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Schmit zu EU-Sozialgipfel
"Es kann keinen einheitlichen Mindestlohn geben"

Die EU hat viele Milliarden Euro für den Corona-Hilfsfonds bereitgestellt. Das Geld gehe aber nicht nur in die Sozialpolitik, sagte EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit im Dlf. Es diene meist dem Aufbau der Wirtschaft. Sozialpolitik sei Sache der Mitgliedsstaaten.

Nicolas Schmit im Gespräch mit Jörg Münchenberg |
Der EU-Kommissar für Arbeit und Soziales, der Luxemburger Nicolas Schmit, auf einer Pressekonferenz in Brüssel
EU-Kommissar für Arbeit und Soziales Nicolas Schmit (dpa / Anadolu Agency / Thierry Monasse)
Erstmals seit 2017 findet wieder ein EU-Sozialgipfel statt - mitten in der Corona-Pandemie, die gerade auch junge Menschen massiv belastet hat. Die EU-Kommission hat auch deshalb einen Aktionsplan zur Umsetzung von sozialen Rechten vorgelegt, doch mehr Kompetenzen der EU zum Beispiel in der Arbeitsmarkt- oder auch Sozialpolitik zu geben, das sehen viele Mitgliedsstaaten skeptisch. Dabei strebe die EU gar keine Vereinheitlichung der Systeme der Mitgliedsländer an, sagte Schmit im Dlf. Es gehe um gemeinsame Standards: Die EU könne Sozialpolitik nur ergänzen "in Richtung mehr Harmonisierung, in Richtung sozialer Konvergenz. Das ist das, was wir tun."
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Bei der Diskussion über Standards für Mindestlöhne in der EU gehe es nicht darum, den Mitgliedsstaaten Kompetenzen abzusprechen. Es sollten alle Staaten an einem Strang ziehen und das Soziale dürfe dabei nicht unter den Tisch fallen. "Wir brauchen in Europa in verschiedenen Ländern bessere Mindestlöhne. Aber wir wissen auch, dass es zwischen Bulgarien und Luxemburg keinen einheitlichen Mindestlohn geben kann. Aber wir glauben, dass es im Rahmen der wirtschaftlichen Möglichkeiten Anpassungen nach oben geben kann", sagte Schmit. Um die Schäden der Krise zu minimieren, müsse mehr investiert werden: Das Geld der Corona-Hilfsfonds der EU gehe schließlich nicht nur in die Sozialpolitik, es diene vor allem dem Aufbau der Wirtschaft.

Das Interview in voller Länge:

Jörg Münchenberg: Herr Schmit, aus Ihrer Sicht zunächst einmal: Wie sehr hat Corona zu sozialen Verwerfungen in Europa geführt?
Nicolas Schmit: Ja, wir sehen das ja sehr konkret. Besonders Jugendliche haben sehr viel unter dieser Krise gelitten, was ihre Arbeitsmöglichkeiten anbelangt, aber auch in anderen Bereichen. Wir haben auch gesehen, dass Armut gestiegen ist. Spezielle Suppenküchen (oder wie nennt man das) haben sich überall installiert, wo Menschen versorgt werden. Das ist durch Corona alles noch schlimmer geworden.
Münchenberg: Trotzdem muss man sagen, die EU nimmt ja auch sehr viel Geld in die Hand, 750 Milliarden Euro im Corona-Hilfsfonds. 390 Milliarden werden als Zuschüsse gewährt, die müssen nicht zurückgezahlt werden. Das ist ja auch sehr viel Geld zur Linderung der Folgen von Corona.

"Wir müssen vieles modernisieren"

