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Schwerpunktthema: Finanzhaie an der Drogenbörse

Märkte sind ein zentraler Bestandteil wirtschaftssoziologischer Forschung. Stillschweigend gehen viele Analysen von legalen Märkten aus. Illegale Märkte, Drogen oder gefälschte Kleidung, bleiben ausgeklammert. Ein Fehler, sagen manche Wissenschaftler.

Von Mirko Smiljanic |
    Berlin-Kreuzberg, Görlitzer Park, ein milder Sommertag. Jogger drehen ihre Runden auf den Wegen der ausgedehnten Streuobstwiesen, Mütter sitzen auf Bänken und spielen mit ihren Kindern, hier und da hoppeln Kaninchen über den Rasen. Ein Idyll – fast zumindest: Auf einem schmalen Weg zwischen der Görlitzer und der Wiener Straße bekommt die heile Welt tiefe Risse. Junge Männer, viel Afrikaner, lungern am Rande des Weges und tuscheln mit Passanten. Einige bleiben stehen, fragen etwas, verhandeln, um kurze Zeit später kleine Umschläge in ihren Jacken verschwinden zu lassen: Der Görlitzer Park hat sich zu einem veritablen Drogenmarkt entwickelt.

    "Auf so einem illegalen Markt befinden sich zunächst immer mal die Konsumenten."

    Matthias Erlei, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Technischen Universität Clausthal.

    "Das heißt, diejenigen, die Drogen kaufen wollen und dann die Anbieter auf dem Endproduktemarkt, das heißt, wir würden sie vielleicht im Alltagssprachgebrauch Dealer nennen, und hinter den Dealern stehen üblicherweise natürlich sehr gut organisierte Organisationen, die häufig auch enge Kontakte haben zu den Produzenten in den Anbauländern."

    Illegale Märkte unterliegen zunächst einmal den gleichen Rahmenbedingungen wie legale Märkte: Es gibt Anbieter von Waren oder Dienstleistungen und es gibt mindestens zwei Kunden, die diese Waren oder Dienstleistungen nachfragen. Bei nur einem Kunden, sprechen Wirtschaftssoziologen von "Transaktionen", ein Markt im strengen Sinne sei das nicht, sagt Erlei. Was aber unterscheidet illegale von legalen Märkten?

    "Das wichtigste Kriterium ist das rechtliche,"

    sagt Frank Wehinger, Soziologe, der am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung Köln eine Übersichtsstudie über illegale Märkte verfasst hat.

    "Was verboten ist, führt zu einem illegalen Markt, wobei man unterscheiden muss zwischen verschiedenen illegalen Märkten. Dass überhaupt ein Markt entsteht, muss gewisse Voraussetzungen haben. Die Voraussetzung ist, dass es ein Angebot und eine Nachfrage gibt, und illegal wird dieser Markt dann, wenn das, was gehandelt wird, verboten ist, oder wenn das Handeln selbst verboten ist."

    Der Görlitzer Park in Berlin
    Der Görlitzer Park in Berlin - hier verkaufen viele Dealer ihre Drogen. (picture alliance / dpa - Jens Kalaene)
    Verschiedene Typen von illegalen Märkten
    Verboten sind zum Beispiel illegale Drogen wie Heroin oder Crack, aber auch kinderpornografisches Material. Der Handel mit solchen "Waren" – um im ökonomischen Jargon zu bleiben – unterliegt gesetzlichen Restriktionen, also ist der Handel mit ihnen ebenfalls nicht erlaubt. Beim zweiten Typ illegaler Märkte wird es komplizierter: Der Markt ist dann illegal, wenn die Produkte zwar legal sind, die Bedingungen, unter denen sie gehandelt werden, aber illegal. Ein typisches Beispiel ist der Handel mit menschlichen Organen.

    "Organtransplantationen sind ja nicht verboten, sie werden ja vorgenommen, sind überlebenswichtig, aber in dem Moment, wo Organe gehandelt werden gegen Geld, ist es ein Markt."

    Den der Gesetzgeber aus ethischen und moralischen Gründen verboten hat. Es darf nicht sein, dass mittellose Menschen Nieren höchstbietend verkaufen, nur um ihre Stromrechnung bezahlen zu können. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Frage, ob der Empfänger einer Spenderniere sich strafbar macht, wenn er weiß, dass der Spender aus Indien seine Niere aus finanziellen Motiven hergibt.

