Dienstag, 23. April 2024

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Schweden und der Ernstfall (1/5)
Die Soldaten sind zurück auf Gotland

Es herrscht Nervosität im Ostseeraum. Russlands Marine und Luftwaffe lassen bei Manövern die Muskeln spielen. Eine aufgeladene Situation für Schweden, das Partner der NATO, aber nicht Mitglied ist. Das Land bewegt sich zwischen Neutralität und Ernstfall - zu besichtigen auf der Insel Gotland.

Von Gunnar Köhne | 09.07.2018
    Eine Einheit des Skarabourg Regiments patrouillert außerhalb der historischen Stadtmauer von Visby auf der schwedischen Insel Gotland
    2005 zogen die letzten Soldaten aus Gotland ab - jetzt wird die Ostseeinsel wieder militarisiert (AFP/TT/Soren Andersson)
    Das Musikkorps der königlich-schwedischen Streitkräfte gibt sich alle Mühe, gegen die riesigen Ausmaße des Platzes und die muntere Sommerausflugsstimmung der Gäste anzuspielen. Herausgeputzt stehen die Musiker in grünem Flecktarn, weißen Gamaschen und roten Baretten auf der frisch gemähten Wiese.
    Neben ihnen haben gut 100 Soldatinnen und Soldaten in Reih und Glied Aufstellung genommen: leicht breitbeinig, mit nach hinten verschränkten Armen beobachten sie das Geschehen. Die Familien, die Veteranen, die Honoratioren des Ortes und die Politiker aus dem fernen Stockholm, die sich entlang des Absperrbandes drängeln, sind ihretwegen an diesem warmen Frühlingstag zusammengekommen. Denn heute wird hier, unweit der Inselhauptstadt Visby, das Gotländische Regiment gegründet. Die Ostseeinsel wird wieder militarisiert.
    Blick über die Dächer der Hafenstadt Visby auf der schwedischen Ostseeinsel Gotland
    Nahe der Inselhauptstadt Visby ist das Gotländische Regiment stationiert (Imago)
    Veränderte Sicherheitslage
    Ein älterer Offizier tritt ans Mikrofon. Unter seinem Barett scheinen schlohweiße Haare auf: "God dag Soldater!"
    Gott schütze den König, brüllt das Regiment als Antwort zurück. Oberbefehlshaber König Gustav XVI. ist zur Inspizierung der neuen Truppe nach Gotland gereist. Hinter ihm ragt ein Kalksteinobelisk hervor. "Oscarssten" erinnert an die Gründung der ersten Gotländischen Heimatwehr im Jahr 1825 durch Gustavs Vorfahren Oscar I. Die Gäste recken ihre Handys in die Höhe. Dabei hat das Staatsoberhaupt Ernstes zu verkünden:
    "In letzter Zeit hat sich die Sicherheitslage in unserer direkten Nachbarschaft verändert. Darum hat der Reichstag beschlossen, erneut ein Regiment auf Gotland zu gründen. Dieses Regiment wird der jüngste und modernste Verband unserer Streitkräfte sein."
    Es geht wieder einmal um die Russen
    Die feierlich dreinblickenden Veteranen und Ehrengäste wissen, von welcher Gefahr der König spricht: Es geht, wieder einmal, um die Russen. Nur aussprechen will das Wort heute niemand. Stattdessen sprechen auch die nachfolgenden Redner – Ministerpräsident und Generalstabschef – von der "veränderten Sicherheitslage" in der Ostseeregion. Die schmucke Insel Gotland ist Schwedens östlichster Außenposten. 180 Kilometer nur von der russischen Enklave Kaliningrad entfernt, wo Moskau gerade neue Raketen stationieren ließ.
    Der schwedische König schreitet das neue Regiment ab und überreicht dem stramm stehenden Kommandanten die Regimentsfahne. Ein paar Schritte weiter steht, an der Leine einer Militärpolizistin, ein Schafbock. Das Symbol Gotlands knabbert am kurzen Gras. Dann wird König Gustav auch schon zur bereitstehenden Limousine begleitet, die Soldaten rühren sich wieder und die Wiese wird den tobenden Kindern freigegeben. Gotland hat von nun an wieder Soldaten. Ein junger Familienvater hebt seinen strohblonden Sohn auf den Arm und schaut zufrieden auf die jungen Rekruten:
    "Ich fühle mich nun insofern sicherer, als wir von hier ein Signal der Entschlossenheit aussenden. Seht her: Wenn es darauf ankommen sollte, wird unser Land auch hier verteidigt!"
    Botschaft an unerwünschte Besucher
    Die angereisten Politiker geben den zahlreich erschienenen Journalisten geduldig Interviews. Als sicherheitspolitische Kehrtwende wird die schwedische Presse diesen Tag später feiern. Schließlich waren die letzten Soldaten erst 2005 von Gotland abgezogen worden. Damals glaubte Europa an das Ende der Eiszeit.
    Micael Bydén, der Generalstabschef, ein langgedienter Offizier mit scharfen, braungebrannten Gesichtszügen, überhört das Wort "Russen", als er nach der potentiellen Gefahr gefragt wird: Wie wollen Sie Gotland mit 300 Mann gegen die Russen verteidigen?
    "Die Frage, ob das reicht oder nicht, hängt letzten Endes vom Szenario ab. Aber jeder unerwünschte Besucher sollte wissen, dass wir auch hier zukünftig präsent sind."
    Micael Bydén, Oberbefehlshaber der schwedischen Streitkräfte (von links), Schwedens Ministerpräsident Stefan Löfven und Verteidigungsminister Peter Hultquist vor einem Panzer auf der Ostseeinsel Gotland
    Micael Bydén, Oberbefehlshaber der schwedischen Streitkräfte (von links), Schwedens Ministerpräsident Stefan Löfven und Verteidigungsminister Peter Hultquist (Deutschlandradio/ Gunnar Köhne)
    "Zur Stelle sein, wenn nötig"
    Der Verteidigungsminister, Peter Hultquist, beleibter Sozialdemokrat, tritt neben seinen hageren obersten Soldaten und spricht dann doch aus, was alle bewegt:
    "Wir hatten die russische Aggression gegenüber Georgien, wir hatten die Annexion der Krim und es herrscht Krieg in der Ukraine. Wegen dieser völlig neuen Situation stärken wir unser militärisches Potenzial. Und gleichzeitig vertiefen wir unsere Zusammenarbeit mit anderen Staaten."
    "Wir sind ein enger Partner der NATO. Für mich als Oberkommandierenden der Streitkräfte ist die NATO sehr wichtig. Wir können Dank der NATO an hochmodernen und komplexen Übungen teilnehmen, wo wir unter Beweis stellen können, dass wir ein bedeutender Partner des Bündnisses sind. Dass Schweden ein verlässlicher Verbündeter ist und wir – wie versprochen - zur Stelle sein werden, wenn nötig."
    Dann treten General und Minister ab. Am Rande des Platzes warten weißgedeckte Tische unter einer großen Pergola. Es gibt noch zu Essen und zu Trinken. Als letzter fährt ein Panzer vom Platz, der während der Zeremonie im Hintergrund geparkt hatte. Die Grenadierin tritt den durch die Ketten aufgeworfenen Rasen fest, bevor sie hinauf in die Luke klettert. Dann biegt der Panzer auf die Landstraße ein und fährt rasselnd an blühenden Fliederhecken und niedrigen Landhäusern vorbei. Gotland wirkt gerüstet.