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Schottisches Liedgut als Installation

Auch wenn Demonstranten die Preisverleihung stürmten – lange war eine Turner-Preis-Verleihung nicht mehr so einvernehmlich. Alle fanden, dass Susan Philipsz, eine Wahlberlinerin aus Glasgow, den Preis verdient hat.

Von Matthias Thibaut | 07.12.2010
    Auch die britischen Wettbüros hatten sie zur Favoritin erklärt, die Proteste galten ausnahmsweise einmal nicht dem Turner-Preis und der Debatte, ob das, was da mit einem 25.000 Pfund Scheck belohnt wird, nun Kunst ist oder nicht, sondern den Sparmaßnahmen der Regierung und der Einführung noch höherer Studiengebühren. Und da waren sich alle einig, dass dies eine schlechte Sache sei. "Bildung ist ein Recht, kein Privileg", erklärte die strahlende Preisträgerin und feuerte die Studenten in der etwas chaotischen Zeremonie noch an.

    Ironisch, dass eine so laute Feier einer so stillen Künstlerin galt. Susan Philipsz überzeugte wohl weniger durch ihre Installation in der Ausstellung der Turner-Preisträger selbst – sie ist eine Künstlerin, die mitten in der Wirklichkeit der Welt arbeitet, nicht in einer Galerie. Besser zeugte ihre aktuelle Installation "Surround me" in der Londoner City, mitten im Trubel des Finanzdistrikts, was für eine originelle, wichtige Künstlerin sie ist, wie sie arbeitet und wie bewegend ihre Kunst sein kann.

    Sie ist die erste Künstlerin, die allein mit ihrer Stimme einen Kunstpreis erobert hat – aber sie ist keine Sängerin, nicht einmal eine Klangkünstlerin. Philipsz inszeniert vielmehr mit ihrer sanften Mädchenstimme Räume, sie beschallt sie mit einem laienhaften, bewusst unausgebildeten Gesang, aus versteckten Lautsprechern hört man sie singen, so wie eine Frau vielleicht früher beim Wäscheaufhängen oder Kartoffelschälen gesungen hat, eben für sich selbst, nicht für andere. So projiziert sie die Aura von Intimität, Innerlichkeit, Privatheit in öffentliche Räume und diese Konfrontation von Privatem und Öffentlichem ist die Wirkung ihrer Kunst.

    In der Tate zeigte sie, in einer für die Galerie zurechtgestutzten Version, ihre bekannteste Arbeit, Lowlands Again, da singt sie das schottische Lament von dem ertrunkenen Seemann, der seiner Geliebten erscheint und ihr von seinem Tod berichtet. Das hatte unter den Brücken der Themse, der Spree, des Clyde in Glasgow mehr Wirkung, am Wasser, wo sich die Penner und Streuner und manchmal auch Selbstmörder finden, als in der Tate. In "Surround Me", der Installation der City, singt sie an verschiedenen Orten alte englische Madrigale und Klagen aus dem 16. Jahrhundert aus dem Lautsprecher, die nun unverhofft aus dem ewigen Raunen und Dröhnen der Großstadt zurückklingen wie ein Echo aus dem London des 16. Jahrhunderts und das schärft den Blick auf die Glaspaläste der modernen Finanzmetropole.

    Im letzten Jahr gewann Richard Wright den Turner-Preis, der die Wände von Galerieräumen direkt mit abstrakten Dekorationen ausmalt, ein Giotto unserer Tage. Zum zweiten Mal hintereinander hat also nun ein Künstler gewonnen, der eine ephemere, vergängliche, situationsgebundene Kunst macht, die vom Kommerz und Objektkonsum nicht weiter entfernt sein könnte - und eine Kunst, die zugleich direkt sinnlich die Selbstwahrnehmung der Kunstkonsumenten im Raum verändert. Wenn das kein Trend ist. Verschmäht wurde wieder die Malerei von Dexter Dalwood, der erste Maler seit Langem auf der Kandidatenliste, die expressiven, zu Skulpturen zerstörten Leinwände von Angela de la Cruz, einer Künstlerin, die aus dem Rollstuhl heraus arbeiten muss, und die hyperintellektuelle Arbeit des Filmkollektivs Ortholith, die wohl am wenigsten Eindruck gemacht hat.

    Es war also ein guter Turner-Preis. Denn diese Verleihung ist ja nicht nur wichtig wegen der Karriereförderung für die einzelnen Künstler. Die Jury und die Tate Gallery als Organisator des Preises sieht immer auch darauf, wie der Preis den Kunstbegriff überhaupt verändert: Das eigentliche, natürlich nicht offen ausgesprochene Anliegen des Preises war immer, die Toleranz der Briten für die neue Kunst durch Provokation auf die Probe zu stellen und so das Terrain der Kunst überhaupt auszuweiten. Wie friedlich und einvernehmlich und unkontrovers die Preisverleihung war, das zeigt, wie gut das im Laufe der Jahre gelungen ist.

    Informationen auf englisch:

    The Turner Prize