    Weiterhin unterscheiden Soziologen illegale Märkte, auf denen gesellschaftlich legitimierte Waren angeboten werden – Zigaretten, Kleidung oder Wein etwa – von Märkten mit gesellschaftlich nicht legitimierte Waren – Kinderpornografie oder harte Drogen. Außerdem müssen Verkäufer und Käufer wissen, dass sie mit etwas Illegalem handeln. Weiß nur der Verkäufer, dass seine Rolex-Uhren Fälschungen sind, handelt er zwar kriminell, allerdings auf einem legalen Markt. Jenseits solcher juristischer und ökonomischer Spitzfindigkeiten ist die Frage entscheidend, wie illegale Märkte entstehen.

    "Illegale Märkte entstehen immer dann, wenn es einen Anreiz gibt für jemanden, etwas zu kaufen und durch die Illegalität die Ware oder die Dienstleistung billiger wird als auf einem legalen Markt. Auf der anderen Seite muss es auch Anbieter geben, die bereit sind, eine Dienstleistung oder eine Ware anzubieten und diese illegal zu verkaufen. Das ist dann der Fall, wenn es eben eine Nachfrage gibt - erstens - und zweitens der Preis für die Illegalität nicht zu hoch getrieben wird, dass es sich nicht mehr lohnt, Illegalität ist nämlich von vornherein einmal teuer."

    Hohe Preise auf illegalen Märkten
    Wovon die Junkies im Görlitzer Park ein Lied singen können: Drogensüchtige verkaufen nicht selten ihr Hab und Gut – inklusive ihres Körpers – um an den begehrten Stoff zu kommen. Die Preise sind hoch. Matthias Erlei von der TU Clausthal hat untersucht, wie Preise auf Drogenmärkten entstehen.

    "Das ist eine ganz spannende Frage. Es fängt erst einmal damit an, dass wir eine Prohibition haben und auf solchen Märkten jede Aktion mit sehr hohen Risikokosten, sprich: Gefängnisandrohung, verbunden sein kann, und somit nur wenige Anbieter überhaupt infrage kommen. Üblich dürfte sein, dass auf den meisten Märkten ein kleines regionales Monopol vorherrscht, das heißt, es gibt für Stadtteile in großen Städten oder für Städte den dominanten Lieferanten, der letztendlich die Preise vor Ort festlegt. Das bedeutet zum einen, dass die Preise wegen der Monopolmacht deutlich höher sein werden als die Kosten. Darüber hinaus - und das ist eine wirkliche Besonderheit - ist für solche illegalen Märkte, auf denen keine Konkurrenz stattfindet, zumindest nicht im üblichen wirtschaftlichen Sinn, sehr gut möglich, eine Preisdiskriminierung vorzunehmen je nach Zahlungsbereitschaft des Kunden."

    Im Klartext: Die Preise werden von Kunde zu Kunde neu festgelegt: Wer viel zahlen kann, der zahlt auch viel, wer weniger Geld hat, entsprechend weniger. In jedem Fall bewegt sich der Erlös am höchstmöglichen Level.

    "Auf die Art und Weise, dass man unterschiedliche Preise nehmen kann wegen des völlig fehlenden Wettbewerbs, lassen sich die Gewinne massiv erhöhen, und ich denke, das ist ein zentraler Grund für die Eigendynamik, die solche illegalen Märkte mitunter annehmen können."

    Von außen wirken illegale Drogenmärkte dereguliert und bis zu einem gewissen Punkt sind sie es auch. Einen Schutz des Verbrauchers vor schlechter Ware, eine Produkthaftung im klassischen Sinn, gibt es nicht. Trotzdem, sagt Matthias Erlei, kann sich zumindest der regelmäßige Drogenkonsument halbwegs sicher fühlen. Auf der einen Seite ist die Droge zwar …

    "… ein Erfahrungsgut, das heißt, man muss sie erst zu sich genommen haben, um ihre Qualität beurteilen zu können, und wenn sie zu sich genommen wurde, ist sie nicht mehr da, eine Überprüfung kann nicht mehr stattfinden. Es gibt aber einen gewissen indirekten Schutz insofern, als dass ja jeder Abnehmer von solchen Rauschgiften ein relativ zahlungsfähiger Mensch ist, und solche zahlungsfähigen Personen möchte man ja nicht verlieren, das heißt, für einen Anbieter, der regelmäßig an solche Personen verkauft, besteht ein Eigeninteresse, keine zu schlechte, keine gesundheitsschädliche Ware zu verkaufen, weil man ansonsten diesen Kunden entweder dadurch verliert, dass er sich in einem anderen Stadtteil einen Lieferanten sucht oder dass er womöglich noch stirbt, was das allerschlimmste wäre."

