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Zum 125. Geburtstag
Sepp Herberger: Bundestrainer, Strippenzieher, Bücherwurm

Wer an Sepp Herberger denkt, denkt vermutlich an den regenschweren Mantel beim WM-Finale 1954 in Bern. Der Mantel beschreibt jedoch nur ein Bild eines vielschichtigen Mannes. Am Montag wäre Herberger 125 Jahre alt geworden.

Von Burkhard Hupe | 27.03.2022
Sepp Herberger 1970 in seinem Haus in Mannheim.
Sepp Herberger 1970 in seinem Haus in Mannheim. (IMAGO / Apress)
Mannheim, Jahrhundertwende im Kaiserreich, Stadtteil Waldhof, das Leben in der Spiegelsiedlung. Ein Elendsviertel. Zu viele Menschen, zu wenig Platz. Erst recht für einen Jungen mit großen Träumen.
"Sepp Herberger hatte immer einen Lebenswunsch: er wollte Lehrer werden. Und diesen Wunsch konnte er sich auf Grund seiner Bildung nicht verwirklichen. Er musste mit 14 für den Unterhalt seiner Familie sorgen, als sein Vater gestorben ist", sagt Manuel Neukirchner, Direktor des Deutschen Fußball-Museums in Dortmund. "Er hat hinterher auch am Lebensende gesagt: Ich war immer ein Suchender. Ich war nach der letzten Wahrheit aus. Ich wollte Lehrer werden. Und das hat er sich dann verwirklicht, indem er Fußball-Lehrer geworden ist."
Der 28. März 1897 geht in Mannheim mit Blitz und Donner zu Ende. Durchaus ungewöhnlich, so früh im Jahr. Im Mannheimer Waldhof, in der werkseigenen Zweizimmerwohnung einer französischen Spiegelmanufaktur an der Rue de France 171, hat der kleine Seppl mit zerknittertem Gesicht das Licht der Welt erblickt. Als sechstes Kind des ungelernten Arbeiters Josef Herberger und dessen zweiter Frau Lina.

WM 1954 gegen Ungarn: Erst die Klatsche, dann der Triumph

Alle denken, dass sie wissen, wie dieses Finale ausgeht. In der Vorrunde sind die Ungarn ja schon mit 8:3 Toren über die Deutschen hergefallen. Und mittendrin der bedauernswerte Torhüter von Borussia Dortmund.
"Nech, ich habe irgendwie gebetet: Lieber Gott, lass es nicht zweistellig ausgehen. Aber acht Stück, das waren auch genug." Es ist die Nationalmannschaftspremiere von Heinrich Kwiatkowski, später Meistertorhüter von Borussia Dortmund.
In der Schweiz nicht mehr als ein Bauernopfer vom Chef. Sepp Herberger hat eine bessere B-Elf aufgestellt, die deutsche Volksseele kocht vor Wut. "Als wir dann von den Ungarn die Packung kriegten, wurden wir von den Fans ausgepfiffen. Ich glaube, dass war das Schlimmste, was ich in den 18 Jahren, die ich gespielt habe, erlebt habe", so Kwiatwkowski damals.
Die deutsche Nationalmannschaft mit Trainer Sepp Herberger (2.v.l.) nach dem WM-Triumph 1954.
Die deutsche Nationalmannschaft mit Trainer Sepp Herberger (2.v.l.) nach dem WM-Triumph 1954. (imago images/Ferdi Hartung)
Es bleibt nicht bei den Pfiffen. Herberger wird in der Heimat als Verräter geächtet. Auch von Journalisten. Ein sogenannter Anhänger des deutschen Fußballs fordert den Bundestrainer auf, sich am nächsten Baum aufzuhängen.
Herberger erträgt Hetze und Häme mit scheinbar stoischer Gelassenheit. Kwiatkowski: "Aber dass der Sepp, oder der Herr Herberger, wir haben ja hinter seinem Rücken immer Seppl gesagt, dass der dann doch ein guter Trainer war, hat er ja dann bewiesen."
4. Juli 1954: Im regenschweren und windzerzausten Wankdorf-Stadion von Bern, scheinen die Ungarn so unschlagbar wie eh und je. 70.000 im Stadion, 50 Millionen vor den deutschen Radiogeräten. Doch an diesem Tag findet der ewig Suchende sein Glück: "Deutschland ist Weltmeister. Schlägt Ungarn mit 3 zu 2 Toren im Finale von Bern", rief Radio Reporter Herbert Zimmermann.
Der kleine Mann mit dem zerknitterten Gesicht und dem ewig triefendnassen Regenmantel ist nach 57 wechselhaften Lebensjahren am Ziel angekommen.

