Donnerstag, 28. März 2024

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Schicht im Schacht
Das Erbe des Steinkohle-Bergbaus im Ruhrgebiet

In genau einem Monat ist es soweit: Bergleute aus dem Ruhrgebiet werden ein letztes Stück Kohle aus der Erde holen und den Steinkohlebergbau bundesweit für beendet erklären. Es ist der Abschied von einer jahrhundertelangen Industriegeschichte, die die Region auch kulturell tief geprägt hat.

Von Moritz Küpper | 21.11.2018
    Die Silhouette vom Malakowturm der Zeche Prosper-Haniel in Bottrop, aufgenommen bei Sonnenuntergang
    Steinkohledämmerung: Am 21. Dezember schließt Prosper-Haniel, die letzte Steinkohlezeche in Deutschland (dpa/Julian Stratenschulte)
    Nassgeschwitzt, das Gesicht rußverschmiert und den Helm ein wenig schief verrutscht auf dem Kopf, steht Angela Rabaszynski am Ausgang von Schacht 10 der Zeche Prosper Haniel - und ist glücklich: "Toll, ja, kann ich gar nicht sagen. Also, es fällt mir schwer, da jetzt..." Rabaszynski, vor mehr als 53 Jahren hier in Bottrop geboren, sucht nach Worten. Gut vier Stunden war sie gerade selbst unter Tage.
    "Ja, die Hitze, das war ja an dieser einen Stelle. Das habe ich vorher nicht gewusst, dass das da wirklich original 42 bis 45 Grad sind." Ihre einst weiße, nun auch rußverschmierte Baumwolljacke, über dem blau-weiß gestreiften Bergmannshemd, ist immer noch offen. Rabaszynski ist einfach glücklich, dass es doch noch geklappt hat, mit ihrer Fahrt unter Tage.
    Schlusspunkt einer jahrhundertelangen Industriegeschichte
    "Als ich vor ein paar Jahren mitbekommen habe, dass hier 2018 dann endgültig Schicht im Schacht ist, habe ich überlegt: Wie kann man es anstellen? Und dann war vor ein paar Wochen ein Gewinnspiel in so einer Wochenbeilage – und tatsächlich habe ich das gewonnen. Das war für mich, als hätte ich eine Reise nach Mallorca gewonnen, also, vom Feeling her, weil: Du bist als Kind… hier in Bottrop geboren, Kind des Ruhrpotts und warst noch nie da unten gewesen. Das kann doch nicht wahr sein!"
    Die letzten Tage unter Tage sind nun definitiv angebrochen. Am 21. Dezember, in genau einem Monat, ist offiziell Schluss. Dann werden bei einem Festakt in Bottrop ein paar Bergleute aus dem Schacht kommen und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das letzte Stück Kohle überreichen. Der Schlusspunkt hinter einer jahrhundertelangen Industriegeschichte.
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    Mehr als 150 Jahre wurde im Ruhrgebiet Kohle gefördert (imago stock&people)
    "Das war in den letzten 150 Jahren die zentrale Energieressource, der wichtigste Rohstoff. Man kann schon sagen, in jedem Bereich – ist es Chemie, ist es Industrie, ist es Alltag, ist es die Heizung der Leute zuhause, sind es beide Kriege, sind es Friedensverhandlungen nach dem Krieg - wo immer Sie hingucken, stoßen Sie auf Kohle", sagt Franz-Josef Brüggemeier, Professor für Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte an der Universität Freiburg.
    Er selbst ist in Bottrop geboren, also auf Kohle, wie es dort heißt. Nun hat er dem Rohstoff ein Buch gewidmet: "Grubengold. Das Zeitalter der Kohle von 1750 bis heute" heißt das Werk: "Der Anlass ist relativ profan: Zwei Zechen schließen, was nun schon mal für das Ruhrgebiet wichtig genug ist, aber darüber hinaus verbirgt sich dahinter eigentlich eine gesamteuropäische Geschichte."
