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Schulöffnung in der Coronakrise
Als würde man ein riesiges Experiment starten

Heinz-Peter Meidinger vom Deutschen Lehrerverband, hält eine vollständige Schulöffnung in der Coronakrise für problematisch. Ein Normalbetrieb würde voraussetzen, dass insgesamt normale Zustände herrschten, sagte er im Dlf. Sollte dennoch der Normalbetrieb kommen, bräuchte es ein neues Hygienekonzept.

Heinz-Peter Meidinger im Gespräch mit Dirk Müller |
27.04.2020, Bayern, Unterhaching: Schüler und Schülerinnen einer 12. Klasse des Lise-Meitner-Gymnasiums nehmen am Unterricht teil und tragen Mundschutze.
"Wir bräuchten ganz andere Konzepte, was beispielsweise die Lüftungen betrifft", sagte Heinz-Peter Meidinger im Dlf zu vollständigen Schulöffnungen in der aktuellen Situation (picture alliance / Sven Hoppe)
Es unterscheidet sich von Bundesland zu Bundesland, von Kommune zu Kommune, ja selbst von Kita zu Kita, von Schule zu Schule: Im Bildungssektor herrscht Corona-Chaos. Baden-Württemberg will die Schulen Mitte Juni wieder öffnen – vor allem die Grundschulen, aber auch die Kitas. Begründung: Nach einer Studie der Heidelberger Uniklinik infizieren sich junge Kinder so gut wie gar nicht. Berlin bremst allerdings, auch die Bundesfamilienministerin tut das. Hamburg und Hessen beispielsweise wollen ebenfalls schnell zu einem möglichst regelmäßigen Schulbetrieb zurückkehren. Auch in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt soll das so sein. Selbst Bayerns Ministerpräsident Markus Söder macht inzwischen Druck beim Thema Kita- und Schulöffnungen.
Schulöffnungen ja oder nein und wenn ja wie und dann wie lange und wer alles? Wann kommt der normale Schulbetrieb zurück, falls es überhaupt diese Normalität in den kommenden Monaten geben kann? Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, hält einen Normalbetrieb unter den derzeitigen Bedingungen für schwierig.
Mädchen mit Mundschutz und Schulrucksack
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Dirk Müller: Herr Meidinger, sind Sie ein Versuchskaninchen?
Heinz-Peter Meidinger: Ja. Man könnte jetzt fast den Eindruck haben, dass hier an Deutschlands Schulen und Kindergärten ein riesiges Experiment gestartet wird, nämlich das Experiment, geht das gut, wenn man alle Kinder und Schüler wieder an die Schulen und die Kitas zurückholt. Ausgang offen!
"Dann fehlt mir ein Hygienekonzept"
Müller: Das bereitet Ihnen Magenschmerzen?
Meidinger: Das bereitet mir in der Tat Magenschmerzen, weil es ja ein kompletter Paradigmenwechsel ist. Wir hatten ja bisher ein Hygienekonzept an den Schulen und auch in den Kindergärten, das auf Abstandsgebot gesetzt hat. Es ist sicher an den Schulen, wenn in den Klassenzimmern, in den Lerngruppenräumen eineinhalb Meter Abstand ist zwischen den Schülern, wenn außerhalb der Lernräume Masken getragen werden. Wenn alle Schüler wieder zurückkommen sollen und der Normalbetrieb – Normalbetrieb würde übrigens voraussetzen, wir haben auch wieder normale Zustände in der Gesellschaft. Das ist ja vollkommen klar: Wir haben so lange keine normalen Zustände, solange es keinen Impfstoff gibt. Wenn jetzt suggeriert wird, wir könnten wieder den Normalbetrieb aufnehmen, dann fehlt mir da jegliches Hygienekonzept. Das bisherige Hygienekonzept setzt ja wie gesagt auf Abstandsregelung.
Müller: Das wird auch umgesetzt, frage ich Sie jetzt? Wie ist da Ihre Erfahrung? Abstandsregelungen, Kontakteinschränkungen, Kontaktverbote, wie auch immer, funktioniert das in den Schulen?
Meidinger: Ja! Wir haben ja dieses Konzept, dass wir die Lerngruppen halbiert haben, teilweise sogar gedrittelt haben, damit dieser Abstand eingehalten werden kann, was natürlich eine Konsequenz hat, nämlich die Konsequenz, dass nicht alle Schüler gleichzeitig an der Schule sein können. Deswegen dieser Schichtbetrieb, eine Woche oder ein paar Tage an der Schule, dann wieder ein paar Tage oder eine Woche im Home Schooling. Das ist natürlich alles schwer erträglich auch, das muss man sagen. Nur ich glaube, die Alternative, jetzt alles aufzugeben, die erscheint mir noch schwerer erträglich.
