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Sehnsuchtsort des 21. Jahrhunderts
Gutes Leben auf dem Land?

Viele Menschen in Deutschland wollen auf dem Land leben, das belegen aktuelle Umfragen. Doch woher kommt die Sehnsucht nach dem Land? Und gibt es das ersehnte gute Leben auf dem Land überhaupt? Eine Tagung in Halle/Saale hat nach Antworten gesucht.

Von Christoph D. Richter | 12.07.2018
    Windmühle und Bauernhaus im Deichhinterland
    Das Landleben wird oftmals von Städtern verklärt. (Imago)
    Einkochen wie zu Omas Zeiten, Gärtnern per App, die private Reformschule auf dem Dorf, glückliche Hühner: Das Landleben boomt. Magazine wie "Mein schönes Land", "Landlust" und "Landgenuss" füllen meterweise Zeitschriftenregale und haben Hochkonjunktur. Was das jedoch mit der Realität zu tun hat und ist "Gutes Leben" - womit man üblicherweise ländliches Leben assoziiert - überhaupt möglich? Fragen, die inzwischen auch immer mehr Wissenschaftler beschäftigen.
    "Gutes Leben auf dem Land bedeutet, die Möglichkeit zu haben, einigermaßen selbstständig in einem Nah-Raum zu leben, der als schön, lebbar, naturnah verstanden wird", sagt Prof. Dr. Werner Nell. Er ist Vergleichender Literaturwissenschaftler an der Martin Luther Universität Halle-Wittenberg und Sprecher des auf vier Jahre angelegten Forschungsprojekts Experimentierfeld Dorf.
    Die eine Antwort gibt es nicht
    Nell hat die Tagung im Literaturhaus Halle initiiert, um das Landleben einer genaueren Betrachtung zu unterziehen: "Das Land ist keineswegs nur von der Siedlungsstruktur zu bemessen oder nur rein daher, wie hoch die Bevölkerungszahl ist oder wie viele Bauern es noch im Dorf gibt. Sondern wir benutzen in unserem Konzept den Begriff der Ländlichkeit, um deutlich zu machen, es geht um die Vorstellung von gesellschaftlichem Zusammenleben, vom Lebensstil, von der Art, leben zu können."
    Während der dreitägigen interdisziplinären Tagung mit der als Frage formulierten Überschrift "Gutes Leben auf dem Land?" wird offensichtlich: Die eine Antwort gibt es nicht. Zu komplex ist die Fragestellung. Denn erst muss geklärt werden, was ist gutes Leben überhaupt? Was meint der Begriff "Land" und wie kommt am Ende beides zusammen? Architekten, Landschaftsplaner, Soziologen, Literaturwissenschaftler, Geografen und Schriftsteller näherten sich auf teilweise sehr verschlungenen Pfaden - aber auch flanierend -, einer Antwort nach dem "Guten Leben auf dem Land".
    Immer schon Sehnsuchtsort
    Deutlich wird: Das Ländliche ist immer schon - bereits in der Antike - ein Sehnsuchtsort. In jedem Kinderbuch wird das Leben vom heimeligen Landleben dargestellt, ob bei Janosch oder Astrid Lindgren. Die Idylle von Bullerbü oder Petterssons Bauernhof hat sich bei uns allen eingebrannt. Damit werden wir grundsozialisiert. Weshalb es nicht verwundert, dass das Landleben auch heute, trotz allen Wissens über die realen Bedingungen, als Ort der inneren Einkehr, der sozialen Nähe, des Aufgehobenseins in der unübersichtlichen globalisierten Welt gilt.
    Prof. Dr. Werner Nell: "Es gibt eine bestimmte Sehnsucht. Man könnte auch sagen, es ist eine bestimmte anthropologische Konstante. Der Mensch möchte gern eine gewisse Vorstellung haben, in einer gewissen Kontinuität, einer gewissen Kohärenz, sein Leben auch mit anderen zusammenführen zu können. Das wird auf dem Land erwartet. Ob das dann eintritt, ist eine ganz andere Frage."