    Riesenandrang auf die letzten Besuchstouren
    Die Zeche Ibbenbüren, die am 4. Dezember schließt, und eben Bottrop zum Jahresende, sind die letzten beiden von einst knapp 150 Steinkohlezechen im Ruhrgebiet. Nur dank der Kohle wurde aus kleinen Dörfern das größte Industrierevier Deutschlands, entstand mit dem Ruhrgebiet eine Region, die ansonsten wohl eine zersplitterte, dünn besiedelte Sumpflandschaft geblieben wäre. Im Jahr 1957 arbeiteten rund 600.000 Menschen im Bergbau, im nächsten Jahr - dem ersten ohne aktive Zechen - werden es nur noch einige Hundert sein, die sich um die Abwicklung und die Folgeschäden kümmern sollen.
    "Hallo, Glück auf." - "Guten Morgen." Gut sechs Stunden bevor Angela Rabaszynski rußverschmiert und glücklich wieder an die Tagesoberfläche kommen wird, steht sie am frühen Morgen am Werkstor vor Prosper Haniel in Bottrop. "Sind wir komplett?" - "Das wissen Sie wahrscheinlich besser als wir."
    Bergleute in Arbeitskleidung und mit Helmen.
    Arbeit in 1.250 Meter Tiefe: Bergleute der Zeche Prosper-Haniel steigen aus dem Förderkorb (picture alliance/Oliver Berg/dpa)
    Zwei Besuchergruppen täglich, jeweils zwölf Personen, können bis zum Jahresende noch das Gefühl bekommen, einmal unter Tage gewesen zu sein - und das Interesse ist riesig: Zuletzt kamen auf einen Platz über 50 Interessenten, doch Nachrücker haben keine Chance. Bis in den Januar dürfen noch Mitarbeiter und ihre Angehörigen einfahren, um einen letzten Eindruck zu bekommen. Nun haben acht Männer und vier Frauen die Möglichkeit dazu.
    "So, 9.30 Uhr. Zehn Minuten Einführung, wir sind ein bisschen spät dran, aber ist ja nicht schlimm…" Siddik Eminoglu, über 30 Jahre selbst Revier-Steiger, nun für die Besuchergruppen zuständig, begrüßt in einem schmucklosen Raum. Kaffeetassen und Wasser gibt es, dazu eine Sicherheitseinweisung - und eine Lektion im Umgang: "Auf dem Bergwerk duzen wir uns - wenn ihr damit einverstanden seid. Ich habe auch einen Spitznamen für Euch, damit das auch einfach ist. Man nennt mich auch Siggi."
    Bei der Besuchergruppe in Bottrop drängt die Zeit: Eingefahren wird pünktlich. In der Waschkaue, also der Umkleide, gibt es die weiße Arbeitskleidung, Helm, Schutzbrille, Knieschoner und Arbeitsschuhe für alle. "Ich bin hier, weil ich es vor allem meiner Tochter noch mal zeigen sollte: Wir wohnen in Kamp-Lintfort, Bergbaustadt. Da hat die Zeche schon zugemacht."
    Subventionen, Ausstieg und Arbeitslosigkeit
    Fast genau 60 Jahre ist es her, dass das Zechensterben begann: Im November 1958 wurde das Steinkohle-Bergwerk Minden in Ostwestfalen stillgelegt. Der Grund: Die Förderung lohnte sich schlichtweg nicht mehr - was nach und nach auch für alle anderen Standorte galt. Doch im sogenannten "Marsch nach Bonn" im Jahr 1959, der mit 60.000 Teilnehmern die größte Demonstration in der Geschichte der jungen Bundesrepublik war, zeigte sich auch die Mobilisierungskraft der Kumpel und der Gewerkschaften, die über Jahrzehnte anhalten sollte.
    "Er kann den Bergbau von mir haben, wenn er uns neue Arbeitsplätze gibt. So." - Direkte Sprache – aber nicht unwirksam. 1968 kam es daher zur Gründung der Ruhrkohle AG, der heutigen RAG. Eine Bergwerks-Einheitsgesellschaft, die damals fast 50 deutsche Schachtanlagen und 200.000 Beschäftigte zusammenfasste. Ihr Auftrag: Einen leistungsfähigen Bergbau garantieren und die Fördermengen kontrollieren. Im Gegenzug gab es Stilllegungsprämien, Abnahmegarantien und Subventionen - und Kritik. Denn trotz roter Zahlen wurde die deutsche Kohleförderung jahrzehntelang aufrechterhalten.
