DLF: Herr Minister Schartau, vor rund zwei Monaten haben Sie der IG Metall, deren Chef Sie ja im mächtigen Bezirk Nordrhein-Westfalen waren, den Rücken gekehrt und sind in ein Landesministerium umgezogen - in ein neu strukturiertes Ministerium hier in Düsseldorf - das sich Ministerium für Arbeit, Soziales, Qualifizierung und Technologie nennt. Und dieser Zuschnitt, so heißt es immer wieder, sei Programm, weil er den Schritt von der reparierenden zur präventiven Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik kennzeichne und dokumentiere. Was heißt das?
Schartau: Für mich heißt dieser Zuschnitt, dass in dem Dreieck von Arbeit, Qualifikation und Technologie sich die Zukunft des Landes entscheiden wird. Arbeit geht in zwei Richtungen. Einerseits haben wir nach wie vor eine große Anzahl an arbeitslosen Menschen. Und diesen Arbeitsmarkt wollen wir in Bewegung halten mit auf Zielgruppen ausgerichteten Maßnahmen. Aber wir kümmern uns insbesondere auch um die Arbeit, die vorhanden ist. Prävention heißt auch, dass man vorhandene Arbeitsplätze ins Visier nimmt, ihre Zukunftsfähigkeit untersucht und als Politik Rahmenbedingungen schafft, die es ermöglichen, moderne Arbeit rauszubilden, die im Zusammenhang mit neuen Systemen von Qualifikation und Qualifizierung die Voraussetzungen schaffen, um neue Technologien herauszubringen und sie zu beherrschen. Das heißt: Dieses Dreieck ist auch für die Zukunft des Landes Nordrhein-Westfalen von maßgeblicher Bedeutung, und es liegt – um auf den vierten Bereich meines Ministeriums zu kommen – auf einer breiten Grundlage einer herauskultivierten sozialen Gerechtigkeit, für die die Landesregierung - auch in meiner Person - Garant sein wird.
DLF: Sie haben in den vergangenen Tagen immer wieder eine Idee angesprochen, die Sie gerne umsetzen möchten in Ihrem neuen Amt – eine Idee, die sich beschreiben lässt mit dem Stichwort ‚Transfergesellschaft‘. Auch das ist ja ein Bestandteil einer präventiven Arbeitsmarktpolitik. Was steckt dahinter?
Schartau: ‚Transfer‘ soll heißen: Es wird immer so sein, dass Arbeitsplätze verloren gehen. Aber ich möchte den Zusammenhang zwischen Verlust des Arbeitsplatzes und Perspektive über den Transfergedanken darstellen. Das heißt: Leute, die heute ihren Job verlieren, gehen, wenn sie nicht gleich eine Anschlussbeschäftigung haben, am nächsten Tag in eine örtliche Transfergesellschaft – eine von Unternehmen betriebene, eine von Handwerksunternehmen betriebene Transfergesellschaft –, die die Aufgabe hat, dem Arbeitnehmer oder der Arbeitnehmerin über Qualifizierung, Umschulungsaktivitäten oder über die Möglichkeit, in anderen Industrie- oder Handwerksbereichen ein Praktikum zu machen und ‚reinschnuppern‘ zu können, und über das Angebot, Mobilitätsberatung zu machen - nämlich: Was hängt mit der Arbeitsaufnahme in einem weit entfernten Ort zusammen, kann man an einem Tag dahin, muss man umziehen - und wenn man umzieht, wie bekomme ich eine Wohnung, was ist mit den Kindern und der Schule? - diese Transfereinrichtung hat einen Sinn: Es soll keine dauerhafte Einrichtung werden mit einem eigenständigen Wirtschaftsauftrag, sondern sie hat eine einzige zielgerichtete Aufgabe, nämlich den Arbeitnehmer von der einen Beschäftigung in eine andere zu überführen. Deshalb ‚Transfer‘ und nicht Arbeitslosigkeit.
DLF: Ist das die Überwindung der Arbeitslosigkeit?
Schartau: Ich glaube, wenn der Gedanke sich verbreitet - und ich habe da gute Hoffnung - werden wir eine Alternative zum jetzigen Umgang mit Arbeitslosigkeit bekommen, die meines Erachtens viele Probleme, die mit der jetzigen Arbeitslosigkeit zusammenhängen, überwinden hilft – angefangen bei dem Problem, dass die Menschen Arbeitslosigkeit als individuellen Tiefschlag empfinden, sich auch alleingelassen fühlen, in ihrem Wertgefühl einen Knick bekommen. Das ist was anderes, wenn ich in den Transfer gehe. Das heißt: Klar, ich kann den Job verlieren – ist nicht unbedingt meine Schuld oder meistens sogar überhaupt nicht –, und ich gehe gleich über Transfer den Weg in eine andere Beschäftigung. Ich bleibe selbst aktiv und muss nicht zu Hause auf der Couch sitzen und mit meinem Schicksal hadern.
DLF: Wie wollen Sie es denn verhindern – bei der Einrichtung dieser Transfer-Gesellschaften –, dass diejenigen, die aus einem Unternehmen kommen, das bankrott gegangen ist, auf lange Dauer dort bleiben und sozusagen nur in einer gehobenen Form von Arbeitsbeschaffungsmaßnahme sich befinden?
Schartau: Das geht nur, wenn in diesen Transfergesellschaften wirklich Transfer gemacht wird, das heißt, nicht aufbewahrt wird, nicht fakultativ irgendwelche Bildungsmaßnahmen angeboten werden, sondern wenn mit der Transfergesellschaft erstens eine Gesellschafterstruktur geschaffen wird von Unternehmen am Ort und in der Region, die sagen: ‚O.k., da machen wir mit, das finden wir gut‘; wenn zweitens in der Transfergesellschaft erfahrene Personalleute arbeiten, die auch Arbeitsplatz-Angebote im Zusammenhang mit der Bundesanstalt, mit den regionalen Anbietern und den Qualifikationen der in die Transfergesellschaft Eintretenden verbinden können. Wenn in der Transfergesellschaft eben auch hart an den einzelnen Aufgaben gearbeitet wird, dann – glaube ich – wird diese Geschichte auch eine Perspektive bekommen.
