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Schweiz
Am Anfang stand der "Rütlischwur"

An jedem 1. August feiern die Schweizer die Erinnerung an ein Ereignis, das heute vor 725 Jahren stattgefunden haben soll: die Verschwörung freiheitsliebender Eidgenossen zum Kampf gegen tyrannische Vögte. Doch auf den 1. August 1291 als Stichtag einigten sich die Schweizer erst am Ende des 19. Jahrhunderts.

Von Winfried Dolderer | 01.08.2016
    Zuschauer hören sich auf der Rütli-Wiese im Kanton Uri anlässlich des Nationalfeiertages eine Rede an. Das Rütli, eine Bergwiese oberhalb des Vierwaldstätter Sees, gilt als Urstätte der Schweizer Eidgenossenschaft.
    Schweizer Nationalfeiertag auf dem Rütli (dpa / picture alliance / Steffen Schmidt)
    Die Nacht ist sternenklar. Auf dem Rütli, einer Wiese am Ufer des Vierwaldstättersees, haben sich 33 Männer versammelt, Vertreter der Landgemeinden Schwyz, Uri und Unterwalden, um einen feierlichen Eid zu leisten.
    "Wir wollen frei sein wie die Väter waren / Eher den Tod als in der Knechtschaft leben."
    So schildert es Friedrich Schiller in seinem Drama "Wilhelm Tell", das den Kampf der Eidgenossen gegen ihre habsburgischen Bedrücker verherrlicht. Doch an der Geschichte ist manches ungereimt, sogar das Datum. Noch Schiller hat den Rütlischwur im Jahr 1307 vermutet. Ende des 19. Jahrhunderts dann erklärte die Regierung in Bern: Es war der 1. August 1291, der fortan als Nationalfeiertag zu gelten hatte. Was nach den Worten des Historikers André Holenstein auch damit zu tun hatte, dass die erst 1848 gegründete moderne Schweiz einer identitätsstiftenden Erzählung bedurfte.
    "Es ist ein politischer Entscheid, der dazu führt, dass der Bundesrat für diesen jungen Bundesstaat beschließt: Wir fixieren das Gründungsdatum der Schweiz im Jahre 1291."
    Immerhin gab es einen dokumentarischen Anhaltspunkt. Eine auf "Anfang August 1291" datierte Urkunde, mit der sich Schwyz, Uri und Unterwalden wegen der unsicheren Zeiten nach dem Tod des deutschen Königs Rudolf von Habsburg zu einem Bündnis zusammentaten. Allerdings wohl kaum auf dem Rütli.
    "Es ist eher unwahrscheinlich, dass die auf einer Rodungswiese an einem Seeufer ausgestellt wurde, sondern man muss eher davon ausgehen, dass sie von einem Schreiber in einer Schreibstube in einer Kanzlei verfasst worden ist," meint Holenstein über die Urkunde, die abweichend von der Regel keine Ortsangabe enthält. Von einem Freiheitskampf ist auch keine Rede.
    "Das ist ja ein Landfriedensbündnis. Die drei Kommunen sichern sich gegenseitig Unterstützung zu, aber wenn man den Text nüchtern liest, ist da nichts von einer Staatsgründung, ist da nichts von einem revolutionären Aufstand zu lesen."
    Solche Landfriedensbündnisse waren in der Zeit um 1300 keine Seltenheit. Immerhin ließe sich sagen, dass mit dem Vertrag der drei Waldstätte ein Muster vorgezeichnet war, nach dem sich in den folgenden rund 160 Jahren allmählich die Eidgenossenschaft entwickelte. Als zunächst lockeres und nach außen offenes Geflecht gegenseitiger Bündnisse und Beistandsverpflichtungen von Landgemeinden und Städten. Immer wieder kam es dabei
    zu militärischen Zusammenstößen mit den habsburgischen Herzögen und Grafen, deren Machtzentrum ursprünglich im Raum der heutigen Schweiz lag, bevor es sich im 14. Jahrhundert nach Österreich verschob. Auch mit tätiger Nachhilfe ihrer letztlich siegreichen eidgenössischen Rivalen.
    "Allerdings darf man das dann nicht allzu einseitig sehen, denn die Habsburger sind immer wieder auch in gewissen Phasen Verbündete einzelner eidgenössischer Kommunen gewesen."
    Von einem Freiheitskampf unterdrückter Schweizer Bauern gegen habsburgische Tyrannei war jedenfalls erst 180 Jahre nach dem angeblichen Ereignis die Rede. Im "Weißen Buch von Sarnen", einer um 1470 verfassten Chronik, wurde auch erstmals das Rütli als Versammlungsort erwähnt.
    Eine Rodungswiese am Urner See
    "Und wenn sie etwas tun und vornehmen wollten, so fuhren sie nachts an einen Ort, heißt im Rütli. Da tagten sie zusammen, und jeder brachte Leute mit sich, denen sie vertrauen konnten. Und sie trieben das eben lang und heimlich und tagten zu dieser Zeit nirgends anders als im Rütli."
    "Man muss sich auf der Karte anschauen, wo dieses Rütli liegt. Es ist eine Rodungswiese am Urner See. Die drei Länder Uri, Schwyz und Unterwalden stoßen dort gewissermaßen aneinander."
    Warum dauerte es bis ins späte 15. Jahrhundert, bevor die Legende vom Freiheitskampf entstand? Eine Erklärung lautet, dass die Eidgenossenschaft als politisches Gebilde erst nach 1450 so weit konsolidiert war, dass das Bedürfnis aufkommen konnte, sich eine heroische Ursprungsgeschichte zuzulegen. Zugleich richtete sich die Erzählung gegen Anwürfe habsburgtreuer Propagandisten, die damals die Eidgenossen als perfide Rebellen schmähten.
    "Sie dreht gewissermaßen die Kritik um und macht daraus eine sehr selbstbewusste, sehr stolze Legitimation der eigenen Existenz."
    Nicht von ungefähr wurde das Rütli zum patriotischen Sehnsuchtsort.
    "Gegrüßet sei, friedliche Stätte, / gegrüßet, du heiliges Land, / wo sprengten der Sklaverei Kette / die Väter mit mächtiger Hand."