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Seenotrettung im Mittelmeer
"Menschen nach Libyen zurückzubringen ist inakzeptabel"

Vergangene Woche seien schätzungsweise rund 220 Menschen im Mittelmeer ertrunken - obwohl Rettungsschiffe Kapazitäten hätten, sagte Florian Westphal von Ärzte ohne Grenzen im Dlf. Er sieht die EU kollektiv in der Verantwortung. Sie müsse es Menschen möglich machen, auf legalem und sicherem Weg in Europa Schutz zu suchen.

Florian Westphal im Gespräch mit Silvia Engels | 28.06.2018
    Fluechtlinge auf dem Rettungsschiff von Mission Lifeline am 21.06.18 im internationalen Gewaesser vor der libyschen Kueste.
    Flüchtlinge auf dem Rettungsschiff von Mission Lifeline (imago)
    Silvia Engels: Die Hilfsorganisationen der Vereinten Nationen appellieren heute an die EU-Länder, mehr gegen das Sterben von Migranten und Flüchtlingen auf dem Mittelmeer zu unternehmen. In Deutschland entzündet sich daneben ein eigener Streit. Es geht um den Umgang mit den Menschen an Bord des Flüchtlingsschiffes "Lifeline", das gestern ja in Malta angedockt ist.
    Am Telefon ist nun Florian Westphal. Er ist Geschäftsführer der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen in Deutschland. Die Ärzte ohne Grenzen beteiligen sich im Mittelmeer an der Rettung von Flüchtlingen und betreiben dort auch Schiffe, die Menschen aufnehmen. Die Organisation ist zum Beispiel beteiligt an den Rettungsaktionen der "Aquarius". Dieses Schiff war ja in den letzten Wochen mit Flüchtlingen an Bord von Italien und Malta zunächst abgewiesen worden, bevor sie dann in Valencia in Spanien anlegen durfte. Guten Tag, Herr Westphal.
    Florian Westphal: Guten Tag!
    Engels: Wie ist denn die Geschichte der "Aquarius" seitdem weitergegangen?
    Westphal: Die "Aquarius" ist dann aus Valencia wieder ausgelaufen in Richtung des Gebietes in internationalen Gewässern vor der libyschen Küste, wo die meisten Schiffbrüchigen letztendlich in Not geraten. Jetzt ist es aber natürlich so, dass es im Moment ja nicht gewährleistet ist, wenn man Schiffbrüchige aufnimmt, dass man sie auch wirklich in einen sicheren Hafen bringen kann, weil sowohl Italien als auch Malta das momentan verweigern. Und insofern ist die "Aquarius", musste sie unverrichteter Dinge wieder aus der Region abziehen. Weil sie nicht in Malta einlaufen durfte, um dort neuen Nachschub an Bord zu nehmen, ist sie jetzt auf dem Weg nach Frankreich.
    Was uns wirklich dabei am meisten besorgt ist die Tatsache, dass letzte Woche allein 220 Menschen geschätzt ertrunken sind, dass wir wissen, dass weitere Menschen jetzt in Gefahr sind. Die "Aquarius" hätte Kapazität, diesen Menschen helfen zu können. Sie kann es nicht, weil die europäische Politik, die europäischen Staaten sich letztendlich nicht einigen können.
    "Politischer Wettbewerb zwischen Mitgliedsstaaten"
    Engels: Das heißt, de facto geschieht schon ein politisches Statement durch die Entscheidung von Malta und Italien, die Häfen dicht zu machen, dahingehend, dass Sie nicht mehr auf Rettungsmission fahren?
    Westphal: Ja, es gibt ja viele politische Statements letztendlich. Das erste der gesamten Europäischen Union inklusive Maltas und Italiens ist ja, dass man nicht die Seenotrettung, nicht das Retten von Menschenleben in den Vordergrund gestellt hat, sondern dass man letztendlich politischen Wettbewerb betreibt zwischen Mitgliedsstaaten.
    Das Zweite ist, dass man auf die libysche Küstenwache setzt und die libysche Küstenwache unterstützt, obwohl man weiß - und jede EU-Regierung weiß das -, dass man Menschen damit zurückbringt in eine Situation in Libyen, in der sie willkürlicher Inhaftierung ausgesetzt sind, in vielen Fällen körperlicher Misshandlung bis zur Folter, Vergewaltigung, andere sexuelle Vergehen, Zwangsarbeit, Menschenhandel. Und die EU ist bereit, das zu finanzieren, mitzufinanzieren, dass Schiffbrüchige in diese Situation zurückgebracht werden. Das alles sind politische Entscheidungen auf Kosten von Menschenleben.