    "Sie wissen ja, wie das in der Politik ist: Das war jedem bekannt, und dennoch hatte man Angst, eine solche zentrale Entscheidung politisch zu fällen", sagt Jürgen Rüttgers rückblickend. Der ehemalige nordrhein-westfälische Ministerpräsident von der CDU leitete den Ausstieg ein, zusammen mit den Gewerkschaften, dem Unternehmen und der Bundesregierung. Zu spät, hieß es auf der einen Seite. Jahrzehntelang seien Subventionen verschwendet worden. Zu früh, hieß es anderswo, denn so mache man - trotz weiterem Bedarf und Steinkohle-Vorkommen - eine Region kaputt. Gelsenkirchen beispielsweise ist regelmäßiger Spitzenreiter bei der Arbeitslosen-Quote.
    Deutsche Kohle auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig
    Fakt ist: Anfang 2007 war besiegelt, dass der Ausstieg elf Jahre später kommen wird: "Wir haben uns das nicht leicht gemacht, nicht einfach mal so aus einer politischen Laune heraus gesagt, jetzt ist Schluss. Sondern wir haben mehrere Jahre da gesessen und haben darüber nachgedacht: Ist das verantwortbar? Es war für Viele, Viele nicht leicht. Aber es war richtig, es zu tun. Es hat dazu geführt, dass wir dann auch Geld hatten, neu zu investieren."
    Auf dem Weltmarkt kostet eine Tonne Kraftwerkskohle heute umgerechnet etwa 60 bis 90 Euro, die nun importiert wird. Denn: Deutschland steigt zwar aus dem Steinkohle-Bergbau aus, aber noch lange nicht aus der Verstromung dieses Rohstoffs. Die deutsche Kohle ist aber rund doppelt so teuer - was am Abbau liegt. In Australien beispielsweise werden bis zu 30 Meter starke Kohleschichten abgebaut, oberirdisch. Im Ruhrgebiet sind die ergiebigsten Flöze zweieinhalb Meter dick und liegen in über 1.200 Metern Tiefe.

    Dort, wohin nun die Bottroper Besuchergruppe fährt, liegen zwar noch Kohlevorräte für Jahrzehnte, aber der Ausstieg ist beschlossene Sache. Auf der Zechenanlage in Bottrop liegen bereits über 30.000 Kubikmeter Beton bereit, mit dem der Schacht dann verschlossen wird. "Wir fahren gleich auf die siebte Sohle. Die Sohle ist die Etage, kann man sagen." Ungefähr zweieinhalb Minuten dauert die Fahrt im Förderkorb. Endstation in exakt 1.229 Metern Tiefe. "So dann herzlich willkommen auf der siebten Sohle."
    Der Luftzug ist spürbar, es ist wärmer als oben - aber noch ein gutes Stück bis zum Streb, dem Bereich, wo die Kohle abgebaut wird. Gut eine halbe Stunde laufen, dann auf die sogenannte Dieselkatze, eine Art Hängebahn, auf der die Kumpel, nun die Besuchergruppe, hintereinander sitzend, durch die Stollen fahren. Fast 30 Minuten dauert es, mit etwa 10 km/h. Dann ruckelt es, die Dieselkatze bleibt stehen. Nun geht es, wieder zu Fuß weiter - auf matschigem Untergrund. 104 Kilometer lang ist das unterirdische Grubenlabyrinth auf Prosper-Haniel, es ist ein gigantisches Netz, das sich tief in der Erde entspinnt. Die Zahl der Schächte, Gruben und Stollen im Ruhrgebiet und im Aachener Revier wird auf rund 60.000 geschätzt.
    Der mit schwarzem Staub bedeckte Bermann im blauen Shirt schippt Kohle in einem Stollen. Er trägt einen Helm mit Lampe und eine Schutzbrille. 
