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Schottische Unabhängigkeit
Ein Desaster für das Vereinigte Königreich

Wenn sich Schottland tatsächlich am 18. September für die Unabhängigkeit entscheiden sollte, würde Rest-Britannien 5,3 Millionen Einwohner verlieren, ein Drittel seiner Fläche und 90 Prozent seiner Ölreserven; es bräuchte einen neuen Namen und eine neue Flagge. Doch das sind noch die geringsten Probleme.

Jochen Spengler | 12.09.2014
    Ein Schild mit der Aufschrift "Willkommen in Schottland" an der englisch-schottischen Grenze in der Nähe von Berwick-upon-Tweed.
    Ein Schild mit der Aufschrift "Willkommen in Schottland" an der englisch-schottischen Grenze in der Nähe von Berwick-upon-Tweed. (picture alliance / dpa / Paula Dudziak)
    "Dieses Land könnte in wenigen Tagen eine Union lösen, die mehr als dreimal so lange existiert hat, wie die heute älteste lebende Person. Die Auswirkungen auf jeden im Vereinigten Königreich, nicht nur in Schottland, werden absolut tiefgreifend sein. Wir wären als Nation enorm schwächer in jeder Hinsicht, moralisch, politisch und materiell",
    fürchtet John Major, früherer Premierminister Großbritanniens. Tatsächlich droht eine Krise unerhörten Ausmaßes, mit wirtschaftspolitischen, innen-, außen- und verfassungspolitischen Implikationen. Dass mit Turbulenzen an den Börsen zu rechnen ist, gilt als sicher. Das Pfund geriete unter Druck, das Rating würde sich verschlechtern und die wirtschaftliche Erholung gefährdet infolge höherer Kreditkosten. Und es würde ein Schuldiger gesucht. Bislang hat der Premierminister einen Rücktritt ausgeschlossen:
    "Ich halte es für sehr wichtig, dazu entschieden Nein zu sagen aus folgendem Grund: Es geht hier nicht um diesen oder jenen Premierminister, um diesen oder jenen Parteiführer: Auf dem Spiel steht die Zukunft Schottlands."
    Doch wenn nach dem Referendum Schottland seine Zukunft außerhalb Großbritanniens angeht, werden die Karten neu gemischt, dann könnte David Cameron, so glauben viele Beobachter, spätestens Weihnachten nicht mehr im Amt sein. Er wird in die Geschichtsbücher eingehen als der Regierungschef, unter dem das Unfassbare geschah.
    Es werden ungeheuer komplizierte Trennungsverhandlungen beginnen, die in schätzungsweise mehrere tausend Verträge münden, Verhandlungen, die bis zu fünf Jahre zur Hauptbeschäftigung der gesamten britischen Regierung und ihres Beamtenapparats werden; andere Aufgaben müssen leiden. Gestritten wird über die Währung und über die Anteile am Vermögen, an den Schulden, an der BBC, der Armee und am Nordseeöl. Was wird mit den Botschaften, was mit EU- und NATO-Mitgliedschaften, wie wird der Abzug der Trident-Atomflotte aus der schottischen Militärbasis organisiert? Londons Problem: es existiert kein englischer Hafen, der geeignet wäre, die Flotte aufzunehmen.
    Die formelle Unabhängigkeit soll 2016 kommen
    Die Verhandlungen werden nicht einfacher durch das vermutlich angespannte Gesprächsklima, sagt der Verfassungsrechtler Professor Robert Hazell:
    "England wird aufwachen und sich zurückgewiesen und verärgert fühlen. Wie wenn sich ein Paar scheiden lässt. Wenn ich mich nicht irre, dass es auf englischer Seite Groll gibt, wird dies den Druck auf die Unterhändler Englands erhöhen, eine harte Linie zu verfolgen."
    Die Labour-Opposition wird die Regierung dennoch mit dem Vorwurf konfrontieren, zu großzügig gegenüber den Schotten zu sein; und würde Labour die Wahl im Mai nächsten Jahres gewinnen, wovon viele Meinungsforscher ausgehen, so dürfte der personelle Wechsel die Unabhängigkeitsverhandlungen weiter verzögern. Der Plan der Separatisten, schon im März 2016 fertig zu sein und die formelle Unabhängigkeit Schottlands zu deklarieren, erscheint um mindestens ein Jahr zu ehrgeizig.
    Sobald aber Schottland ein eigener Staat ist, müssen die 59 schottischen Abgeordneten im Parlament zu Westminster zurücktreten, was bedeutet: es käme vermutlich in Rest-Großbritannien zu vorgezogenen Neuwahlen, bei denen die Labour-Partei dann ohne Schottland kaum noch Chancen hätte. Dafür steigt die Wahrscheinlichkeit eines EU-Ausstiegs.
    Ein Katalog von Schreckensszenarien
    Überhaupt wäre das Ende Great Britains nach Ansicht Professor Hazell’s ein ernster Schlag für Großbritanniens Ansehen und Prestige in der Welt.
    "Es wäre ein ernster Schlag für Großbritanniens Ansehen und Prestige in der internationalen Gemeinschaft und dem Rest der Welt."
    Ex-Tory-Premier John Major zählt einen ganzen Katalog von Schreckensszenarien auf:
    "Es wäre desaströs für das ganze Vereinigte Königreich. Zunächst, weil wir die Trident-Atomflotte verlieren würden, die lange Zeit unser Schutz war; unsere Rolle in der NATO würde geschwächt, unsere Beziehungen mit den USA in der Folge beschädigt; das UK wäre schwächer in jeder internationalen Organisation, gewiss in der EU in den bevorstehenden Verhandlungen, wir werden unseren Sitz als Vetomacht in der UNO verlieren, wir würden fast sicher Unabhängigkeitsforderungen aus Wales auf dem Tisch haben, wenn Schottland geht, was, so hoffe ich und dafür bete ich, nicht passiert."
    Auch anderswo in Europa hofft und betet man, dass Schottland Teil Großbritanniens bleibt, um nicht zum Fanal für Unabhängigkeitsbewegungen in Spanien, Frankreich, Italien und Belgien zu werden.