    Geschäftsführer Florian Westphal von Ärzte ohne Grenzen auf der Jahres-Pressekonferenz der Organisation.
    Florian Westphal, Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen (dpa - Kay Nietfeld)
    "Die Menschen haben gar keine andere Wahl"
    Engels: Das heißt, Ihre Hilfsorganisation wäre unter keinen Umständen bereit, schiffbrüchige Flüchtlinge auch vor der libyschen Küste nach Libyen zurückzubringen?
    Westphal: Wir sprechen ja mit den Schiffbrüchigen an Bord und die berichten uns von ihren Erlebnissen in Libyen. Wir haben selbst Projekte in Libyen. Das heißt, wir betreuen Menschen medizinisch in Libyen, Menschen auf der Flucht, die in diesen Gefängnissen festgehalten werden. Wir sehen die Bedingungen dort. Und das, was man von all diesen Menschen immer wieder hört, ist: "Nicht zurück nach Libyen!" Diese Menschen fliehen aus Libyen. Das haben sie alle gemeinsam, egal aus welchem Grund sie jemals aus ihrem Heimatland aufgebrochen sind. Sobald sie sich in Libyen befinden, bleibt ihnen keine Wahl, außer aus Libyen zu fliehen.
    Und die Alternativen, die es gibt, zum Beispiel auch von den Vereinten Nationen unterstütze Rückführung in Richtung Niger, andere afrikanische Länder, die natürlich bei weitem nicht freiwillig ist, weil die Alternative lautet, entweder im Gefängnis bleiben, der Folter ausgesetzt bleiben, oder der Rückführung zuzustimmen, die kommt nur für ganz, ganz wenige Menschen in Betracht. Das heißt, die Menschen haben gar keine andere Wahl und sie wollen nur weg aus Libyen.
    "Die meisten Schiffbrüchigen werden nicht von NGOs gerettet"
    Engels: Nun haben sich aber einige Regierungen wie beispielsweise Italien schon länger dafür ausgesprochen, dass man auch nach Seerecht dann den nächsten Hafen anläuft, und wenn der ein libyscher ist, dann sollte das so sein. Das heißt, Sie werden hier mit der italienischen Regierung bis auf weiteres nicht zusammenarbeiten, oder laufen auch Gefahr, sich möglicherweise internationalen Standards zu widersetzen?
    Westphal: Zwei Dinge sind dazu interessant. Bis jetzt haben wir jede einzelne Rettung unter der Koordination der italienischen Seenot-Rettungsleitstelle durchgeführt. Das heißt, es sind italienische Behörden, die über jede Rettung informiert waren, die uns oft ja die Information gegeben haben, damit wir wissen konnten, wo Schiffbrüchige waren, und die uns dann auch den sicheren Hafen angewiesen haben. Das war bis zu der letzten Rettungsaktion immer so. Dann ist es unterbrochen worden.
    Zweitens: Interessanterweise ist es aber so, dass Schiffe der italienischen Küstenwache, die ja auch Schiffbrüchige retten - die meisten Schiffbrüchigen werden nicht von Nichtregierungsorganisationen gerettet, sondern unter anderem von der kommerziellen Schifffahrt -, diese Schiffe werden nach wie vor anders behandelt. Das heißt: Währenddessen wir nach Valencia geschickt wurden, drei Tage Schifffahrt bei hohem Wellengang, wurde es Schiffen der italienischen Küstenwache erlaubt, bis zu tausend schiffbrüchige Menschen gleichzeitig nach Sizilien zu bringen. Das begrüßen wir natürlich aus menschlicher Sicht, aber wir stellen uns natürlich auch die Frage: Was sind das für unterschiedliche Standards, die hier angewendet werden? Wie soll das Sinn ergeben? Und vor allem: Das ist doch nicht im Interesse der Hauptbetroffenen, nämlich der Schiffbrüchigen.