    "Maloche" unter Tage - der Abbau deutscher Steinkohle ist schon seit den 1960er Jahren zu teuer (Oliver Berg / dpa)
    Kampf mit den Altlasten
    "Durch den über 150 Jahre alten Abbau hat natürlich der Steinkohlenbergbau eingegriffen in die Deckschichten als solches." Markus Roth, 50 Jahre alt, ist Geologe - und Wasser-Fachmann beim Bergbaukonzern RAG. Er steht auf der stillgelegten Zeche Walsum in Duisburg. Über Jahrzehnte wurden Abermillionen Tonnen von Kohle und Gestein aus dem Boden geholt. In der Folge ist das Ruhrgebiet gewaltig abgesackt: Im Schnitt um zwölf Meter, die Essener Innenstadt ist fast 30 Meter abgesunken. Über 200 Pumpen sind daher nötig, damit das Ruhrgebiet nicht zur Seenplatte wird.
    "Ein Anstieg komplett ohne Pumpen wäre natürlich wieder das Einstellen eines natürlichen Zustandes. Aber dieser natürliche Zustand ist durch den jahrhundertelangen Steinkohlenbergbau gestört. Und insofern sind wir gehalten, das Wasser nur soweit ansteigen zu lassen, wie es zum Schutz der Tagesoberfläche notwendig ist."
    Denn: Grubenwasser ist salzig und mit der Chemikalie PCB belastet, die früher unter Tage als Flammschutzmittel in den Maschinen vorgeschrieben war. Durch die alten Abbau-Schächte würde das Wasser nach oben steigen. Roth steht neben einem 780 Meter tiefen, alten Schacht, der bereits versiegelt ist und durch den eben eine Pumpe in die Tiefe gelassen wird. 2.300 PS hat das fast fünfzehn Meter lange Gerät, mit dessen Hilfe das Grubenwasser nach oben kommt – bis zu 9.000 Liter pro Minute. Die Pumpen müssen ewig weiterlaufen. Das kostet eine Menge Strom – und viel Geld.
    Eine Stiftung für die Ewigkeitskosten
    "Ja, die Idee bei der Stiftungsgründung war ja, dass man den werthaltigen Teil von dem Beihilfe-abhängigen Teil trennt und dass man beides unter die RAG-Stiftung setzt." Bernd Tönjes war einst selbst Steiger auf dem Bergwerk Lippe. Nun ist er Chef der sogenannten RAG-Stiftung. Dieses Konstrukt, das einst vom Energie-Manager und ehemalige Bundeswirtschaftsminister Werner Müller erdacht wurde, erhielt das Milliardenvermögen aus den Industriebeteiligungen und den Immobilien der Bergwerke.
    "Mit der Maßgabe, dass dann nach Beendigung des Steinkohlenbergbaus, also ab 2019, die RAG-Stiftung mit dem verfügbaren Vermögen und dem Einkommen daraus dann die Nach-Bergbau-Kosten tragen kann, ab 2019 wie gesagt. Das war die damals, ja, mutige Annahme und heute, zehn Jahre später, kann ich sagen, dass diese Annahme zu 100 Prozent aufgegangen ist."

    Heute gehört der Stiftung die Mehrheit am Chemiekonzern "Evonik" und weitere Beteiligungen. Alles in allem hat sie bis heute fünf Milliarden Euro für Rückstellungen gesammelt. Geld, um die sogenannten Ewigkeitskosten zu übernehmen. Von gut 220 Millionen Euro pro Jahr war man da bisher ausgegangen. "Jetzt sind die Preise aber natürlich auch gestiegen. Die Zahlen werden etwas höher ausfallen."
    Bei rund 450 Millionen Euro Einnahmen aus Unternehmensbeteiligungen aktuell, ist sich Tönjes jedoch sicher, dass das Stiftungsmodell ab dem nächsten Jahr funktioniert. Parallel dazu ist das Unternehmen RAG verpflichtet, die sogenannten Bergbau-Schäden zu bearbeiten, beispielsweise wenn Häuser Risse bekommen oder verzogen sind. Noch etwa 30 Jahre wird die RAG dafür zahlen müssen, erst dann – so heißt es – hat sich der Untergrund beruhigt.