DLF: Das alles würde ja nur Menschen helfen, die zukünftig mit dem Risiko der Arbeitslosigkeit konfrontiert wären. Noch aber haben wir eine Massenarbeitslosigkeit in Deutschland – 3,8 Millionen waren es in diesem Monat. Man hat ein wenig den Eindruck, dass das Thema ‚Arbeitslosigkeit‘ in den Hintergrund gerückt ist, weil man registriert hat, dass die Arbeitslosigkeit langsam sinkt. Es redet kaum noch jemand über das ‚Bündnis für Arbeit‘. Teilen Sie diesen Eindruck?
Schartau: Ja, den Eindruck teile ich. Im Zeichen guter Konjunktur kann man sich einen Augenblick auch mal über positive Nachrichten freuen. Ich bin aber der Auffassung, dass wir sehr schnell dieses Thema wieder besprechen werden, weil es einen Automatismus zwischen guter Konjunktur und signifikant zurückgehender Arbeitslosigkeit nicht geben wird, sondern wir müssen den Wind, den uns die Konjunktur gibt, den Wind, den beispielsweise in der Stimmungslage die Steuerreform gegeben hat, den müssen wir nutzen, um die Aufgabe zu schultern jetzt in der Frage der Arbeitslosigkeit erheblich weiter nach vorne zu kommen. Und wenn man den Anspruch formuliert, muss man was dafür tun. Nichts läuft von selbst - auch hier nicht.
DLF: Eine Sache, die noch im Herbst wohl für immense politische Auseinandersetzungen sorgen wird, das wird die Verlängerung des Beschäftigungsförderungsgesetzes sein – mit der Möglichkeit, unbegründet Arbeitsverhältnisse zu befristen. Eine Entscheidung, die – wie gesagt – im Herbst ansteht, weil das Gesetz zum Jahresende ausläuft. Arbeitgeberpräsident Hundt hat gesagt, das sei das erfolgreichste beschäftigungsfördernde Instrument der letzten 20 Jahre. Sehen Sie das auch so?
Schartau: Ich glaube, man muss bei diesem Gesetz vor allen Dingen eines immer beachten, nämlich dass die ‚Tassen im Schrank‘ bleiben. Und an den Extremen zu arbeiten, wäre hier sehr schlecht. Es gibt eine Vielzahl von Unternehmen, die sich befristeter Arbeitsverhältnisse bedienen, und es gibt eine Reihe von Unternehmen, die die Befristungen schon zur Grundlage ihrer Beschäftigungspolitik gemacht haben. Ich glaube deshalb, dass es gut sein wird, wenn wir vielleicht bei diesem Gesetz es hinkriegen, die, die sich jetzt in ihren Gräben schon aufstellen, entweder dieses Gesetz ersatzlos auslaufen zu lassen bzw. es unangepasst weiter zu führen, dass wir da sagen: Wir müssen uns die grundsätzliche Wirkung angucken. Natürlich erhöht die Möglichkeit, befristete Arbeitsverhältnisse zu machen, die Bereitschaft bei den Unternehmen, einzustellen, weil sie den Rücken frei haben, sich gegebenenfalls wieder zu trennen. Aber es hat auch zu Missbrauch geführt, indem eben Kettenbefristungen gemacht wurden, und mit der Möglichkeit der Befristung in der Tat meines Erachtens Verunsicherungen auch in den Personalbereich und in den Arbeitsmarkt reingebracht worden ist.
DLF: Missbrauch in nennenswertem Umfang?
Schartau: Ich kann ihn im Augenblick nicht quantifizieren. Alle Berichte, die ich dazu höre und lese und alles das, was ich von Betriebsräten und Gewerkschaften höre, deutet auf jeden Fall darauf hin, dass man es sich ganz genau angucken muss, bevor wir den nächsten Schritt machen. Es kann nicht lange dauern, weil wir eine Entscheidung darüber haben müssen, was ab 1. Januar nächsten Jahres ist. Und meine augenblickliche Prognose ist dann, wenn die Bedenken auf den Tisch gelegt werden und ihre Überspitzung sein gelassen wird, dass man dann auch zu einem Kompromiss kommen kann, der die Beschäftigungswirkung der Möglichkeit, befristet einzustellen verbindet mit einer klaren Regelung gegen Missbrauch.
DLF: Also, Ihre Position: Beschäftigungsförderungsgesetz verlängern ja - aber abgeändert?
Schartau: Ja.
DLF: Im Moment werden Überstundenrekorde in Deutschland registriert. Der Vorsitzende der IG Metall Klaus Zwickel hat gesagt, damit seien die Arbeitgeber nun definitiv mitverantwortlich für die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland. Wie bewerten Sie den Zusammenhang von nur langsam sinkender Arbeitslosigkeit und der steigenden Zahl von Überstunden, die in Deutschland geleistet wird?
Schartau: Dass die hohe Zahl an Überstunden ins Auge fällt in einer Zeit, wo wir eben noch fast vier Millionen Arbeitslose haben, ist vollkommen verständlich. Eine Reihe von Rechnungen, die aufgemacht werden, indem man die Zahl der Überstunden teilt durch die Jahresarbeitsstunden und dann die Zahl möglicher neuen Stellen hat, das ist zwar ganz legitim, es so zu machen. Es hat aber mit der Realität wenig zu tun. Ich bin der Auffassung, dass die Frage, inwieweit das Arbeitszeitvolumen gesteuert wird, schon eine Auswirkung haben kann auf den Arbeitsmarkt. Das bedeutet aber einiges, ich muss einfach verschiedene Beispiele bilden: Es gibt Unternehmen, die fahren eine Arbeit latent mit Unterbesetzung. Das heißt, die Leute müssen permanent mehr Arbeit machen. In diesem Unternehmen würde ich auch den Vorwurf von Herrn Zwickel unterstreichen insofern, dass ich sage: Mensch Meyer, Ihr könnt doch wirklich mal was tun, indem Ihr die Arbeit so umgestaltet, dass Ihr Leute einstellt. In solchen Fällen ist zum Beispiel auch die Frage des Beschäftigungsförderungsgesetzes für mich ein Argument. Es gibt Unternehmen, wo Mehrarbeit sporadisch anfällt. Hier ist die Frage: Kann es einen anderen Umgang mit dem Ausgleich von Mehrarbeit geben, nämlich dass der in Freizeit ausgeglichen wird – und wie kann man jetzt organisieren, dass hier eben neue Leute in den Betrieb reinkommen. Das setzt aber voraus, dass ich die gleiche Qualifikation zur Verfügung stellen kann, dass ich unheimlich flexibel zwischen dem Arbeitszeitregime des Betriebes und von außen reinkommenden Leuten Personal organisieren kann. Und das wird zwangsläufig dazu führen, dass meines Erachtens seriöse Zeitarbeitsunternehmen hier eine Perspektive haben, dass der Beschäftigungszuwachs nicht in den Unternehmen selbst, sondern bei dem seriösen Verleiher entsteht, der in der Lage ist, mit dem Betrieb zu korrespondieren. Dann gibt es meines Erachtens natürlich in der breiten tarifpolitischen Landschaft schon einen Umgang mit Mehrarbeit, der dahin geht, dass Mehrarbeitsguthaben angespart werden auf Langzeit- oder Langfristkonten, die dann ermöglichen, beim Älterwerden flexibler mit der Arbeitszeit umzugehen, kürzer arbeiten zu können, ohne Einkommenseinbußen zu haben. Mein Petitum in dieser Geschichte ist: Wer sich ernsthaft um den Abbau von Arbeitslosigkeit bemüht, der darf die Überstundenfrage nicht aus dem Auge lassen. Auch meine ganz persönlichen Erfahrungen als Gewerkschafter zeigen: In den Unternehmen, wo es gewollt ist, geht es. Da wird ein Beschäftigungsaufbau durch einen anderen Umgang mit Arbeitszeit erzielt. Das heißt aber, dass gute Überlegungen angestellt werden müssen im Qualifikationsbereich, in der Frage, wie von außen mit dem Betrieb Personal ausgetauscht wird, und wie man dem Unternehmen auch Hilfestellung gibt bei der Organisation dieses Prozesses, damit keine neuen Bürokratien entstehen.