    Wie gutes Leben auf dem Land aussieht, das sind Projektionsflächen der Fantasie jedes Einzelnen. Und: Das Landleben war immer schon Stoff in der künstlerischen Auseinandersetzung. Beispielsweise in der Literatur. Nicht nur bei Cervantes, Friedrich Hebbel oder Knut Hamsun, sondern auch in zeitgenössischen Texten, wie etwa in Juli Zehs "Unter Leuten", Dörthe Hansens "Altes Land" oder Robert Seethalers "Ein ganzes Leben". Bücher, die bei Rezensenten und Lesern auf große Zustimmung stoßen. Das Dorf beziehungsweise die Ländlichkeit ist dort keine Kulisse, kein Arkadien, keine Schäfer-Idylle, sondern ein gestaltender, maßgeblicher Protagonist, ein souveräner Akteur der jeweiligen Handlung.
    Das Ländliche in Fernsehen und Film
    Ähnlich sieht es in Fernsehserien, in TV-Formaten aus: In den Dritten Programmen der ARD haben die medialen Land-Bastelbögen geradezu Deutungshoheit. Die Sendungen nennen sich "Unser Dorf hat Wochenende", "Geschichten überm Gartenzaun", "Landstreicher" oder "Expedition in die Heimat". Als Idylle, als Ort des "Guten Lebens", abseits des Großstadt-Trubels steht wie ein Paradigma: Die Uckermark. Eine durch Abwanderung und demografischen Wandel geprägte Region nördlich von Berlin, jetzt Zufluchtsort für viele gestresste Hauptstädter. Ein Narrativ, das in Fernsehbeiträgen zum Vorschein kommt, beispielsweise in den Dokumentarfilmen von Volker Koepp.
    "Sie versuchen gerade in O-Tönen von Betroffenen, die ganze Vielfalt von Leben auf dem Land, auch Aushandlungen des Guten auf dem Land, darzustellen. Die einzelnen Personen selber haben Träume, Ideen. Und dann versuchen sie, etwas Neues aufzubauen. Und wollen auch dieses Land schön machen und es sich schön machen auf dem Land", erzählt Claudia Stockinger, Literaturwissenschaftlerin und Professorin an der Humboldt-Universität Berlin, während im Hintergrund das großstädtische Leben rauscht und von dörflicher Stille wenig zu spüren ist.
    "Und dann kommt der Aspekt hinzu, ein Effekt eigentlich, der bei den Koepp-Filmen eine interessante Rolle spielt. Nämlich die Landschaft selbst, der Landschaftsraum, der kontrastiv zu den oft fantasmatischen Geschichten der Uckermark-Akteure gestellt wird. Also diese Landschaft ist schön, sie ist ruhig, sie hat ihre Eigenheiten im Jahresverlauf. Selbst die Mono-Kulturarisierung kann das nicht stoppen. Selbst die Windkraft-Anlagen haben ihre eigene Schönheit. Und das wird bei Koepp immer dagegen gestellt. Die Landschaft hat immer das letzte Wort", sagt Stockinger. Kraniche ziehen am Himmel, die Ähren wiegen sich im Wind, die Weite ist endlos. "Es ist ein Sehnsuchtsort, der da konstruiert wird", so Stockinger.
    Die Realität sieht anders aus
    Das Dorf als "Not-und Terrorzusammenhang", wie es einmal Utz Jeggle und Albert Illien in ihren "Dorf-Studien" beschrieben haben, taucht heute in den Medien und der Kunst jedoch kaum noch auf. Wie das Leben dort aussieht, kann man aber im Streifen "Das weiße Band" von Michael Haneke oder in der "Heimat"- Saga des Regisseurs Edgar Reitz sehen.
    Es sind Orte der Armut, wo Zwang, Enge und soziale Kontrolle herrschen, wo jede Abweichung von der Norm knallhart bestraft wird, so Kultursoziologe und Literaturwissenschaftler Werner Nell: "Ich hab als Kind die West-Eifel kennengelernt: Die Armut, die da war, die Vernachlässigung von Kindern, die harte Arbeit, die Bauern gezwungen hat, die Tiere in einer bestimmten Art und Weise zu malträtieren. Also, das Pferd musste getreten werden, damit es weiter geht. Das ist kein idyllischer Raum. Und das ist auch etwas, was wir im Projekt verfolgen: die Zwiespältigkeit des ländlichen Raums. Und man muss auch sehr deutlich sagen: In diese Welt der Not, der Armut, auch der Gewalt kann keiner zurückwollen, der sich mit der Entwicklung der Gesellschaft beschäftigt."
    Laut einer repräsentativen ZDF-Umfrage wollen 39 Prozent der Befragten im ländlichen Umfeld leben, nur 16 Prozent sehnen sich nach einem Leben in der Großstadt. Dennoch hält der Zuzug in die Städte - trotz hoher Mieten - unvermindert an. Weil hier die Arbeitsplätze sind, aber auch als Magnet für Wissenschaft, Forschung und Kultur. Laut einer Studie des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung leben nur noch 32 Prozent der Deutschen im ländlichen Umfeld.