"Es gibt Schüler, die haben wir kaum erreicht"
Müller: Reden wir mal ganz kurz über das Inhaltliche. Es gibt kein Vertun daran aus Ihrer Sicht, dass die Bildungslücke in diesen Wochen und Monaten immer größer wird?
Meidinger: Ja, wir leiden alle unter der Situation, selbst jetzt, wo wir sehen, dass zumindest schrittweise wieder die Schulen geöffnet werden, stellen wir natürlich fest, dass die Leistungsspreizung zugenommen hat. Wir haben Schüler, die haben wir kaum erreicht während der Home Schooling Phase. Da haben wir jetzt auch kaum Möglichkeiten, die Lücken zu schließen. Und wir haben andere Schülergruppen, die das relativ gut bewältigt haben. Aber diese Spreizung, die ist natürlich extrem.
Müller: Und Digitalisierung ist immer noch nicht weit genug, dass das jetzt etwas wettmachen könnte?
Meidinger: Ich selber bin Schulleiter an einer Schule, die bei der Digitalisierung relativ gut aufgestellt ist. Wir machen 80 Prozent des Home Schoolings auch mit Videokonferenzen. Aber selbst da sieht man natürlich: Die Hoffnung, die man in Home Schooling setzt, kann nicht unbegrenzt sein. Das hat auch Grenzen. Wir werden nie die Effektivität, die individuelle Förderung erreichen, als wenn es Präsenzunterricht gibt, wo Face-to-Face Schüler und Lehrkräfte sich gegenseitiges Feedback geben. Das ist immer nur eine Ergänzung, ein Hilfsmittel.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Müller: Da bringen auch die hunderte Millionen, die jetzt freigesetzt werden, die investiert werden sollen, nicht viel?
Meidinger: Na gut, sie ermöglichen zumindest, dass die Schüler, wo wir wissen, dass sie zuhause keinen Zugriff haben auf ein Gerät, mit dem man arbeiten kann – ein Smartphone hat jeder, aber einen Laptop oder einen Standcomputer eben nicht -, da hilft es schon was, diese Lücke zu schließen. Deswegen ist es auch wichtig, dass die Schulen das machen, weil die wissen am besten, wer so ein Gerät braucht und wer nicht.
"Regelmäßige Testungen gehören mit Sicherheit dazu"
Müller: Kommen wir noch einmal zu dieser Schutzdiskussion zurück, Herr Meidinger. Da brauchen wir auch Ihre Erfahrungen, Ihre Gespräche mit den Kolleginnen und Kollegen. Jetzt machen sich die Ministerpräsidenten, die Kultusminister darüber Gedanken – auch in Berlin in der Bundesregierung wird selbstverständlich darüber diskutiert. Da ist jetzt eine Idee, regelmäßige Testreihen durchzuführen wie in Altenheimen, wie auch in den Krankenhäusern, für Lehrer, für Schüler, auch für Kita-Kinder und für Erzieher*innen. Könnte das etwas sein, wo Sie sagen, okay, wenn wir das machen, wenn wir regelmäßig getestet werden, dann kann ich mir vorstellen, dass wir den Betrieb auch ausweiten?
Meidinger: Das wäre mit Sicherheit ein wichtiger Baustein, wenn man hier jetzt zu vollständigen Schulöffnungen übergehen sollte. Aber das darf nicht der einzige sein. Vollständige Schulöffnungen würden voraussetzen, dass man die Lerngruppen den ganzen Tag, den ganzen Unterrichtstag voneinander isoliert, um dann auch das Infektionsgeschehen, falls etwas ist, zurückverfolgen zu können.
Wir bräuchten ganz andere Konzepte, was beispielsweise die Lüftungen betrifft, und wahrscheinlich muss man auch darüber nachdenken, dass man dann eine Schutzmaskenpflicht in den Klassenzimmern einführt, wenn kein Abstand mehr gewahrt ist. Da brauchen wir ein völlig neues Hygienekonzept. Regelmäßige Testungen gehören da mit Sicherheit dazu.