Schmit: Ja! Aber dieses Geld geht ja nicht nur in Sozialpolitik. Dieses Geld geht ja zum Umbau und Wiederaufbau der Wirtschaften. Wir müssen in vielen Bereichen investieren. Das gilt natürlich für Klimawandel, unsere Wirtschaft umzustellen auf Klimawandel. Das gilt aber auch zur Digitalisierung. Wir müssen hier vieles modernisieren, was Infrastruktur angeht, aber insbesondere auch in die Menschen investieren. Neue Jobs bedingen auch neue Kompetenzen und das ist eine große Herausforderung.
Münchenberg: Sie haben es angesprochen: Die EU, vor allem die Kommission natürlich will hier mehr Kompetenzen, zum Beispiel in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Was kann Brüssel besser als die Mitgliedsstaaten?
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Schmit: Ich teile diese Ansicht nicht unbedingt. Wir wollen nicht mehr Kompetenzen. Wir haben einige Kompetenzen, wir teilen Kompetenzen mit den Mitgliedsstaaten, und am Ende sind es immer wieder die Mitgliedsstaaten, die diese Politiken umsetzen. Das was wir brauchen ist jetzt, dass die Mitgliedsstaaten an einem Strang ziehen, dass das Soziale nicht einfach unter den Tisch fällt, dass wir koordinierte Wirtschaftspolitik machen, aber auch koordinierte Sozialpolitik. Natürlich muss diese Sozialpolitik sich immer den verschiedenen Begebenheiten in den Mitgliedsstaaten anpassen.
Münchenberg: Wenn ich da einhaken darf? Das ist ja genau der Punkt. Es gibt ja gerade in der Sozialpolitik viele gewachsene nationale Traditionen, zum Beispiel die Sozialpartnerschaft in Deutschland oder die Tatsache, dass in Frankreich zum Beispiel alle Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt werden. Da ist es ja schwierig, einen gemeinsamen Rahmen überhaupt zu finden.
Schmit: Nicht unbedingt. Was zählt sind die gemeinsamen Zielsetzungen. Wie man da hinkommt, das ist Sache der Mitgliedsstaaten. Keiner will jetzt das deutsche System der Tarifpolitik in Frage stellen. Ganz im Gegenteil! Wir sprechen uns eigentlich für eine Erweiterung und Stärkung dieses Systems aus. Das gilt ja auch, was Mindestlöhne anbelangt, wo ja viel Kritik ausgeübt wird. Wir schlagen nicht vor, jetzt in Schweden einen Mindestlohn einzuführen, wo 90 Prozent der Lohnfindung über Tarifpolitik passiert. Aber was wichtig ist, dass wir auch hier mehr Aufwärtskonvergenz überall in Europa haben. Das schlagen wir vor, nicht eine Vereinheitlichung.

"Wir haben nie einen europäischen Mindestlohn vorgeschlagen"

Münchenberg: Jetzt hat die Kommission ursprünglich einen einheitlichen Mindestlohn vorgeschlagen, ist mittlerweile zurückgerudert. Jetzt ist von einem europäischen Mindestlohn keine Rede mehr. Jetzt geht es nur noch um einheitliche Untergrenzen. Insofern hat man hier auch gemerkt, der Widerstand ist sehr groß in den Mitgliedsstaaten.
Schmit: Herr Münchenberg, wir haben eigentlich nie einen europäischen Mindestlohn vorgeschlagen. Wir haben gesagt, wir brauchen in Europa, in den Ländern, wo es Mindestlöhne gibt, in verschiedenen Ländern bessere Mindestlöhne. Das heißt, Mindestlöhne müssen garantieren, dass die, die arbeiten, auch dezent davon leben können. Aber wir wissen auch, dass zwischen Bulgarien mit ungefähr 300 Euro und Luxemburg mit 2300 Euro es morgen keinen einheitlichen europäischen Mindestlohn geben kann. Aber wir glauben, dass im Rahmen der wirtschaftlichen Möglichkeiten, auch der Lebenshaltungskosten es Anpassungen nach oben geben kann, und das ist das, was wir vorschlagen. Wir schlagen nicht einen einheitlichen Mindestlohn vor. Das wäre absolut irrealistisch.
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Münchenberg: Trotzdem ist gerade das Thema Mindestlohn sehr heikel. Da geht es auch um die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes. Kritiker sagen, gerade die etablierten Volkswirtschaften, Frankreich oder Deutschland, könnten über dieses Instrument auch versuchen, durch hohe Standards sich neue Konkurrenten vom Leib zu halten, zum Beispiel aus Osteuropa. Dieses Problem, wie geht die Kommission damit um?
Schmit: Ich bin der Meinung, dass man nicht konkurrenzfähig ist alleine über Lohnkosten. Auch diese Länder müssen in Technologie investieren. Sie müssen in Kompetenz investieren. Niedrige Löhne werden sie auf längere Sicht nicht konkurrenzfähig halten. Wir brauchen auch hier eine Anpassung der Lebensstandards. Wir können nicht einen Binnenmarkt haben, wo es solche großen Differenzen gibt. Das ist auch eine Gefahr für den Zusammenhalt Europas.
Münchenberg: Stichwort Konvergenz.
Schmit: Konvergenz, das ist das Thema.
Münchenberg: Aber die Frage ist trotzdem, das ist auch in Deutschland ein sehr strittiges Thema, wie hoch muss oder darf der Mindestlohn sein. Wenn er zu hoch ist, dann droht zum Beispiel auch die Abwanderung von Produktionsstätten ins Ausland.
Schmit: Ja! Aber wie hoch muss der Mindestlohn sein? – Der Mindestlohn soll eigentlich der Produktivität entsprechen. Das ist richtig. Der Mindestlohn muss aber auch möglich machen, dass man davon dezent leben kann. Das hat soziale Konsequenzen; das hat aber auch positive wirtschaftliche Konsequenzen. Wir sehen ja diese Debatte nicht nur in Europa; wir haben ja ähnliche Debatten zum Beispiel auch in den USA.