DLF: Heißt das, dass sowohl Gewerkschaften wie auch Arbeitgeber bislang viel zu phantasielos mit dem Problem ‚Überstunden‘ umgegangen sind?
Schartau: Die Phantasien waren – glaube ich – schon da. Die Umsetzung in die Praxis muss bei diesem Volumen mit erheblich größerer Konsequenz noch angepackt werden.
DLF: Herr Schartau, es gibt viele Experten, die sagen: ‚Den wirklichen, durchgreifenden Durchbruch auf dem Arbeitsmarkt mit 3,8 Millionen Arbeitslosen – den werden wir erst erreichen, wenn es tiefgreifende Strukturveränderungen, zum Beispiel im Arbeitsrecht gibt, zum Beispiel im Bereich des Kündigungsschutzes‘. Halten Sie so etwas auch für erwägenswert?
Schartau: Ja, ich bin ja skeptisch gegenüber dem goldenen Weg, also den Leuten, die Patentrezepte haben. Da gucke ich lieber noch mal eine Seite weiter. Wir haben in der Bundesrepublik angefangen mit einer Vielzahl von Maßnahmen, die im Tarifbereich schon entstanden sind. Aber auch im Arbeitsrecht haben wir – glaube ich – die Spielräume, die sich aus praktischen Veränderungen in der Realität ergeben haben, schon ausgefüllt. Modelle, die uns beispielsweise die amerikanische Gesellschaft vorführen wollen - da kann ich immer nur sagen: Wir leben hier an Rhein und Ruhr, wir haben hier eine eigene Kultur und wir müssen unsere eigenen Lösungen schon selbst finden. Das heißt in der Zusammenfassung: Notwendige Veränderungen, Lockerungen oder auch andere Regulierungen – denen kann sich in der Diskussion keiner entziehen. Wenn es sinnvoll ist, lass es uns machen. Aber das Patentrezept dazu wird es nicht geben, denn die, die eine absolute Deregulierung bevorzugen, machen sich über andere Aspekte, nämlich dass die Unternehmen und die Beschäftigten selbst eine Art von Sicherheit und Kontinuität brauchen, oftmals viel zu wenig Gedanken.
DLF: Aber was bedeutet das für das Beispiel, das ich genannt habe - Kündigungsschutz. Gehört das zu den Dingen, die erwägenswert sind, oder gehört das zu dem, was auf keinen Fall angerührt werden sollte im deutschen Arbeitsrecht?
Schartau: Ich halte den Kündigungsschutz in der augenblicklichen Form für in Ordnung.
DLF: Ich sagte es vorhin – die Arbeitslosenquote in Deutschland sinkt langsam. Sinkt sie schnell genug, um im nächsten Jahr den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung zu senken?
Schartau: Ja, also mein Ziel ist im Augenblick – obwohl ich mich auch verpflichtet fühle der allgemeinen politischen Ausrichtung, die Lohnnebenkosten zu senken – mein augenblickliches Ziel ist eigentlich, evtl. auftretende Reserven, die wir aus einer auch konjunkturell und demographisch beflügelten Minderung der Arbeitslosigkeit haben, lieber auf weitere Maßnahmen im Bereich der Arbeitsmarktpolitik zu fokussieren, und zwar solche Maßnahmen, die Übergänge organisieren, die Leute und den Arbeitsmarkt in Bewegung halten, die es nicht zulassen, dass einzelne Arbeitslosengruppen quasi abgehakt werden. Ich würde mich schon dafür einsetzen, dass man - ohne das allgemeine Ziel aus dem Auge zu verlieren, die Nebenkosten zu senken – trotzdem den guten Ideen in der Arbeitsmarktpolitik, die den Übergang in den ersten Arbeitsmarkt immer wieder organisieren, im Augenblick noch den Vorzug gibt.
DLF: In den nächsten Monaten, Herr Minister, wird in Berlin weiter um die Rentenreform gerungen werden. Einer der Ansatzpunkte der gewerkschaftlichen Kritik dabei ist die zu starke Absenkung des Rentenniveaus. Hämisch ist das in den Zeitungen schon kommentiert worden als ‚Aufstand gegen Adam Riese‘. Welches Niveau ist machbar, welches ist akzeptabel?