Erst Länderspiel, dann Berufsspieleraffäre

Als Sepp Herberger kurz vor seinem 19. Geburtstag zur Infanterie eingezogen wird, ist er in Mannheim schon ein recht bekannter Außenstürmer. Er übersteht den Ersten Weltkrieg unbeschadet als Funker, spielt danach gleich wieder Fußball und bestreitet 1921 sein erstes von vier Länderspielen. Beim 3:3 in Finnland gelingen ihm sogar zwei Tore.
Sepp Herberger posiert in einem leeren Stadion mit Hut für ein Foto.
Sepp Herberger posiert in einem leeren Stadion mit Hut für ein Foto.
Fußball-Bundestrainer-Legenden: Nerz, Herberger und Schön
Mit der Fußball-EM wird Jogi Löw als Bundestrainer aufhören – nach fast 15 Jahren im "Amt". Er gehört dann in eine Gruppe mit drei seiner großen Vorgänger: Auch Otto Nerz, Sepp Herberger und Helmut Schön hatten lange und prägende Wirkungszeiten.
Doch danach ist erst mal Fußball-Feierabend. Herberger steckt mittendrin in der Mannheimer Berufsspieleraffäre. 10.000 Mark Handgeld hat er angenommen, um vom Waldhof zu Phönix zu wechseln. "Das ist mir sehr nahe gegangen damals. Ich hatte mich nicht so hoch eingeschätzt. Ich hatte meine Freude und habe eben gespielt und fühlte mich geschmeichelt, als ich dann so umworben wurde. Aber es war ein Verstoß gegen das Reglement und ich habe dafür auch zu büßen gehabt", sagte Herberger.
Viel mehr weiß man nicht von Herberger über diese Zeit. Er selbst hat sich zeitlebens darüber ausgeschwiegen. Herbergers lebenslange Fußball-Sperre wird auf acht Monate reduziert.
Die Verbindung mit Eva aber, 1921 für die Ewigkeit geschlossen, wird alles überdauern. "Also diese beiden könnten das klassische Rollenmodell zwischen Mann und Frau erfunden haben. Ev hat alles ihrem Sepp untergeordnet. Und Sepp war ein getreuer Ehemann, der auf der anderen Seite alles für seine Ev getan hat", sagte Neukirchner.

Reichstrainer unter Adolf Hitler

März 1938. Adolf Hitler ist seit fünf Jahren an der Macht, Sepp Herberger seit 18 Monaten am Ziel. Er ist jetzt Reichstrainer , nachdem er seinen Freund, Förderer und Vorgänger Otto Nerz nach dem peinlichen Aus der Nationalmannschaft im Olympischen Fußball-Turnier von Berlin abgelöst, vielleicht sogar ausgebootet hat.
Es ist in jedem Fall keine harmonische Staffelübergabe, hat Sporthistoriker Dietrich Schulze Marmeling festgestellt: "Seine Enttäuschung über Herberger wird auch an einem Zitat deutlich. Er hat nämlich gesagt, er habe mit Herberger eine Natter an seiner Brust groß gezogen, ohne dass er das gewusst habe."
Der einstige Fußball-Bundestrainer Sepp Herberger (l.) wird nach der Rückkehr vom WM-Turnier 1954 in der Schweiz auf dem Münchner Hauptbahnhof stürmisch begrüßt.
Der einstige Fußball-Bundestrainer Sepp Herberger (l.) wird nach der Rückkehr vom WM-Turnier 1954 in der Schweiz auf dem Münchner Hauptbahnhof stürmisch begrüßt.
Sepp Herberger: Eine Trainer-Legende tritt ab
28 Jahre lang betreute Sepp Herberger die Fußball-Nationalmannschaft, eine bis heute einzigartige Leistung. Mit dem sogenannten Wunder von Bern machte er sich 1954 als Trainer nahezu unsterblich. Vor einem halben Jahrhundert musste Herberger zurücktreten.
Sepp Herberger hat sich mit den neuen Machthabern schnell arrangiert. Schon seit dem Frühjahr 1933 ist er Mitglied der NSDAP. Später wird er diesen Schritt mit pragmatischem Kalkül rechtfertigen: Nähe zu suchen, um Distanz wahren zu können.
Ins Training lässt sich der frisch gebackene Reichstrainer jedenfalls nicht reinreden: "Montag oder Mittwoch kamen zwei SA-Leute, die haben sich einen Spaß daraus gemacht, unsere Leute zu schleifen. Und ich habe gesagt: So geht es nicht. Hier war ich entschlossen: Diese geländesportlichen Übungen gibt es nicht. Ich habe mich nicht wohl gefühlt dabei in meiner Haut."

