Archiv


Schmerz als Passion

Günther Uecker gehört zu den einflussreichsten deutschen Künstlern der Gegenwart. Seit beinahe fünf Jahrzehnten hämmert er seine Nagelbilder: große bemalte Platten, manchmal mit Stoff bespannt, in die er Tausende Nägel treibt. Die Geschichte der Passion Christi hat das spitze Eisen religiös aufgeladen.

Von Hans-Joachim Neubauer |
    "Wenn man versucht, einen Nagel in die Wand zu schlagen, um ein Bild aufzuhängen, dann würde ich mich sicher verletzen. Aber sonst ist mir das nie passiert. Ich arbeite sehr konzentriert, da ist wie ein Augenblick der Beschleunigung, die in einem ganz kurzen Zeitraum erfolgt. Da bedarf es einer großen Konzentration, sonst könnte ich diese Quantifizierung von einem Nagel in die Vielzahl überhaupt nicht durchführen. "

    Die Vielzahl seiner Nägel hat ihn weltberühmt gemacht: Günther Uecker gehört zu den einflussreichsten deutschen Künstlern der Gegenwart. Seit beinahe fünf Jahrzehnten hämmert er seine Nagelbilder – große, bemalte, oft mit Leinwand bezogene Platten, in die er Tausende von Nägeln treibt. So entstehen organisch anmutende Tableaus: Mit Licht und Schatten entwickeln die starren Eisenstäbe eine naturhaft wirkende Dynamik.

    Es ist, als blicke man auf vom Wind bewegte Wiesen oder Felder. Dabei weiß Uecker, dass der Nagel mehr ist als ein technisches Hilfsmittel. Die Passionsgeschichte hat das spitze Eisen religiös aufgeladen.

    "Ja, assoziativ. Aber doch sonst ist es einfach etwas Eindringliches. Die Afrikaner hat es am meisten berührt während der frühen Kolonialzeit, dass sie einen Gegenstand in ihr Land gebracht vorfanden, der 'haftbar' ist, einen Gegenstand, den sie auch in ihre Fetische eingeschlagen haben. Denn vorher und auch noch bis heute wird vieles gebunden. So wie in Japan Holz, auch aus Erdbebengründen, gefugt wird. Ein Nagel in einem traditionellen Holzhaus oder in einem Schrein ist ein ewiger Schmerz. "

    Uecker malt, er baut Objekte, und in den letzten Jahren hat er sich verstärkt mit der Schrift beschäftigt, hat Bilder "geschrieben" und dabei Worte aus unterschiedlichen Sprachen sichtbar werden lassen. International wird seine Bildfolge "Der geschundene Mensch" besonders beachtet. Auf großen Leinwänden hat Uecker Worte aus der Bibel verewigt: stechen, kratzen, würgen, foltern und andere Verben von Hass, Gewalt und Schmerz. Dazwischen stehen Begriffe wie "vergasen" und "aufklatschen". Der Schmerz wird immer wesentlicher für die Arbeit des heute 83-Jährigen.

    "Das steigert sich in der Form, dass man eine Fraktur auch als Unheil empfindet. Wenn Sie sagen, gut, wenn man es verbindet und schient oder wenn man es begleitet mit Zuneigung und so, ist das heilbar. Aber der Schmerz bleibt ja als Zeichen und Chiffre in der Seele erhalten und ist auch Teil unserer Lebenswahrnehmung und unseres Lebensdramas. Das ist eine sehr vitale Gegenwart, die mich in meiner künstlerischen Arbeit vorantreibt richtig."

    Der Künstler als Passionsartist? Günther Uecker geht es nicht darum, das Leiden als solches auszustellen. Ihn treibt eher das Nachdenken über die Conditio Humana an, eine umfassende Empathie. Die werde auf der ganzen Welt verstanden, glaubt Uecker. Seine Schriftbilder hat er auch in Farsi, Chinesisch, Arabisch und Hindi gemalt – und sie in den Ländern ausgestellt, in denen diese Sprachen gesprochen werden. Dabei hat er beobachtet, wie die Menschen auf seine Bilder, seine Zeichen und Chiffren, reagieren.

    "Wenn ich in den Menschen erkenne, dass sie angerührt sind, von dem, was mir zutiefst zu eigen war und das ich jetzt, in ein Bild umgewandelt, ihnen vor Augen führe, dann ist es gelungen, denke ich. Dann ist auch eine Art Kommunion, eine Teilbarkeit erfolgt. Und dann ist Mitteilung auch Bewahrung."

    Die Kommunion, der geteilte Schmerz: Günther Uecker ist sich des christlichen Hintergrunds der westlichen Kultur und seiner Bildsprache sehr bewusst. Dieser Hintergrund gehört zum Material seiner Kunst, er prägt den malerischen Gestus des Künstlers. Das hat nichts mit Ueckers persönlicher Haltung zu tun. Doch er sieht sich immer mehr als Teil eines jüdisch-christlich geprägten Kulturraums.

    "Den ich mehr und mehr akzeptiere, jetzt, in einer Reife, wo ich mein Werk vorantreibe. Vorher habe ich dann doch versucht, in anderen Glaubensereignissen wahrzunehmen, was Gottesnähe bedeutet. Weil ich ja doch, sehr atheistisch geprägt, aus der DDR kommend, diese Gegenwelt erst zu entdecken versuchte."

    Günther Uecker stammt aus Pommern und wuchs auf der Halbinsel Wustrow auf. Seit 1955 lebt er in Düsseldorf, doch bis heute spürt er das melancholische Erbe seiner Heimat in sich. Vielleicht hat ihm das geholfen, bei seiner Beschäftigung mit Gewalt und Leid nicht pathetisch zu werden. Er begreift sich vielmehr als ein Medium des Schmerzes der Anderen.

    "Das ist mir bewusst geworden, das Sich-Einlassen ohne Selbstkontrolle, dass da sich etwas zeigt, das wie Stigmata sein kann. Das sind verschiedene Strömungen, die auf einen einströmen, die dann zum bildhaften Handeln führen und dann gar nicht aus mir hervorgebracht sind, sondern sie sind durch mich hindurchgegangen, geflossen. Wie ein Kaffeefilter bin ich da in der Welt, und da ist der Satz dann zurückgeblieben als Bildwerk."

    Retten, heilen, gar erlösen kann und will sie sie nicht, die Kunst des Günther Uecker. Ob nun mit Nägeln, mit Farbe oder durch gemalte Schriftzeichen und Chiffren. Ueckers Werk kann zeigen, was da ist, was die Antennen des Künstlers aufspüren, was er findet, ahnt, entdeckt – in sich, in dieser Welt. Und vielleicht auch in einer anderen. Oder warum sonst spricht Günther Uecker von Stigmata?

    "Stigmata, das fließt aus meinen Fingerkuppen in die Welt, als Farbe sichtbar, weil ich viel mit Händen arbeite. Da geht etwas durch mich hindurch. Ich möchte ja auch gerne ein Loch sein, um alles durch mich hindurchgehen zu lassen."