Schartau: Die Diskussion über die Rentenreform im Augenblick – ich möchte sie immer mit einem beginnen, nämlich: Die Menschen, die ihr ganzes Leben gearbeitet haben und die sich während dieser Arbeit darauf verlassen haben, dass sie mit ihrer Rente hinterher ein Großteil ihrer Ausgaben decken können, die müssen auch in der augenblicklichen Rentenreform von jedem, der sich klug oder weniger klug zu Wort meldet, als erstes hören, dass es einen breiten gesellschaftlichen Konsens gibt, dass wir Vertrauensschutz gewähren und denen, die schon Rentner sind, nicht zumuten, sich auf irgendein anderes System einstellen zu müssen, auf das sie sich gar nicht mehr einstellen können. Das ist bei mir auch grundsätzliche Auffassung. Das heißt, dass ich zunächst einmal sage: Wenn über irgendwelche Rentenniveaus geredet wird, dann sind das Rentenniveaus für Leute, die in vielen, vielen Jahren in Rente gehen und denen ich heute sage, auf welches Niveau bei der gesetzlichen Rente sie sich einstellen müssen und wie wir ihnen bei ihrer Gesamtversorgung aus gesetzlicher und staatlich geförderter kapitalgedeckter Eigenvorsorge helfen. Das zukünftige Rentenniveau in Verbindung mit der staatlich geförderten Eigenvorsorge wird eine Versorgung erreichen, die über dem augenblicklichen Rentenniveau steht. Dabei ist ein Problem, dass wir natürlich Menschen haben, die aufgrund ihrer Einkommensverhältnisse und ihrer persönlichen Situation nicht in der Lage sein werden, eine entsprechende kapitalgedeckte Eigenvorsorge zu betreiben. Über diese Fragen ist im weiteren Konsensprozess Diskussion bereits angekündigt und auch Offenheit angesagt. Ich glaube, dass wir hier einen Punkt haben, über den bis zum Abschluss der Rentenreform noch gesprochen werden muss. Die Ängste, die im Augenblick in die Bevölkerung gejagt werden, die halte ich für außerordentlich bedenklich, denn hier geht es um Vertrauen in die Politik.
DLF: Ist das auch Kritik an beispielsweise der stellvertretenden DGB-Vorsitzenden Ursula Engelen-Kefer, die ja, wie andere Gewerkschafter auch, einen ‚heißen Rentenherbst‘ angekündigt hat?
Schartau: Ja, das ist auch Kritik an Ursula Engelen-Kefer, weil der erste Satz, dass die, die jetzt in Rente sind, sich keine Sorgen machen müssen – den habe ich von ihr noch nicht gehört. Und wenn die äußerst komplizierte Verrechnung beim zukünftigen Anstieg der jetzigen Renten, die ja unverändert ansteigen werden, wo jetzt bereits überlegt wird, ob im nächsten Jahr wir zu einer normalen nettolohnbezogenen Anpassung wieder kommen – wenn das als ein Argument genommen wird, um den jetzt in Rente Befindlichen Angst einzujagen, dann kann ich nur sagen: Alle Achtung, da wird aber leichtfertig mit den Gefühlen der Leute umgegangen.
DLF: Kritik an der Rente gibt es ja nicht nur aus den Reihen der Gewerkschaftsfunktionäre, sondern – wenn man den Darstellungen Glauben schenkt – auch an der Basis – Gewerkschaftsbasis wie an der Parteibasis der SPD. Da soll es SPD-Präsidiumsmitglieder geben, die sagen: ‚Da droht uns der Laden um die Ohren zu fliegen‘. Wie empfinden Sie das? Wie unruhig ist die Basis hier in Nordrhein-Westfalen?
Schartau: Die Rentenfrage ist seit Mitte letzten Jahres mehr als sensibel. Da liegen die Nerven blank. Da ist in vielen Bereichen kein Platz mehr für eine differenzierte Diskussion. Und das ist schlecht. Es muss sich was verändern. Da bleibt auch wenig Zeit für, weil Rentenfragen immer auf Dauer angelegt werden. Und ich kann auch da nur in die Reihen der SPD selbst die Botschaft reingeben: Es ist notwendig, dass wir auf der Basis, dass die, die jetzt in Rente sind, keine Veränderungen zu befürchten haben, dass wir die Probleme anpacken, weil wir überzeugte Sozialpolitiker sind und deshalb an der Spitze einer Bewegung sein müssen, die dieses System auch dauerhaft befestigt. Diese Botschaft kann ich nur reingeben und kann sagen: Gebt Euch nicht hin dem allgemeinen Misstrauen, das im letzten Jahr aufgetaucht ist, sondern wir müssen jetzt zu einer Diskussion kommen, die uns nach vorne bringt. Sonst wird uns die Rentenfrage ganz anders – und zwar dauerhaft – aus den Händen gleiten.
DLF: Steht die Rentenfrage nicht geradezu beispielhaft für eines der zahlreichen Themen, wo Reformen notwendig sind, wo aber die Stammklientel der SPD sehr zögerlich, wenn nicht gar ablehnend und bremsend ist?
Schartau: Ja gut, dass die Stammklientel der SPD mit Argusaugen drauf achtet, dass die Sozialdemokraten soziale Gerechtigkeit immer im Visier haben, und zwar nicht zum Abschuss freigegeben, sondern zu einer Zukunftsfähigkeit führen, das halte ich eher noch für eine Unterstützung einer Politik. Da soll man es uns auch ruhig nicht so einfach machen, sondern diese Kritik und diese Aufgebrachtheit heißt für die Politik: Bitte schön, die Leute, für die diese Reform eingeleitet wird, die sind misstrauisch, die erwarten Aufklärung, die erwarten, dass über jeden Schritt auch informiert wird, und die wollen weitestgehend auch an Entscheidungen beteiligt werden. Aber eins kann der Politik leider niemand abnehmen, auch kein breiter Protest – nämlich dass letztlich der Politik so oder so die Verantwortung für die nahe Zukunft auf den Rücken geschrieben ist.
DLF: Aber wie viel Modernisierung kann sich die SPD denn noch leisten, wenn sie auch weiterhin Wahlen gewinnen will? Hier in Nordrhein-Westfalen – daran sei erinnert – ist sie geschrumpft von 50 auf nur noch etwas über 42 Prozent, und das bei miserabler Wahlbeteiligung.
Schartau: Meine Auffassung ist die: Die Leute, die Veränderungsprozesse nicht gestalten, sondern meinen, man fährt am besten, wenn man alles lässt wie es ist, die werden an dem Tag, wo das, was war, nicht mehr ausreicht, die größte wahlpolitische Niederlage erleiden. Das heißt, Reformprozesse, die einfach gestaltet werden müssen, weil sich Auffassungen ändern, weil sich demographische Daten ändern, weil wir in einer Gesellschaft leben, wo die Leute älter werden – zum Glück älter werden –, und unser jetziges System auf eine ganz andere Gesellschaft konzipiert war, auch mit einer ganz anderen Lebenserwartung – in einer solchen Situation müssen Reformen gemacht werden. Und die Kunst der Politik ist, die, die von der Reform profitieren sollen, auch mitzunehmen und ihnen das nicht nur zu erklären.