    "Menschen nach Libyen zurückzubringen ist inakzeptabel"
    Engels: Da gibt es ja einen sehr prominenten Fall, nämlich den Kapitän des Schiffs "Lifeline". Das war ja das Flüchtlingsschiff, was zuletzt einen Hafen suchte und letztlich in Malta angelegt hat. Dort wird ja dem Kapitän der Vorwurf gemacht, dass er italienischen Anweisungen sich widersetzt habe, wonach er die Flüchtlinge dann doch nach Libyen hätte bringen müssen. Er weist das zurück. Den konkreten Fall können Sie wahrscheinlich nicht bewerten. Aber würden Sie das als Teil des Themas sehen, was Sie gerade angesprochen haben? Es ist politisches Interesse in Italien, die Nichtregierungsorganisationen von Rettungsaktionen abzuhalten?
    Westphal: Offensichtlich nicht nur politisches Interesse in Italien, sondern auch in den meisten anderen EU-Mitgliedsstaaten. Es ist ja nun nicht so, dass die Bundesregierung in Berlin sich besonders damit hervortäte, dass sie die Seenotrettung von Nichtregierungsorganisationen unterstützt, oder noch besser, dass sie sich endlich dafür einsetzt, dass die EU-Staaten selbst diese Seenotrettung übernehmen. Denn das sollte ja keine Aufgabe von Nichtregierungsorganisationen bleiben.
    Nein, da würde ich Italien tatsächlich nicht besonders hervorheben. Da steht die EU kollektiv in der Verantwortung. Aber es wird hier unterschiedliches Maß angelegt und Menschen nach Libyen zurückzubringen in den jetzigen Umständen, wohl wissend, wie die meisten von ihnen dort behandelt wurden, das ist inakzeptabel. Das ist kein sicherer Hafen. Das kann durch nichts gerechtfertigt werden. Und genau deswegen war es ja bis jetzt über Jahre auch immer der Fall, dass auch die italienischen Behörden angewiesen haben, diese schiffbrüchigen Menschen nach Italien zu bringen.
    "Keinerlei politische Entscheidung kann rechtfertigen, dass man Menschen ertrinken lässt"
    Engels: Horst Seehofer, der Bundesinnenminister hat zuletzt das Vorgehen der maltesischen Behörden, dieses harte Vorgehen durchaus verteidigt. Muss nicht auch Ärzte ohne Grenzen als Hilfsorganisation zur Kenntnis nehmen, dass sich das gesellschaftliche Klima womöglich auch in Deutschland wandelt, aufgrund der Migration nicht mehr so hilfsbereit sein zu wollen? Wie reagieren Sie darauf?
    Westphal: Wir reagieren darauf, indem wir die Politiker fragen, welche Kosten sie eigentlich bereit sind, in Kauf zu nehmen für ihre politischen Entscheidungen. Das gesellschaftliche Klima kann ich so allgemein nicht beurteilen. Aber woran ich erinnern kann ist, dass es sich bei Seenotrettung um einen humanitären Akt des Leben Rettens handelt und dass es keinerlei politische Entscheidung gibt, die rechtfertigen kann, dass man Menschen ertrinken lässt auf hoher See, obwohl man die Möglichkeit hätte, ihnen zu helfen.
    Wir sagen nicht, dass diese Menschen alle automatisch ein Recht haben, in Europa zu bleiben. Man soll sie an Land bringen und sie dort in normale geregelte Prozesse einführen. Aber solange es die EU nach wie vor unmöglich macht für Menschen, auf legalem und sicherem Weg hier in Europa Schutz zu suchen, solange wird das Business der Schlepperbanden mit den löchrigen Schlauchbooten hervorragend weiterlaufen. Denn das alles wird nur möglich durch die jetzige EU-Politik, die verfolgt wird.
    Das in einem globalen Kontext, wo ja von der globalen Flüchtlingskrise, das heißt die 68 Millionen Menschen, die auf der Flucht sind weltweit, Europa, dieser reiche Kontinent, so gut wie gar nichts abbekommt, denn die meisten Menschen, 85 Prozent, wenn nicht mehr, geraten ja nicht nach Europa und wollen auch nicht nach Europa.
    Engels: Florian Westphal war das, der Geschäftsführer der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. Wir sprachen mit ihm über die Situation auch seiner Organisation, was das Retten auf dem Meer angeht. Vielen Dank.
    Westphal: Danke Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.