    Vom illegalen in den legalen Markt
    Die erzielbaren Gewinne auf illegalen Märkten sind exorbitant hoch. Selbst auf Märkten, die eher den Charakter von Flohmärkten haben. "La Salada" ist ein solches Beispiel, ein illegaler Bekleidungsmarkt vor den Toren Buenos Aires. Vor etwas mehr als zehn Jahren gegründet, setzt La Salada mittlerweile an seinen knapp 8.000 Verkaufsständen jährlich mehrere Milliarden Dollar um. Wie viel genau, weiß niemand, Kontrollen durch Steuerbehörden gibt es nicht, ein großer Teil der Waren sind Plagiate. Natürlich lassen sich solche Geschäfte nicht im Verborgenen abwickeln. Matthias Dewey, argentinischer Soziologe am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln, hat mehrere Monate lang Feldforschung auf La Salada betrieben. Natürlich gebe es hin und wieder Streit und Gewalt auf Lateinamerikas größtem illegalem Markt, aber nicht mehr als üblich. Warum auch: Die Polizei – also der Staat – sorgt für Ordnung. Auf La Salada sei es üblich, …

    "… dass die Polizei informell Geld nimmt, es gibt eine institutionalisierte Korruption. Die Leute, die gefälschte Klamotten verkaufen, bezahlen eine informelle Steuer."

    Ein System, von dem alle profitieren: der Kunde, weil die Waren preisgünstig sind; der Großhändler, weil er auf La Salada Waren in großen Mengen billig einkauft und in der Provinz teuer verkauft; der Staat, weil er die Gehälter der Polizei nicht zahlen muss; und last but not least die vielen Tausend Menschen, die im Hintergrund billige Kleidung für La Salada produzieren.

    "Die Leute, die wirtschaftlich davon abhängen, sind Tausende Familien. Man kann nicht von heute auf morgen sagen, schließen wir den Markt und fertig. Es gibt fast 8.000 Stände, hinter jedem der Stände gibt es fünf Workshops ungefähr, das heißt, wir haben etwa 40.000 potenzielle Familien dahinter."

    Hinzu kommen die mit La-Salada-Produkten belieferten Märkte der Provinz, auf denen wiederum Tausende arbeiten und Geld verdienen: Der Gesamtumsatz liegt im Milliardenbereich. Was passiert mit dem Geld? Es fließt zurück in den legalen Finanzkreislauf. Oder anders ausgedrückt: Illegale Märkte müssen von einem bestimmten Volumen an mit legalen Märkten kooperieren, das Geld muss in großem Stil reinvestiert werden.

    Verbindungen zum Finanzmarkt
    Womit ein Markt ins Visier gerät, dem viele Menschen ohnehin ausgesprochen kritisch gegenüber stehen: dem Markt mit Finanzprodukten. Auf dem global agierenden Markt wird deutlich, dass legale und illegale Märkte an den Rändern verschwimmen.

    "Illegaler Markt ist ein Markt, der unter irgendeinem nationalen Gesetzessystem als illegal erklärt worden ist. Das kann auch aufgrund des Völkerrechts ein illegaler Markt sein."

    Martin Blum, Professor für Wirtschaftspolitik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

    "Da sich die nationalen Gesetzgebungsverfahren und Gesetzgebungsinhalte durchaus unterscheiden, kann es ein, dass sich ein Markt in einem Land illegal ist und in einem anderen Land nicht, das gilt beispielsweise für Drogen, das gilt beispielsweise aber auch für Finanzprodukte."

    Drogen und Derivate – eine interessante Mischung! Bezüglich illegaler Märkte verbindet sie eine Gemeinsamkeit: In vielen Fällen ist das Gesetzgebungsverfahren zu träge, um sie verbieten, sollten sie negativ wirken. Neue Klassen von Designerdrogen überschwemmen die Märkte und verschwinden wieder, gleiches gilt für toxische Finanzprodukte, bei denen es noch eine Spur komplizierter ist: Sie können sinnvoll sein – also legal – sie können aber auch zerstörerisch wirken und deshalb unter Rubrik "illegal" fallen.