"Sozialpolitik ist Sache der Mitgliedsstaaten"

Münchenberg: Obwohl die Kommission ja nur den Rahmen setzen will, ist das ja sehr umstritten, denn in den EU-Verträgen heißt es ausdrücklich, Sozialpolitik ist Sache der Mitgliedsstaaten, und manche richten schon die Kritik nach Brüssel und sagen, man versucht schon, hier den Fuß mehr in die Tür zu bekommen.
Schmit: Sozialpolitik ist Sache der Mitgliedsstaaten, aber es steht auch in den Verträgen, dass die Union Sozialpolitik zumindest ergänzen kann in Richtung mehr Harmonisierung, in Richtung sozialer Konvergenz. Das ist das, was wir tun. Wir wollen uns nicht an die Stelle der Mitgliedsstaaten in der Sozialpolitik setzen und festlegen, wie Rentensysteme in den verschiedenen Ländern organisiert sind oder ob Tarifpolitik oder Mindestlöhne existieren. Aber wir glauben daran, dass in einer mehr integrierten Wirtschaft – und so steht es auch in den Verträgen – auch Sozialpolitik gemeinsame Standards braucht. Wie die dann umgesetzt werden – okay, das ist Sache der Mitgliedsstaaten und der verschiedenen sozialen Systeme.
Münchenberg: Herr Schmit, wie groß ist am Ende nicht die Gefahr, dass man als Tiger startet und als Bettvorleger landet? Soll heißen, man gibt allgemeine Ziele vor, aber angesichts des Widerstandes in den Mitgliedsstaaten bleibt es dann bei den Zielen und letztlich wird die Kommission da wenig gestalten und mitreden können.
Schmit: Nehmen wir das Beispiel der Mindestlöhne. Wenn ich mit den Gewerkschaften in verschiedenen zentraleuropäischen Ländern rede, dann sind die absolut einverstanden, damit Mindestlöhne auch verbessert werden.

"Die Kommission macht nur Vorschläge"

Münchenberg: Was natürlich jetzt nachvollziehbar ist, dass die Gewerkschaften Sie da eher unterstützen.
Schmit: Ja! Aber in Schweden sind die gegen einen Mindestlohn zum Beispiel und das verstehe ich auch. Aber das heißt, es gibt in den Mitgliedsstaaten auch eine Debatte, wie soziale Angleichung vor sich gehen soll, und die Kommission macht ja da Vorschläge. Sie gibt auch Empfehlungen aus und das heißt, dass es in den Mitgliedsstaaten auch über Sozialpolitik eine politische Debatte gibt, und ich glaube, auch diese Debatte hilft dabei, mehr Konvergenz zu gestalten.
Münchenberg: Zum Schluss noch die Frage, Herr Schmit, weil wir auch darüber gesprochen haben. Was konkret wird am Ende dieses Prozesses herauskommen? Welches Signal soll jetzt von diesem EU-Sozialgipfel ausgehen, der ja heute in Porto startet?
Schmit: Ein Signal, dass wir wirtschaftlichen Wiederaufbau brauchen, dass wir wirtschaftliche Erneuerung brauchen, dass die aber nur erfolgreich sein wird, wenn auch die soziale Dimension voll dazu beiträgt. Es gibt diesen Gegensatz zwischen Sozialem und Wirtschaftlichem. Das ist ein falscher Gegensatz. Wir reden ja von einer sozialen Marktwirtschaft. Es ist Zeit, gerade in dieser Krise, um aus dieser Krise herauszuwachsen, wieder auf das Soziale in der Marktwirtschaft zu setzen und das auch als Instrument zu gebrauchen, um Europa zu stärken, aber auch in den Mitgliedsstaaten etwas mehr Fairness zu erreichen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.