Im politischen Alltag ein Strippenzieher

Aber Herberger ist nicht nur an der Seitenlinie ein gewiefter Taktiker und Strippenzieher, auch im politischen Alltag weiß er, an welche Tür er klopfen muss.
Zum Beispiel beim Reichssportführer von Tschammer und Osten: "Sag ich: Reichssportführer! Ich habe von Ihnen den Auftrag, eine spielstarke Mannschaft aufzustellen. Ich traue mir zu, diese Aufgabe gut zu erfüllen. Aber in meinem Programm sind keine geländesportlichen Übungen vorgesehen. Die kann ich nicht brauchen. Wenn unsere Spieler geländesportliche Übungen machen wollen, dann sollen sie zur SA gehen. Und dann hat mir der Reichssportführer auf die Schulter geklopft und gesagt: Machen Sie das, was Sie für richtig halten."
Sepp Herberger (r.) und sein Co-Trainer Helmut Schön 1957.
Sepp Herberger (r.) und sein Co-Trainer Helmut Schön 1957. (IMAGO / Ferdi Hartung)
Sepp Herberger hat eigene Ideen für Trainingslehre und Spielsystem. Sein Credo lautet: Freier Wille und freie Entfaltung für jeden einzelnen Spieler. Hier unterscheidet er sich grundlegend von seinem Vorgänger Otto Nerz, der im Training noch marschieren ließ. Herberger lässt seine Spieler dagegen Fangen spielen. Ein kindisches Vergnügen, das von der Partei natürlich missbilligt wird.
Aber der Erfolg gibt Herberger Recht: 1937 bleibt seine Mannschaft ungeschlagen, feiert zehn Siege, darunter ein 8:0 gegen Dänemark in Breslau. Die Geburtsstunde einer Auswahl, über die Herberger bis zu seinem Lebensende genauso ins Schwärmen gerät wie über seine Weltmeister-Elf: "Also das war auch eine Mannschaft, die sicherlich auch bei der Weltmeisterschaft 1938 gut abgeschnitten hätte."

Das Ende der WM-Träume 1938

Doch der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich bedeutet das Ende aller Weltmeisterschaftsträume. Sepp Herberger und seine Nationalmannschaft werden zum Spielball der Politik.
Im Frühsommer 1938 steht Sepp Herberger vor einem fast unlösbaren Problem. Deutschland und Österreich müssen innerhalb von ein paar Wochen eine gemeinsame Nationalmannschaft bilden. "Also, diese Verschmelzung der beiden Mannschaften zu einer einzigen, war an sich deshalb so schwierig, weil die Zeit, die uns noch bis zur Weltmeisterschaft in Frankreich verblieb, einfach zu kurz war."
Die politische Vorgabe lautet: 6+5. Sechs Deutsche und fünf Österreicher sollen in Frankreich den WM-Titel für das Dritte Reich gewinnen. Zu den deutschen Spielern gehört der Schalker Fritz Szepan: "Beängstigt hatte mich das, das auf einmal fünf oder sechs Wiener dabei sein sollten. Ich wusste genau, dass das nicht hinhauen konnte. Aber wir konnten ja nichts daran ändern. Es war tatsächlich so von oben befohlen worden, dass fünf Wiener mit dabei sein sollten."
Die großdeutsche Mannschaft wird zur großen Enttäuschung und scheidet gegen die Schweiz frühzeitig aus.