DLF: Herr Minister Schartau, ich bedanke mich für das Gespräch.
Schartau: Für mich heißt dieser Zuschnitt, dass in dem Dreieck von Arbeit, Qualifikation und Technologie sich die Zukunft des Landes entscheiden wird. Arbeit geht in zwei Richtungen. Einerseits haben wir nach wie vor eine große Anzahl an arbeitslosen Menschen. Und diesen Arbeitsmarkt wollen wir in Bewegung halten mit auf Zielgruppen ausgerichteten Maßnahmen. Aber wir kümmern uns insbesondere auch um die Arbeit, die vorhanden ist. Prävention heißt auch, dass man vorhandene Arbeitsplätze ins Visier nimmt, ihre Zukunftsfähigkeit untersucht und als Politik Rahmenbedingungen schafft, die es ermöglichen, moderne Arbeit rauszubilden, die im Zusammenhang mit neuen Systemen von Qualifikation und Qualifizierung die Voraussetzungen schaffen, um neue Technologien herauszubringen und sie zu beherrschen. Das heißt: Dieses Dreieck ist auch für die Zukunft des Landes Nordrhein-Westfalen von maßgeblicher Bedeutung, und es liegt – um auf den vierten Bereich meines Ministeriums zu kommen – auf einer breiten Grundlage einer herauskultivierten sozialen Gerechtigkeit, für die die Landesregierung - auch in meiner Person - Garant sein wird.
DLF: Sie haben in den vergangenen Tagen immer wieder eine Idee angesprochen, die Sie gerne umsetzen möchten in Ihrem neuen Amt – eine Idee, die sich beschreiben lässt mit dem Stichwort ‚Transfergesellschaft‘. Auch das ist ja ein Bestandteil einer präventiven Arbeitsmarktpolitik. Was steckt dahinter?
Schartau: ‚Transfer‘ soll heißen: Es wird immer so sein, dass Arbeitsplätze verloren gehen. Aber ich möchte den Zusammenhang zwischen Verlust des Arbeitsplatzes und Perspektive über den Transfergedanken darstellen. Das heißt: Leute, die heute ihren Job verlieren, gehen, wenn sie nicht gleich eine Anschlussbeschäftigung haben, am nächsten Tag in eine örtliche Transfergesellschaft – eine von Unternehmen betriebene, eine von Handwerksunternehmen betriebene Transfergesellschaft –, die die Aufgabe hat, dem Arbeitnehmer oder der Arbeitnehmerin über Qualifizierung, Umschulungsaktivitäten oder über die Möglichkeit, in anderen Industrie- oder Handwerksbereichen ein Praktikum zu machen und ‚reinschnuppern‘ zu können, und über das Angebot, Mobilitätsberatung zu machen - nämlich: Was hängt mit der Arbeitsaufnahme in einem weit entfernten Ort zusammen, kann man an einem Tag dahin, muss man umziehen - und wenn man umzieht, wie bekomme ich eine Wohnung, was ist mit den Kindern und der Schule? - diese Transfereinrichtung hat einen Sinn: Es soll keine dauerhafte Einrichtung werden mit einem eigenständigen Wirtschaftsauftrag, sondern sie hat eine einzige zielgerichtete Aufgabe, nämlich den Arbeitnehmer von der einen Beschäftigung in eine andere zu überführen. Deshalb ‚Transfer‘ und nicht Arbeitslosigkeit.
DLF: Ist das die Überwindung der Arbeitslosigkeit?
Schartau: Ich glaube, wenn der Gedanke sich verbreitet - und ich habe da gute Hoffnung - werden wir eine Alternative zum jetzigen Umgang mit Arbeitslosigkeit bekommen, die meines Erachtens viele Probleme, die mit der jetzigen Arbeitslosigkeit zusammenhängen, überwinden hilft – angefangen bei dem Problem, dass die Menschen Arbeitslosigkeit als individuellen Tiefschlag empfinden, sich auch alleingelassen fühlen, in ihrem Wertgefühl einen Knick bekommen. Das ist was anderes, wenn ich in den Transfer gehe. Das heißt: Klar, ich kann den Job verlieren – ist nicht unbedingt meine Schuld oder meistens sogar überhaupt nicht –, und ich gehe gleich über Transfer den Weg in eine andere Beschäftigung. Ich bleibe selbst aktiv und muss nicht zu Hause auf der Couch sitzen und mit meinem Schicksal hadern.
DLF: Wie wollen Sie es denn verhindern – bei der Einrichtung dieser Transfer-Gesellschaften –, dass diejenigen, die aus einem Unternehmen kommen, das bankrott gegangen ist, auf lange Dauer dort bleiben und sozusagen nur in einer gehobenen Form von Arbeitsbeschaffungsmaßnahme sich befinden?
Schartau: Das geht nur, wenn in diesen Transfergesellschaften wirklich Transfer gemacht wird, das heißt, nicht aufbewahrt wird, nicht fakultativ irgendwelche Bildungsmaßnahmen angeboten werden, sondern wenn mit der Transfergesellschaft erstens eine Gesellschafterstruktur geschaffen wird von Unternehmen am Ort und in der Region, die sagen: ‚O.k., da machen wir mit, das finden wir gut‘; wenn zweitens in der Transfergesellschaft erfahrene Personalleute arbeiten, die auch Arbeitsplatz-Angebote im Zusammenhang mit der Bundesanstalt, mit den regionalen Anbietern und den Qualifikationen der in die Transfergesellschaft Eintretenden verbinden können. Wenn in der Transfergesellschaft eben auch hart an den einzelnen Aufgaben gearbeitet wird, dann – glaube ich – wird diese Geschichte auch eine Perspektive bekommen.
DLF: Das alles würde ja nur Menschen helfen, die zukünftig mit dem Risiko der Arbeitslosigkeit konfrontiert wären. Noch aber haben wir eine Massenarbeitslosigkeit in Deutschland – 3,8 Millionen waren es in diesem Monat. Man hat ein wenig den Eindruck, dass das Thema ‚Arbeitslosigkeit‘ in den Hintergrund gerückt ist, weil man registriert hat, dass die Arbeitslosigkeit langsam sinkt. Es redet kaum noch jemand über das ‚Bündnis für Arbeit‘. Teilen Sie diesen Eindruck?