"Vormittag-Nachmittag-Schichtbetrieb ist wenig sinnvoll"
Müller: Schichtbetrieb – das war ein Stichwort von Ihnen. Wenn wir das richtig gelesen haben, ist Schichtbetrieb grundsätzlich in Nordrhein-Westfalen beispielsweise ausgeschlossen. Eine Gruppe, die bis nachmittags arbeitet, und die anderen von mittags oder von nachmittags bis zum Abend, ist das machbar? Ist das akzeptabel für die Kolleginnen und Kollegen?
Meidinger: Der Schichtbetrieb läuft in den meisten Ländern so: Eine Woche Präsenzunterricht, eine Woche zuhause, oder teilweise gibt es auch einen tageweisen Wechsel. Ein Schichtbetrieb Vormittag/Nachmittag ist allein von den Personalkapazitäten und übrigens auch von der Schulwegbeförderung und auch den Hygienekonzepten kaum machbar. Beispielsweise in der Mittagszeit treffen trotzdem alle Schüler zusammen: Die, die am Vormittag in der Schule sind, die, die dann am Nachmittag reinströmen. So ein Vormittag-Nachmittag-Schichtbetrieb, glaube ich, ist wenig sinnvoll.
Müller: Bei den älteren Schülerinnen und Schülern bis 20 Uhr zum Beispiel Unterricht? Wird in anderen Ländern zum Teil ja auch gemacht. Vollkommen zu weit weg von der Realität?
Meidinger: Ich leite eine Schule am Lande. Es ist völlig unvorstellbar, dass da die Schüler tatsächlich dann am Abend wieder durch öffentliche Verkehrsmittel heimtransportiert werden. Vorstellbar ist vieles, aber in der Praxis gibt es sehr große Hürden.
"Wir müssen uns gut aufstellen fürs nächste Schuljahr"
Müller: Zum Beispiel unvorstellbar ist ja auch, Montags zum Friseur zu gehen. Das ist jetzt im Moment in diesen Tagen, in diesen Wochen möglich. Wie ist es mit dem Samstagsunterricht? Daran kann ich mich noch erinnern, dass ich das damals musste oder durfte.
Meidinger: Samstagsunterricht ist ja nach wie vor sogar in den Schulgesetzen möglich, die Unterrichtsstunden anders zu verteilen. Es gibt allerdings nur noch wenige Schulen, die das machen. Ich glaube: Das was wir brauchen ist ein großes Gesamtkonzept, um tatsächlich spätestens im nächsten Schuljahr einen Schulbetrieb zu haben, um diese Lücken aufzuarbeiten. Ob da jetzt die paar Samstage, die wir noch vor den Sommerferien haben, eine große Rolle spielen, wage ich zu bezweifeln.
Müller: Oder die vielen Samstage, die danach kommen. Das ist ja, glaube ich, die Frage in dem Zusammenhang.
Meidinger: Ja, gut! Das ist ja nicht nur eine Frage an die Lehrer oder an die Schüler, sondern eine Frage an die Gesellschaft. Ist die Gesellschaft bereit zu sagen – das betrifft ja auch alle Eltern -, okay, am Samstag sind die Kinder in der Schule.
Müller: Die Frage musste kommen, stelle ich auch: Was ist mit den Ferien? Kürzere Ferien, um versäumten Stoff nachzuholen?
Meidinger: Ich glaube, der Hauptpunkt ist, dass wir uns gut aufstellen fürs nächste Schuljahr. Und übrigens da brauchen wir auch die Ferien noch aus ganz anderen Gründen. Wir müssen ja in den Schulen dann endlich mal die Digitalisierungsmaßnahmen umsetzen. Vom Digitalpakt ist ja noch nichts angekommen. An vielen Schulen sind Baumaßnahmen geplant. Und ob wirklich jetzt eine Verkürzung – es kann ja nur um eine Verkürzung der Ferien gehen – von ein, zwei Wochen da die große Rolle spielt? Was ich befürworten würde wäre tatsächlich das Angebot von Sommerakademien beispielsweise für die Schülergruppe, die abgehängt worden ist.
Müller: Für die Benachteiligten?
Meidinger: Für die Benachteiligten. Wir haben ja Schüler, die haben teilweise mehr gearbeitet als in der Schule, weil sie auch von den Eltern noch gecoacht worden sind und auch das Gefühl hatten, sie müssen jetzt mehr tun, damit sie tatsächlich den Anschluss halten, und wir haben auch die Schüler, wo wenig passiert ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.