Herberger bangt um seine Nationalspieler

Nur ein Jahr später setzt das Deutsche Reich Europa in Flammen. Auch Nationalspieler müssen an die Front. Sepp Herberger bangt um seine Männer. Er organisiert Länderspiele mit wochenlangen Lehrgängen. Anfangs spielt der NS-Staat noch mit. Länderspiele suggerieren eine Normalität, die es eigentlich nicht mehr gibt.
So kommt ein Teenager aus Kaiserslautern im Kriegssommer 1940 zu seinem ersten Länderspiel. Es ist der Beginn einer besonderen Beziehung. Eines Vater-Sohn-Verhältnisses. Zwischen Sepp Herberger und Fritz Walter: "Und damals hat der Chef gesagt: Fritz, Sie machen noch 25 Länderspiele und noch mal 25 dazu. Und Sie werden mal Kapitän der Nationalmannschaft und mein verlängerter Arm auf dem Fußballplatz. Das ist also die reine Wahrheit."
Weltmeister Horst Eckel betrachtet die Sonderausstellung "Post vom Chef - Herbergers Briefe an die Weltmeister.
Weltmeister Horst Eckel betrachtet die Sonderausstellung "Post vom Chef - Herbergers Briefe an die Weltmeister.
"Durch diesen WM-Titel war Deutschland wieder bekannt"
Am 4. Juli 1954 gewann die deutsche Nationalmannschaft im sogenannten Wunder von Bern die Fußball-Weltmeisterschaft. Horst Eckel ist der letzte Spieler der 54er-Mannschaft, der noch lebt. Der WM-Titel habe Deutschland einen wichtig Schub gegeben - nicht nur im Fußball, sagte Horst Eckel im Dlf.
Kurz darauf geht es jedoch ums nackte Überleben. 1942: Der Krieg hat Deutschland erreicht. Die Großstädte ducken sich abgedunkelt durch die Nacht. Die Ostfront frisst jetzt ungezählte Leben.
Fronturlaub für Fußballer gibt es nur bei besonderer Tapferkeit vor dem Feind. "Das hat dazu geführt, dass Herberger quasi eigenmächtig an diese Spieler Auszeichnungen verliehen hat. EK1, EK 2, Sturmabzeichen. Das war eigentlich hochgradig illegal", so Sporthistoriker Dietrich Schulze-Marmeling.

Goebbels stoppt Länderspiele

Schulze-Marmeling fand auch heraus, dass Propaganda-Minister Josef Goebbels das vorläufige Ende der Kriegsländerspiele nach einer deutschen Niederlage im Berliner Olympiastadion einleitete: "Er hat gesagt, es wäre also absolut töricht, wenn ein Fußballspiel aller Voraussicht nach in einer Niederlage enden müsste. Dann sollte man es lieber lassen. 100.000 Menschen hätten das Olympiastadion deprimiert verlassen und sie hätten sich mehr für das Ergebnis einer Fußballmannschaft interessiert als für die Eroberung einer Stadt im Osten. Dann kommt es ja im November zum letzten Länderspiel in der Slowakei, und danach wird der Länderspielbetrieb, auch kriegsbedingt, komplett eingestellt."
Herberger versucht nun, seine Nationalspieler in sogenannten Soldaten-Mannschaften unterzubringen, die sich an Garnisonsstandorten gebildet haben. Die berühmteste und beste Mannschaft bilden die Roten Jäger. Sie gehören zum Geschwader des berühmtes Jagdfliegers Hermann Graf, der wiederum mit Reichstrainer Herberger gut bekannt ist.
Der einstige Fußball-Bundestrainer Sepp Herberger (l.) wird nach der Rückkehr vom WM-Turnier 1954 in der Schweiz auf dem Münchner Hauptbahnhof stürmisch begrüßt.
Der einstige Fußball-Bundestrainer Sepp Herberger (l.) wird nach der Rückkehr vom WM-Turnier 1954 in der Schweiz auf dem Münchner Hauptbahnhof stürmisch begrüßt. (picture-alliance / dpa - Gerhard Rauchwetter)
Durch dessen Vermittlung findet unter anderem auch Fritz Walter für einige Monate sicheren Unterschlupf: "Wir waren alles Soldaten. Aber nicht direkt an der Front. Und dann hat es der Chef geschafft, dass wir in die Mannschaft der Roten Jäger kamen"; so Walter.
Schulze-Marmerling: "Vor allem wenn sie in der Nationalmannschaft oder in Hermann Grafs Rote-Jägermannschaft waren, die immerhin 28 Spiele absolvierte, das erhöhte ihre Überlebenschancen immens."