    "Man kann eben nicht garantieren, zu welchem Einsatz sie kommen. Bei den Kreditausfallversicherungen war es eigentlich ein kluger Gedanke, dass sich derjenige, der einen Kredit begibt, sich gegen den Ausfall versichert, das ist in Amerika erforderlich, weil dort die Grundschuld oder das Hypothekendarlehen in dieser Form nicht mit einer Besicherung des Hauses so existiert, wie bei uns."

    "Und da wurden dann auch ein Haus zehn, zwanzig, dreißig, zum Schluss durchschnittlich fünfzig Credit Default Swaps gezogen, weil immer die Schuld von der Versicherung getrennt wurde, das waren diese sogenannten Verpackungsindustrien, die immer wieder diese entsprechenden Sicherungen umgepackt haben, und irgendwann passiert das Verrückte, dass jemand an der Insolvenz Interesse hat, weil er damit Geld macht, was eigentlich nicht Ziel der Sache sein sollte. Und damit kommt ein Moment mit hinein, des Gebrauchens, das nicht vorgesehen war, und dann im Prinzip kriminellen Verhaltensweisen Vorschub leistet."

    Was beim internationalen Finanzmarkt legal ist oder illegal oder zukünftig illegal sein wird, das weiß niemand so genau. Weshalb die Schäden illegaler Finanztransaktionen auch so immens hoch sind.

    Börsenkrise: Hektik unter Börsenmaklern an der New Yorker Wall Street
    Was beim internationalen Finanzmarkt legal ist oder illegal oder zukünftig illegal sein wird, das weiß niemand so genau. (AP)
    Debatte um Legalisierung
    Bleibt zum Schluss die Frage: Sollten illegale Märkte legalisiert werden? Pauschale Antworten gibt es nicht, hier müsse man sich jeden Markt einzeln ansehen, den Kunstmarkt mit dem Organmarkt und den wiederum mit dem Drogenmarkt zu vergleichen, macht keinen Sinn. Vergleichsweise weit gediehen ist diese Diskussion beim Drogenmarkt. Erste zaghafte Schritte hin zu einer Liberalisierung wurden zwar mit dem Methadonprogramm gemacht, über das Schwerstsüchtige kostenlos eine Ersatzdroge bekommen. Aber eben nur erste Schritte. Man könnte ja – allerdings mit weitreichenden Folgen – harte Drogen komplett freigeben.

    "Wenn man wirklich sagen würde, wir geben den Drogenmarkt frei, dann ist relativ klar, dass die sehr hohen Gewinnen, die erwirtschaftet werden, einfach dadurch abgebaut werden, dass viel effizienter agierende Unternehmen auf diesen Markt kommen, die Preise werden gesenkt, der Gewinn wird langsam aber sicher erodieren."

    Was den Konsumenten zugutekommt, sie entkommen dem fatalen Kreislauf von Sucht und Beschaffungskriminalität. Das klingt überzeugend, hat aber einen Haken. Wer den Drogenmarkt legalisiert, nimmt in Kauf, dass jeder – auch Kinder – mit harten Drogen in Kontakt kommen können. Dagegen gibt es gesellschaftliche Widerstände. Aus diesem Grund plädiert Matthias Erlei für eine Teilliberalisierung.

    "Diese Teilliberalisierung meint Folgendes: Ich würde den Verkauf von Drogen verbieten. Nach wie vor so, wie es heute ist, würde ich ihn illegal belassen. Allerdings würde ich den Drogenkonsum selbst zum einen entkriminalisieren, ihn also nicht mehr unter Strafe stellen, und zum anderen, was noch wichtiger ist, würde ich Abhängige, Süchtige, die sich outen, über Apotheken und Krankenhäuser mit den Drogen versorgen."

    Dann würden Berlins Junkies ihren Stoff nicht mehr auf dem illegalen Markt im Görlitzer Park kaufen, sondern auf dem legalen Markt in der Apotheke um die Ecke – womit Kreuzbergs grüne Insel wieder ganz den Joggern, den Müttern und den Kaninchen gehört.