    Privat-Vergnügen für Neu-Eliten
    Letztlich geht es immer wieder - wenn man sich die Bilder- und Kunstproduktion der ländlichen Räume betrachtet - um Bilder der "Sehn-Sucht". Das Ländliche, das ist der Wunsch-Traum-Zauber-Raum. Das Ideal hat Kurt Tucholsky bereits 1927 beschrieben: "Ja, das möchste: Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse, vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße; mit schöner Aussicht, ländlich-mondän, vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn - aber abends zum Kino hast du's nicht weit." (Theobald Tiger alias Kurt Tucholsky, 1927)
    Die Sprengeler Mühle, aufgenommen am 05.06.2014 in Sprengel (Niedersachsen) hinter einem Getreidefeld
    Viele Städter haben ein verklärtes Bild vom Leben auf dem Land. (dpa / picture alliance / Daniel Reinhardt)
    Wenn man am Ende doch eine Conclusio der Tagung in Halle heraus destillieren wollte, dann die: Dass das "Gute Leben auf dem Land" eine völlig individuelle Entscheidung ist. Mehr nicht. Es ist ein Privat-Vergnügen - vor allem für Neu-Eliten, die sogenannten Raumpioniere, die dem Leben der Stadt entrinnen und es sich leisten können, auf das Land zu ziehen, um verödete und verlassene Räume neu zu besetzen. Es sind Nomaden, die wie Außerirdische in der Provinz landen, um sich selbst zu verwirklichen, weniger, um ihre Existenz zu sichern, sagt Marc Redepenning. Er ist Kulturgeograf an der Universität Bamberg und einer der Referenten der Hallenser Tagung "Gutes Leben auf dem Land".
    "Wenn sie genug Geld haben, können sie für sich immer ein gutes Leben auf dem Land etablieren, mit wunderschönen Häusern. Man kann sich ja noch eine Zweit-Wohnung in der Stadt nehmen. Das gute Leben für die Leute, die möglicherweise in schrumpfenden Regionen leben, in peripheren Regionen, die von Arbeitslosigkeit, von einseitigen Arbeitsmärkten gekennzeichnet sind, die dort aber ihre Wurzeln und ihre Heimat haben, ist nicht immer kongruent mit dem guten Leben auf dem Land, was wir häufig erlesen und als Sehnsucht erträumen." Man habe es mit einer tiefen Kluft zu tun: Zwischen der Vorstellung des Lebens auf dem Land und der Wirklichkeit, so Redepenning weiter.
    Von hippen Entwürfen verabschieden
    Das "Gute Leben auf dem Land": Es ist die Sehnsucht nach Nähe, Verlässlichkeit und Gemeinschaft - Werte, die im 21. Jahrhundert durch die Digitalisierung zu verschwinden drohen. Dabei blenden die Neu-Dörfler die Globalisierung des Ländlichen aus. Denn viele der landwirtschaftlichen Flächen gehören längst weltweit agierenden Konzernen, vor Ort lebende Bauern haben da schon lange das Nachsehen.
    Das Dorf, wie wir es uns vorstellen, ist eine reine Kopfgeburt. Die Wirklichkeit ist vielschichtiger, sagt Marc Redepenning: "Aktuell schauen wir zu Rosa auf das Land." Von einem Experimentierfeld Land hält der Kulturgeograf wenig. Beispiel: die virtuellen Gärten in der Altmark. Berliner können da per App ihr eigenes Feld bestellen, das Gemüse bekommen sie anschließend nach Hause geliefert. Ohne einen Handschlag dafür zu tun.
    Wer das Land und deren Bewohner aber ernst nehmen wolle, müsse sich von hippen Entwürfen, von der urban-städtischen Deutungshoheit lösen. Das Landleben sei kein Abenteuerspielplatz. Stattdessen gehe es um Wertschätzung der Landbevölkerung, um ein Zuhören. Dann vielleicht ist gutes Leben auf dem Land möglich, meint Marc Redepenning: "Das wär mein Appell: Sich diesem Leben zu öffnen und es sich so anzugucken, wie es ist. Es reicht nicht aus, dass wir uns das durch Hochglanzmagazine und die Idyllisierung, die wir alle gerne betreiben, anschauen."