    Die Zeche Prosper-Haniel in Bottrop
    Wenn die letzte Zech geschlossen hat, bleiben die Folgekosten: 220 Millionen Euro pro Jahr (dpa)
    "Dass es jetzt zu Ende geht, finde ich schade"
    Die Besuchergruppe aus Bottrop ist am Streb angekommen, Siggi gibt die letzten Anweisungen: "Wir machen die Lampe hier drauf…" - "Man sieht gar nichts!" - "Helm auflassen. Nicht den Helm absetzen." Auch die Knieschoner werden angelegt - und dann geht es rein, gebückt, teilweise auf Knien. Nach ein paar Metern ist Schluss, die Besuchergruppe liegt jetzt entlang der Abbaukante, unter einem sogenannten Schild, erklärt Siggis Kollege, Klaus Pütz, ebenfalls Bergmann. "Wo wir uns jetzt so geduckt drunter halten, das ist die Schildkappe, hier über uns, und die hält drei Einfamilienhäuser aus."
    Auch Soner Gider aus Bottrop, 31 Jahre alt, liegt hier: "Mein Oppa war einer der ersten Türken, die hierhin gekommen sind. Bin selber türkischer Abstammung. Dann wird einem bewusst, was er so geleistet hat. Mein Onkel, was die geleistet haben. Jetzt verstehe ich, was malochen bedeutet." Es ist laut, heiß, stickig und eng. Doch Giders Augen leuchten: "Also, das Ruhrgebiet ist durch den Bergbau entstanden, die ganzen Kulturen, alle, die hierhingekommen sind. Und dass es jetzt zu Ende geht, finde ich jetzt schade." Ein Gefühl, dass nicht nur Soner Gider hat: "Glückauf, glückauf, der Steiger kommt…"

    "Danke Kumpel", so hieß es Anfang dieses Monats in Bottrop, in Ibbenbüren, auf der Zeche Zollverein in Essen, in Hamm und Dinslaken. Über 10.000 Menschen sind zu Bürgerfesten gekommen: "Wir wollten uns einfach bedanken für die schöne Zeit und Abschied nehmen." - "Das geht unter die Haut, aber richtig." - "Der Zusammenhalt, ob das nochmal so wird in irgendeiner Gemeinschaft, ist kaum zu glauben." Fast jeder hier hat selbst im Bergbau gearbeitet, hat einen Vater, Großvater oder Onkel, der unter Tage war.
    Sechs ältere Bergleute in grauen Arbeitsanzügen und mit Helmen mit Lampen blicken - teils lächelnd - nach rechts oben.
    Der Zusammenhalt unter den Kumpel hat das gesamte Leben im Ruhrgebiet geprägt (Caroline Seidel / dpa)
    "Ich hoffe, dass vieles von den Werten der Bergleute und des Ruhrgebiets mitgenommen wird in die kommenden Jahre, weil es wichtig ist für den Zusammenhalt einer Gesellschaft", sagt auch Ralf Sikorski von der Gewerkschaft IG BCE. Doch Historiker Brüggemann ist skeptisch. Vielerorts, so der Buch-Autor, sei dieser Abschied längst vollzogen: "Ich glaube nicht, dass das grundlegend an, wie das immer so schön heißt, Identitäten der Leute geht, sondern es ist einer der Aspekte, die ihr Leben geprägt haben oder über die sie gerne mehr wissen wollen. Und dann ist aber auch gut."
    Tradition und Tugenden
    Verkommen der Bergbau, die Kumpel, zur romantischen Folklore? Es ist eine Sorge, die auch auf dem diesjährigen 13. Deutschen Bergmanns-, Hütten- und Knappentag in diesem Sommer spürbar war. Kurt Wardenga, der Bundesvorsitzende der Vereine, trägt Uniform. "Tradition erhalten, Zukunft gestalten", heißt es auf der Leinwand hinter ihm – doch die große Frage lautet auch hier: Wie? "Wenn die letzten Bergwerke in NRW geschlossen werden, wird die Arbeit für die Bergmannsvereine nicht leichter. Wir werden auch weiterhin alles versuchen, die schöne Traditions- und Brauchtumspflege der Bergmannsvereine zu fördern."
    Es ist ein Versprechen, das an diesen beiden Tagen im Ruhrgebiet fast schon wie ein Mantra wiederholt wird – auch von Uwe Enstipp, dem Vorsitzenden des NRW-Landesverbandes, zugleich Mitglied im Knappenverein Glückauf Bochum-Werne von 1884: "In unserem Stadtteil gibt es schon seit 50 Jahren keine kohlefördernde Schachtanlage mehr. Trotzdem zählt unser Verein noch knapp 200 Mitglieder." Enstipps Botschaft: Es geht weiter - auch ohne Bergbau.