Schartau: Ja, den Eindruck teile ich. Im Zeichen guter Konjunktur kann man sich einen Augenblick auch mal über positive Nachrichten freuen. Ich bin aber der Auffassung, dass wir sehr schnell dieses Thema wieder besprechen werden, weil es einen Automatismus zwischen guter Konjunktur und signifikant zurückgehender Arbeitslosigkeit nicht geben wird, sondern wir müssen den Wind, den uns die Konjunktur gibt, den Wind, den beispielsweise in der Stimmungslage die Steuerreform gegeben hat, den müssen wir nutzen, um die Aufgabe zu schultern jetzt in der Frage der Arbeitslosigkeit erheblich weiter nach vorne zu kommen. Und wenn man den Anspruch formuliert, muss man was dafür tun. Nichts läuft von selbst - auch hier nicht.
DLF: Eine Sache, die noch im Herbst wohl für immense politische Auseinandersetzungen sorgen wird, das wird die Verlängerung des Beschäftigungsförderungsgesetzes sein – mit der Möglichkeit, unbegründet Arbeitsverhältnisse zu befristen. Eine Entscheidung, die – wie gesagt – im Herbst ansteht, weil das Gesetz zum Jahresende ausläuft. Arbeitgeberpräsident Hundt hat gesagt, das sei das erfolgreichste beschäftigungsfördernde Instrument der letzten 20 Jahre. Sehen Sie das auch so?
Schartau: Ich glaube, man muss bei diesem Gesetz vor allen Dingen eines immer beachten, nämlich dass die ‚Tassen im Schrank‘ bleiben. Und an den Extremen zu arbeiten, wäre hier sehr schlecht. Es gibt eine Vielzahl von Unternehmen, die sich befristeter Arbeitsverhältnisse bedienen, und es gibt eine Reihe von Unternehmen, die die Befristungen schon zur Grundlage ihrer Beschäftigungspolitik gemacht haben. Ich glaube deshalb, dass es gut sein wird, wenn wir vielleicht bei diesem Gesetz es hinkriegen, die, die sich jetzt in ihren Gräben schon aufstellen, entweder dieses Gesetz ersatzlos auslaufen zu lassen bzw. es unangepasst weiter zu führen, dass wir da sagen: Wir müssen uns die grundsätzliche Wirkung angucken. Natürlich erhöht die Möglichkeit, befristete Arbeitsverhältnisse zu machen, die Bereitschaft bei den Unternehmen, einzustellen, weil sie den Rücken frei haben, sich gegebenenfalls wieder zu trennen. Aber es hat auch zu Missbrauch geführt, indem eben Kettenbefristungen gemacht wurden, und mit der Möglichkeit der Befristung in der Tat meines Erachtens Verunsicherungen auch in den Personalbereich und in den Arbeitsmarkt reingebracht worden ist.
DLF: Missbrauch in nennenswertem Umfang?
Schartau: Ich kann ihn im Augenblick nicht quantifizieren. Alle Berichte, die ich dazu höre und lese und alles das, was ich von Betriebsräten und Gewerkschaften höre, deutet auf jeden Fall darauf hin, dass man es sich ganz genau angucken muss, bevor wir den nächsten Schritt machen. Es kann nicht lange dauern, weil wir eine Entscheidung darüber haben müssen, was ab 1. Januar nächsten Jahres ist. Und meine augenblickliche Prognose ist dann, wenn die Bedenken auf den Tisch gelegt werden und ihre Überspitzung sein gelassen wird, dass man dann auch zu einem Kompromiss kommen kann, der die Beschäftigungswirkung der Möglichkeit, befristet einzustellen verbindet mit einer klaren Regelung gegen Missbrauch.
DLF: Also, Ihre Position: Beschäftigungsförderungsgesetz verlängern ja - aber abgeändert?
Schartau: Ja.
DLF: Im Moment werden Überstundenrekorde in Deutschland registriert. Der Vorsitzende der IG Metall Klaus Zwickel hat gesagt, damit seien die Arbeitgeber nun definitiv mitverantwortlich für die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland. Wie bewerten Sie den Zusammenhang von nur langsam sinkender Arbeitslosigkeit und der steigenden Zahl von Überstunden, die in Deutschland geleistet wird?
Schartau: Dass die hohe Zahl an Überstunden ins Auge fällt in einer Zeit, wo wir eben noch fast vier Millionen Arbeitslose haben, ist vollkommen verständlich. Eine Reihe von Rechnungen, die aufgemacht werden, indem man die Zahl der Überstunden teilt durch die Jahresarbeitsstunden und dann die Zahl möglicher neuen Stellen hat, das ist zwar ganz legitim, es so zu machen. Es hat aber mit der Realität wenig zu tun. Ich bin der Auffassung, dass die Frage, inwieweit das Arbeitszeitvolumen gesteuert wird, schon eine Auswirkung haben kann auf den Arbeitsmarkt. Das bedeutet aber einiges, ich muss einfach verschiedene Beispiele bilden: Es gibt Unternehmen, die fahren eine Arbeit latent mit Unterbesetzung. Das heißt, die Leute müssen permanent mehr Arbeit machen. In diesem Unternehmen würde ich auch den Vorwurf von Herrn Zwickel unterstreichen insofern, dass ich sage: Mensch Meyer, Ihr könnt doch wirklich mal was tun, indem Ihr die Arbeit so umgestaltet, dass Ihr Leute einstellt. In solchen Fällen ist zum Beispiel auch die Frage des Beschäftigungsförderungsgesetzes für mich ein Argument. Es gibt Unternehmen, wo Mehrarbeit sporadisch anfällt. Hier ist die Frage: Kann es einen anderen Umgang mit dem Ausgleich von Mehrarbeit geben, nämlich dass der in Freizeit ausgeglichen wird – und wie kann man jetzt organisieren, dass hier eben neue Leute in den Betrieb reinkommen. Das setzt aber voraus, dass ich die gleiche Qualifikation zur Verfügung stellen kann, dass ich unheimlich flexibel zwischen dem Arbeitszeitregime des Betriebes und von außen reinkommenden Leuten Personal organisieren kann. Und das wird zwangsläufig dazu führen, dass meines Erachtens seriöse Zeitarbeitsunternehmen hier eine Perspektive haben, dass der Beschäftigungszuwachs nicht in den Unternehmen selbst, sondern bei dem seriösen Verleiher entsteht, der in der Lage ist, mit dem Betrieb zu korrespondieren. Dann gibt es meines Erachtens natürlich in der breiten tarifpolitischen Landschaft schon einen Umgang mit Mehrarbeit, der dahin geht, dass Mehrarbeitsguthaben angespart werden auf Langzeit- oder Langfristkonten, die dann ermöglichen, beim Älterwerden flexibler mit der Arbeitszeit umzugehen, kürzer arbeiten zu können, ohne Einkommenseinbußen zu haben. Mein Petitum in dieser Geschichte ist: Wer sich ernsthaft um den Abbau von Arbeitslosigkeit bemüht, der darf die Überstundenfrage nicht aus dem Auge lassen. Auch meine ganz persönlichen Erfahrungen als Gewerkschafter zeigen: In den Unternehmen, wo es gewollt ist, geht es. Da wird ein Beschäftigungsaufbau durch einen anderen Umgang mit Arbeitszeit erzielt. Das heißt aber, dass gute Überlegungen angestellt werden müssen im Qualifikationsbereich, in der Frage, wie von außen mit dem Betrieb Personal ausgetauscht wird, und wie man dem Unternehmen auch Hilfestellung gibt bei der Organisation dieses Prozesses, damit keine neuen Bürokratien entstehen.
