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Selja Ahava
Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm

Selja Ahava ist bislang vor allem als Drehbuchautorin für Film und Fernsehen in Erscheinung getreten. Ihr erster Roman "Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm" spielt trotz seines Titels hauptsächlich in ihrer finnischen Heimat.

Von Tabea Soergel | 02.10.2014
    "Anna war die Zeit zwischen den Händen zerfallen. Wie eine Flickendecke lag sie auf ihren Knien, alle Stücke gleich groß und gleich weit voneinander entfernt. Anna betrachtete sie verwundert, ohne darin eine größere Logik zu erkennen."
    Die alte Anna hat ein bewegtes Leben hinter sich. Nun wohnt sie in einem Pflegeheim irgendwo in Finnland und vergisst von Tag zu Tag mehr. Es ist gerade die Gegenwart, die sie immer weniger versteht, also wendet sie sich der Vergangenheit zu. Aus den Tiefen ihres Gedächtnisses steigen Erinnerungen auf: an die Sommer mit Antti auf ihrer geliebten Insel, an die Jahre nach dessen Tod mit Thomas in London und immer wieder an die Erfrorene, die sie an einem Wintertag im Wald gefunden hat - ein Moment, der sich ihr tief eingebrannt hat.
    "Die Augen waren geschlossen. Dünner Reif überzog die Gesichtshaut, als wüchse der Frau weißer Flaum oder ein Bart. Sie lag in Embryohaltung auf der Seite, die eine Hand zwischen den Oberschenkeln, die andere wie ein Kissen unter dem Kopf. Der Eindruck des Stillstands wurde nur von der dunklen Haarsträhne gestört, die von der Wange bis zur Stirn quer über das Gesicht fiel und sich leicht im Wind regte. Sie sah verblüffend schwarz und lebendig aus in all dem Weiß."
    Die größte Gefahr, der man sich mit Geschichten über das unaufhaltsame Vergessen aussetzt, ist nicht der Kitsch und auch nicht das Klischee. Es ist die Unglaubwürdigkeit. Denn wie soll man erzählen, was im Kopf eines Menschen vor sich geht, den das grundlegende Strukturelement seines Wesens im Stich lässt: sein Denkvermögen? Selja Ahava bietet mit diesem Buch eine überzeugende Variante an, indem sie auf jeden Realitätsanspruch verzichtet. Ihre Protagonistin durchlebt erneut Szenen ihres Lebens, doch sind sie nichts als Fetzen. Je mehr ihr einfällt, desto sichtbarer werden die Lücken, die sich nicht mehr schließen lassen. Das Jetzt ist ihr bereits entglitten, und nach und nach verliert sie auch noch die Deutungshoheit über den Teil ihrer Vergangenheit, an den sie sich zu erinnern meint.
    "Alles, was mit der Vergangenheit zu tun hatte, wirkte verrostet, verbogen, verschmälert und verfärbt. So konnte sie sich zum Beispiel an die drei Winter vor der Begegnung mit Thomas überhaupt nicht erinnern. Im Frühling, Sommer und Herbst jener Jahre war sie viel zu Fuß gegangen, aber die Winter schienen verschwunden zu sein."
    In der Gegenwart, diesem einsturzgefährdeten Konstrukt, verfliegt für Anna die Zeit wie in Albträumen, wechseln Dinge ihre Bedeutung, duplizieren sich Räume. Sämtliche Grenzen beginnen zu verschwimmen: zwischen den Zeiten, zwischen Wahn und Wirklichkeit, zwischen Menschen und Tieren. Die Verunsicherung überträgt sich von Anna auf den Leser, denn zum Glück sieht dieses Buch keine Instanz vor, die Handlungsstränge ordnen und Unklarheiten beseitigen würde. Wie Anna steht man auf schwankendem Grund, von dem sich das Nichts Stück für Stück einverleibt. Nie und nirgends ist man sicher vor seinen unberechenbaren Vorstößen.
    "Sie stand auf und zog die Hose an. Das ging schwer, denn sie trug bereits eine Hose. Erstaunt musterte sie das fremde Kleidungsstück. Wer schlief denn in Hosen? Anna zog die Hose aus und fand darunter noch eine. Kein Wunder, dass sie so schwitzte. Sie zog alle Kleider aus und legte sich nackt wieder unter die Decke. Jemand zog ihr Sachen an, während sie schlief."
    Ahava erzählt die Geschichte einer existenziellen Auflösung. Und das gelingt ihr ohne jede Schwere. Das Hauptgewicht liegt auf dem Früher mit seinem trügerischen Restbestand an Gewissheit. Schon vor dem Ausbruch der Demenz, soviel wird in den Rückblenden klar, war Anna eine Eigenbrötlerin, zufrieden mit sich und der unermüdlichen, minutiösen Inventur ihrer Welt. In der Erinnerung kehrt sie nach London zurück, wo sie nach dem Unfalltod ihres Mannes einen katastrophal endenden Neuanfang mit einem Jüngeren versuchte und eines Tages den titelgebenden Wal in der Themse sah. Annas Leben im Heim nimmt nur wenig Raum ein. Einmal läuft sie versehentlich weg. Ein anderes Mal kommt Gott zu Besuch und raucht mit ihr eine Zigarette. Diese Form der verschrobenen Poesie beherrschen vielleicht nur die Skandinavier: Da werden Kinder aus Hefeteig geboren. Oder da besteht eine Bärenfamilie darauf, ihren Winterschlaf in Annas Wohnung zu halten. Diese fantastisch-versponnenen Einfälle schleichen sich in die Geschichte ein, in der Geschwindigkeit von Annas Fahrt aufnehmender Verwirrung. Ahava beschreibt all dies sehr gradlinig und unaufgeregt. Ihre Sprache ist schlicht, fast schon spröde. Und wie jede gute Geschichte erzählt auch "Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm" von der Sehnsucht. Anna wird von ihrer Sehnsucht nach allem, was verloren ist, am Leben gehalten.
    "Der Heizkörper brodelte, jenseits des Parks brauste ein Lastwagen vorbei, die Küchenuhr tickte. Manchmal horchte Anna nachts auf die Lastwagen und stellte sich vor, es wären Wellen. Dann spielte sie, dass sie am Meer wohnte, und ein herrliches Raumgefühl erfasste sie. Die Postlaster holten Briefe vom Flughafen, jenseits des Parks schlug Post aus der ganzen Welt Wellen, der Wind blies aus der Ferne."
    Am Ende steht die Erkenntnis, dass Gott erst in Erscheinung tritt, wenn sonst nichts mehr übrig ist. Auch das erzählt Ahava mit nordisch-kühler Zurückhaltung, ohne jeden metaphysischen Ballast. Überhaupt ist die größte Leistung dieses Romans seine dem Thema angenehm unangemessene Leichtigkeit und Verspieltheit. Ein schönes, seltsames Buch, so traurig wie tröstlich, das einen nach dem letzten Satz in seliger Wehmut zurücklässt.
    Selja Ahava: "Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm". Roman. Mareverlag, 224 Seiten, 20 Euro.