    Armin Laschet wiegt den Kopf hin und her. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident von der CDU ist selbst Sohn eines Bergmanns: "Also, natürlich ist es ein Stück Tradition, auch Folklore. Aber es geht ja um Tugenden, die hier gelebt wurden; die Tugenden der Verlässlichkeit. Dass man nicht fragte, wo jemand herkommt, sondern ob man sich auf ihn verlassen kann und vieles andere mehr. Das ist auch die Tradition, die bewahrt wird, und das wird auch über die letzte Grubenfahrt hinaus von Bedeutung sein."

    Auch Laschet fuhr kürzlich nochmal unter Tage ein, nahm seinen Vater mit nach Bottrop. Dorthin, wo jetzt auch Soner Gider aus der Besuchergruppe im Streb kniet. Er hat noch einen Wunsch: "Jetzt müssen wir einmal den Hobel sehen, dafür bin ich ja hier unten." Der Hobel ist ein Eisenklotz, der an der Kohleschicht entlanggezogen wird, die Kohlen abschält. Er rauscht heran und zieht eine Staubwolke nach sich. Als diese sich gelegt hat, erscheint Giders zufriedenes Gesicht: "Ja, super, fährt auch voll schnell vorbei. Genial."
    Armin Laschet (CDU), Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen nach seiner Grubenfahrt auf der Zeche Prosper-Haniel in Bottrop
    Armin Laschet, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen ist sich sicher: Die Tugenden der Kumpel werden bleiben (dpa/Federico Gambarini)
    Die Kumpel-Mentalität erhalten
    Steiger Siggi gibt das Signal zum Rückzug. Die Gruppe meldet sich ab: "Steuerstand melden. Besuchergruppe ist aus dem Streb wieder herausgekommen, vielen Dank. Glückauf!" - "Alles klar, schöne Heimreise!" Doch fast eine Stunde dauert dieser Rückweg noch. Dann Ausziehen, Duschen, den Ruß abschrubben.
    "Also, grundsätzlich trägt jedes Teil immer Bergmannshemd. Mal hier am T-Shirt am Arm abgesetzt, mal im Nacken mit eingenäht…" Matthias Bohm geht zu einem Kleiderständer in der Mitte seines Ladens. "Grubenhelden", so heißt das Label, das vor knapp drei Jahren startete, und alte Bergmanns-Kleidung aufkauft. Bohm verkauft Mode im Bergarbeiter-Look, seine Mission: Respektvoll an die Geschichte des Bergbaus erinnern. Im kommenden Jahr hat er es auf die "New York Fashion Week" geschafft, dem begehrtesten Laufsteg der Welt. Für das Etablieren einer Start-Up-Szene im Ruhrgebiet stehen Millionen Euro an Fördermitteln bereit, hofft man auf die hunderttausenden Studierenden, die es hier mittlerweile gibt - und will trotzdem die Kumpel-Mentalität erhalten.
    "Ich glaube nicht, dass es Nostalgie wird. Sondern, ich hoffe, dass unsere Geschichte bleibt und weiter erzählt wird." Zur Ehrlichkeit gehört aber auch, dass die Mentalität des Bergbaus, des Ruhrgebiets, ein gewisses Obrigkeitsdenken war. Matthias Bohm von den "Grubenhelden" nickt: Doch gerade sein Start-up, seine Art, Dinge einfach anzupacken, stehe für das Gegenteil. "Und wenn es ein paar Leute gibt, die gewissen anderen Leuten in den Hintern treten, um diesen Anschluss zu verwirklichen, kann da eine Welle ins Rollen kommen."
    Die Besuchergruppe aus Bottrop ist zwischenzeitlich wieder über Tage angekommen, sitzt mit Steiger Siggi bei einem Teller Suppe zusammen. "Aber was war denn das Highlight für Euch heute? Unter Tage?" - "Die Gewalt, mit der der Hobel durch diese Haufen Kohle und Stein pflügt, als ob das Watte wäre. Man riecht quasi eine Welt, die mal nicht diese Luft hatte…" Und die nun zu Ende geht – zumindest im Ruhrgebiet.