DLF: Heißt das, dass sowohl Gewerkschaften wie auch Arbeitgeber bislang viel zu phantasielos mit dem Problem ‚Überstunden‘ umgegangen sind?
Schartau: Die Phantasien waren – glaube ich – schon da. Die Umsetzung in die Praxis muss bei diesem Volumen mit erheblich größerer Konsequenz noch angepackt werden.
DLF: Herr Schartau, es gibt viele Experten, die sagen: ‚Den wirklichen, durchgreifenden Durchbruch auf dem Arbeitsmarkt mit 3,8 Millionen Arbeitslosen – den werden wir erst erreichen, wenn es tiefgreifende Strukturveränderungen, zum Beispiel im Arbeitsrecht gibt, zum Beispiel im Bereich des Kündigungsschutzes‘. Halten Sie so etwas auch für erwägenswert?
Schartau: Ja, ich bin ja skeptisch gegenüber dem goldenen Weg, also den Leuten, die Patentrezepte haben. Da gucke ich lieber noch mal eine Seite weiter. Wir haben in der Bundesrepublik angefangen mit einer Vielzahl von Maßnahmen, die im Tarifbereich schon entstanden sind. Aber auch im Arbeitsrecht haben wir – glaube ich – die Spielräume, die sich aus praktischen Veränderungen in der Realität ergeben haben, schon ausgefüllt. Modelle, die uns beispielsweise die amerikanische Gesellschaft vorführen wollen - da kann ich immer nur sagen: Wir leben hier an Rhein und Ruhr, wir haben hier eine eigene Kultur und wir müssen unsere eigenen Lösungen schon selbst finden. Das heißt in der Zusammenfassung: Notwendige Veränderungen, Lockerungen oder auch andere Regulierungen – denen kann sich in der Diskussion keiner entziehen. Wenn es sinnvoll ist, lass es uns machen. Aber das Patentrezept dazu wird es nicht geben, denn die, die eine absolute Deregulierung bevorzugen, machen sich über andere Aspekte, nämlich dass die Unternehmen und die Beschäftigten selbst eine Art von Sicherheit und Kontinuität brauchen, oftmals viel zu wenig Gedanken.
DLF: Aber was bedeutet das für das Beispiel, das ich genannt habe - Kündigungsschutz. Gehört das zu den Dingen, die erwägenswert sind, oder gehört das zu dem, was auf keinen Fall angerührt werden sollte im deutschen Arbeitsrecht?
Schartau: Ich halte den Kündigungsschutz in der augenblicklichen Form für in Ordnung.
DLF: Ich sagte es vorhin – die Arbeitslosenquote in Deutschland sinkt langsam. Sinkt sie schnell genug, um im nächsten Jahr den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung zu senken?
Schartau: Ja, also mein Ziel ist im Augenblick – obwohl ich mich auch verpflichtet fühle der allgemeinen politischen Ausrichtung, die Lohnnebenkosten zu senken – mein augenblickliches Ziel ist eigentlich, evtl. auftretende Reserven, die wir aus einer auch konjunkturell und demographisch beflügelten Minderung der Arbeitslosigkeit haben, lieber auf weitere Maßnahmen im Bereich der Arbeitsmarktpolitik zu fokussieren, und zwar solche Maßnahmen, die Übergänge organisieren, die Leute und den Arbeitsmarkt in Bewegung halten, die es nicht zulassen, dass einzelne Arbeitslosengruppen quasi abgehakt werden. Ich würde mich schon dafür einsetzen, dass man - ohne das allgemeine Ziel aus dem Auge zu verlieren, die Nebenkosten zu senken – trotzdem den guten Ideen in der Arbeitsmarktpolitik, die den Übergang in den ersten Arbeitsmarkt immer wieder organisieren, im Augenblick noch den Vorzug gibt.
DLF: In den nächsten Monaten, Herr Minister, wird in Berlin weiter um die Rentenreform gerungen werden. Einer der Ansatzpunkte der gewerkschaftlichen Kritik dabei ist die zu starke Absenkung des Rentenniveaus. Hämisch ist das in den Zeitungen schon kommentiert worden als ‚Aufstand gegen Adam Riese‘. Welches Niveau ist machbar, welches ist akzeptabel?
