haetzni: Schauen Sie, es gibt zwei Felder. Eins ist das politische Feld. Sie haben schon angedeutet, seine eigene Partei, die Fraktion in der Knesset - das sind ungefähr 40 Knesset-Parlamentsmitglieder - ist geteilt, Fifty-Fifty. Also 20 sind dagegen, darunter sehr viele Minister. Bis zum heutigen Tage hat er keine Mehrheit dafür in der Regierung. Deswegen will er die Arbeiterpartei hineinbringen und das ist auf noch viel größere Opposition gestoßen in seiner Partei, denn viele werden dann ihre Posten verlieren müssen. Also er hat es sehr, sehr schwer auf der politischen Ebene und wir tun alles, um es ihm noch schwerer zu machen. Die andere Ebene ist auf dem Feld, das muss man verstehen: Diese Menge, die diese Kette bildete, wenn diese Menge sich stauen wird nahe den drei oder vier Punkten, durch die man in den Gaza-Streifen hinein und aus dem Gaza-Streifen hinauskommen kann - das sind nur drei oder vier Punkte und dort stauen sich 100.000 oder 200.000 Menschen - dann ist diese so genannte Räumung einfach unmöglich. Ich habe gestern einen Artikel in der Jediot Acharonot, das ist die meistgelesene Zeitung in Israel, veröffentlicht, wo ich es mit den demokratischen Revolutionen verglich, die es in Europa gab - Portugal oder der Fall von Milosevic oder die samtene Revolution in Prag oder der Fall der Mauer von Berlin. Das waren alles Demonstrationen ohne Gewaltanwendung. Das letzte Mal war in Georgien, der Schewardnadse fiel auch durch Demonstrationen, wobei immer das Militär keine Gewalt eingebracht hat. Das Militär wollte nicht auf das eigene Volk schießen oder sogar irgendeine andere Gewalt anbringen.

    Wiese: Ist das auch ein Vorbild für Sie, Herr Haetzni? Sind diese gewaltlosen Umstürze auch in Ihrer Planung vorhanden? Sehen Sie es auch für möglich an, wie jetzt manche Warnungen zum Beispiel der israelischen Sicherheitsbehörden laut wurden, dass jüdische Extremisten auch gewaltsam gegen diese Räumungspläne protestieren und vorgehen würden, zum Beispiel durch einen Anschlag auf die Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem?

    Haetzni: Natürlich sind wir alle sehr, sehr dagegen und das wäre ein Unglück, das wäre auch ein furchtbarer Fehler. Das wäre einmal ein Verbrechen und dann auch ein furchtbarer Fehler, das würde genau das Gegenteil auslösen. Aber wer kann in diesem Lande als Prophet auftreten und sagen, ich bin sicher, dass es geschieht oder das es nicht geschieht. Aber noch eine Minute zurück zu dem vorigen Thema: Es gärt in unserem Militär. Die so genannten Outposts auf den Bergen, die errichtet wurden von uns auf unserem Land: Scharon versuchte sie mit Gewalt zu räumen. Es ist nicht geglückt und die sind alle wieder auf dem Platz, weil er Probleme hat mit dem Militär und auch mit der Polizei.

    Wiese: Also das Militär richtet sich gegen Scharon in Ihren Augen?

    Haetzni: Wir haben keine Junta. Ich habe "Militär" gesagt, das ist nicht präzise. Es ist so, dass der Chef des Generalstabes sich an Scharon gewandt hat und gesagt hat: "Bitte schicke nicht das Militär. Das soll nur die Polizei tun." Dann kam die Polizei und sagte: "Nein, das können wir nicht. Weil um 100 Familien zu räumen, benötigen wir 1500 Polizisten." Das ganze Land wird plötzlich leer sein von Polizei und es wird nicht genügen. Also in anderen Worten: Das ist von der Führung aus, aber von unten hat sich herausgestellt, dass sich viele Soldaten weigern, dass zu tun. Das geht gegen deren Gewissen und das ist einfach nicht möglich, die eigenen Familien auszuräumen. Das israelische Militär, das wird sich herausstellen - und wir tun, was wir können in dieser Richtung - es wird sich herausstellen, dass das israelische Militär nicht geeignet ist, das eigene Volk zu entwurzeln. Und wir haben gerade jetzt ein Aussage von dem Herr Scharon von vor einigen Jahren veröffentlicht, in der er sagt, jeder Soldat soll sich an seinen Vorgesetzten wenden und ihm sagen: "Ich kann es nicht tun."

    Wiese: Sie sind also durchaus optimistisch, dass Scharon mit seinen Räumungsplänen scheitern wird?

    Haetzni: Optimistisch bin ich nicht. Ich versuche, die Lage kühl zu beurteilen. Er hat nicht alle Karten in seiner Hand. Wenn es uns gelingt, genug Massen zu mobilisieren und alles natürlich ohne Gewalt, sondern auf demokratischem Weg, dann wird der dem Herrn Bush sagen müssen: "Bringen Sie amerikanisches Militär oder Nato vielleicht."

    Wiese: Herr Haetzni, wir müssen das Interview an dieser Stelle beenden, die Zeit läuft uns weg. Ich danke Ihnen für das Gespräch. In den Informationen am Morgen im Deutschlandfunk: Elyakim Haetzni.