Schartau: Die Diskussion über die Rentenreform im Augenblick – ich möchte sie immer mit einem beginnen, nämlich: Die Menschen, die ihr ganzes Leben gearbeitet haben und die sich während dieser Arbeit darauf verlassen haben, dass sie mit ihrer Rente hinterher ein Großteil ihrer Ausgaben decken können, die müssen auch in der augenblicklichen Rentenreform von jedem, der sich klug oder weniger klug zu Wort meldet, als erstes hören, dass es einen breiten gesellschaftlichen Konsens gibt, dass wir Vertrauensschutz gewähren und denen, die schon Rentner sind, nicht zumuten, sich auf irgendein anderes System einstellen zu müssen, auf das sie sich gar nicht mehr einstellen können. Das ist bei mir auch grundsätzliche Auffassung. Das heißt, dass ich zunächst einmal sage: Wenn über irgendwelche Rentenniveaus geredet wird, dann sind das Rentenniveaus für Leute, die in vielen, vielen Jahren in Rente gehen und denen ich heute sage, auf welches Niveau bei der gesetzlichen Rente sie sich einstellen müssen und wie wir ihnen bei ihrer Gesamtversorgung aus gesetzlicher und staatlich geförderter kapitalgedeckter Eigenvorsorge helfen. Das zukünftige Rentenniveau in Verbindung mit der staatlich geförderten Eigenvorsorge wird eine Versorgung erreichen, die über dem augenblicklichen Rentenniveau steht. Dabei ist ein Problem, dass wir natürlich Menschen haben, die aufgrund ihrer Einkommensverhältnisse und ihrer persönlichen Situation nicht in der Lage sein werden, eine entsprechende kapitalgedeckte Eigenvorsorge zu betreiben. Über diese Fragen ist im weiteren Konsensprozess Diskussion bereits angekündigt und auch Offenheit angesagt. Ich glaube, dass wir hier einen Punkt haben, über den bis zum Abschluss der Rentenreform noch gesprochen werden muss. Die Ängste, die im Augenblick in die Bevölkerung gejagt werden, die halte ich für außerordentlich bedenklich, denn hier geht es um Vertrauen in die Politik.
DLF: Ist das auch Kritik an beispielsweise der stellvertretenden DGB-Vorsitzenden Ursula Engelen-Kefer, die ja, wie andere Gewerkschafter auch, einen ‚heißen Rentenherbst‘ angekündigt hat?
Schartau: Ja, das ist auch Kritik an Ursula Engelen-Kefer, weil der erste Satz, dass die, die jetzt in Rente sind, sich keine Sorgen machen müssen – den habe ich von ihr noch nicht gehört. Und wenn die äußerst komplizierte Verrechnung beim zukünftigen Anstieg der jetzigen Renten, die ja unverändert ansteigen werden, wo jetzt bereits überlegt wird, ob im nächsten Jahr wir zu einer normalen nettolohnbezogenen Anpassung wieder kommen – wenn das als ein Argument genommen wird, um den jetzt in Rente Befindlichen Angst einzujagen, dann kann ich nur sagen: Alle Achtung, da wird aber leichtfertig mit den Gefühlen der Leute umgegangen.
DLF: Kritik an der Rente gibt es ja nicht nur aus den Reihen der Gewerkschaftsfunktionäre, sondern – wenn man den Darstellungen Glauben schenkt – auch an der Basis – Gewerkschaftsbasis wie an der Parteibasis der SPD. Da soll es SPD-Präsidiumsmitglieder geben, die sagen: ‚Da droht uns der Laden um die Ohren zu fliegen‘. Wie empfinden Sie das? Wie unruhig ist die Basis hier in Nordrhein-Westfalen?
Schartau: Die Rentenfrage ist seit Mitte letzten Jahres mehr als sensibel. Da liegen die Nerven blank. Da ist in vielen Bereichen kein Platz mehr für eine differenzierte Diskussion. Und das ist schlecht. Es muss sich was verändern. Da bleibt auch wenig Zeit für, weil Rentenfragen immer auf Dauer angelegt werden. Und ich kann auch da nur in die Reihen der SPD selbst die Botschaft reingeben: Es ist notwendig, dass wir auf der Basis, dass die, die jetzt in Rente sind, keine Veränderungen zu befürchten haben, dass wir die Probleme anpacken, weil wir überzeugte Sozialpolitiker sind und deshalb an der Spitze einer Bewegung sein müssen, die dieses System auch dauerhaft befestigt. Diese Botschaft kann ich nur reingeben und kann sagen: Gebt Euch nicht hin dem allgemeinen Misstrauen, das im letzten Jahr aufgetaucht ist, sondern wir müssen jetzt zu einer Diskussion kommen, die uns nach vorne bringt. Sonst wird uns die Rentenfrage ganz anders – und zwar dauerhaft – aus den Händen gleiten.
DLF: Steht die Rentenfrage nicht geradezu beispielhaft für eines der zahlreichen Themen, wo Reformen notwendig sind, wo aber die Stammklientel der SPD sehr zögerlich, wenn nicht gar ablehnend und bremsend ist?
Schartau: Ja gut, dass die Stammklientel der SPD mit Argusaugen drauf achtet, dass die Sozialdemokraten soziale Gerechtigkeit immer im Visier haben, und zwar nicht zum Abschuss freigegeben, sondern zu einer Zukunftsfähigkeit führen, das halte ich eher noch für eine Unterstützung einer Politik. Da soll man es uns auch ruhig nicht so einfach machen, sondern diese Kritik und diese Aufgebrachtheit heißt für die Politik: Bitte schön, die Leute, für die diese Reform eingeleitet wird, die sind misstrauisch, die erwarten Aufklärung, die erwarten, dass über jeden Schritt auch informiert wird, und die wollen weitestgehend auch an Entscheidungen beteiligt werden. Aber eins kann der Politik leider niemand abnehmen, auch kein breiter Protest – nämlich dass letztlich der Politik so oder so die Verantwortung für die nahe Zukunft auf den Rücken geschrieben ist.
DLF: Aber wie viel Modernisierung kann sich die SPD denn noch leisten, wenn sie auch weiterhin Wahlen gewinnen will? Hier in Nordrhein-Westfalen – daran sei erinnert – ist sie geschrumpft von 50 auf nur noch etwas über 42 Prozent, und das bei miserabler Wahlbeteiligung.
Schartau: Meine Auffassung ist die: Die Leute, die Veränderungsprozesse nicht gestalten, sondern meinen, man fährt am besten, wenn man alles lässt wie es ist, die werden an dem Tag, wo das, was war, nicht mehr ausreicht, die größte wahlpolitische Niederlage erleiden. Das heißt, Reformprozesse, die einfach gestaltet werden müssen, weil sich Auffassungen ändern, weil sich demographische Daten ändern, weil wir in einer Gesellschaft leben, wo die Leute älter werden – zum Glück älter werden –, und unser jetziges System auf eine ganz andere Gesellschaft konzipiert war, auch mit einer ganz anderen Lebenserwartung – in einer solchen Situation müssen Reformen gemacht werden. Und die Kunst der Politik ist, die, die von der Reform profitieren sollen, auch mitzunehmen und ihnen das nicht nur zu erklären.
DLF: Herr Minister Schartau, ich bedanke mich für das Gespräch.