Erstes Nachkriegs-Länderspiel gegen die Schweiz

Nach dem Krieg wird auch der deutsche Fußball zunächst international geächtet. Es dauert fünf Jahre bis zum ersten Länderspiel der Bundesrepublik. Wie schon nach dem Ersten Weltkrieg ist es wieder die Schweiz, die den internationalen Bann beendet.
Ein einziges Tor kann der Schweizer Radioreporter aus Stuttgart in die Heimat übertragen. Es fällt durch einen schnöden Elfmeter und wird von weit mehr als 100.000 Zuschauern in der ehemaligen Adolf-Hitler-Kampfbahn frenetisch gefeiert.
Die deutsche Nationalmannschaft 1951 bei einem Lehrgang in München in der Vorbereitung auf ein Länderspiel gegen die Schweiz.
Die deutsche Nationalmannschaft 1951 bei einem Lehrgang in München in der Vorbereitung auf ein Länderspiel gegen die Schweiz. (IMAGO / Otto Krschak)
Der Anfang ist gemacht, Herberger wieder in seinem Element. Er sitzt ständig im Zug oder im Stadion. Es gibt keine eingleisige Spitzenliga, sondern mehrere Regionalligen. Die Spielersichtung kostet unendlich viel Zeit. Wenn Herberger nicht in einem Stadion sitzt, dann findet man ihn an seinem Schreibtisch im Eigenheim an der Bergstraße. Hunderte Briefe an seine Nationalspieler sind bis heute erhalten.
Neukirchner: "Diese Briefe haben sich die Spieler aufgehoben, das waren Begleiter zwischen den Lehrgängen und zwischen den Spielen selber. Und da hat Sepp Herberger immer diese Mischung gefunden, zwischen sanfter, verständnisvoller Ansprache, aber immer auch mit dem Nachdruck: Du musst das und das tun, was ich dir sage."
"Zur sportlichen Höchstleistung gehört eben auch eine vernünftige Lebensweise. Und es gehört dazu, dass man ein gutes Familienleben hat. Wenn ein Spieler zu Hause ist, dass kann er sich viel leichter auf einen Länderkampf vorbereiten, als wenn er noch einen großen Freundeskreis hat, der ihn da und dort ablenkt." - Zitat aus Brief von Sepp Herberger
Von dieser konservativen Lebensweise zutiefst überzeugt, bindet Herberger auch die Spielerfrauen in seine pädagogische Arbeit ein. "Fritz Walter hatte in seiner Italia, der Hans Schäfer, der Jupp Posipal, der Max Morlock, die hatten Frauen, die Einsicht hatten, die Verständnis hatten, und die haben dann natürlich auf ihre Art und Weise mitgeholfen. Nicht alle…"
Denn ausgerechnet Trudi Rahn, die Frau vom WM-Siegtorschützen Helmut Rahn, hat ihren eigenen Kopf. Bundestrainer Herberger stößt bei ihr mit seinen Plänen auf wenig Gegenliebe: "Sehen Sie mal Frau Rahn, der Helmut hat doch das Zeug, der kann doch vier Weltmeisterschaften mitmachen. Und der hat doch jetzt sein Gewicht, helfen Sie doch mit. Und da hat sie gesagt: Ach, wissen Sie, Herr Herberger, ich habe ihn eigentlich gerne ein bisschen voller."

In Büchern auf der Suche nach der Erfolgsformel

Neukirchner: "Er hat eine große Bibliothek angelegt in seinem Haus in Hohensachsen. Das war auch ein Symbol, dass er seinen einfachen Verhältnissen entschwinden konnte. Dass er jetzt auch ein eigenes Haus hatte mit einer großen Bibliothek, und er gerne und oft Gäste und Journalisten empfangen und diese dann auch immer zu seinen Büchern geführt."
Denn in diesen weit mehr als 1000 Büchern, da ist sich Museumsdirektor Neukirchner sicher, hat Herberger vor allem nach der Formel für den Erfolg geforscht: "Er hat Mao, Clausewitz oder Macchialvelli regelrecht verschlungen. Und diese Militärstrategen waren seine Blaupause für seine Taktik, die er sich zusammengesetzt hat. Guerillataktik. Dieses: Alle Spieler in der Bewegung, elf Mann in der Verteidigung, elf Mann im Sturm – das hatte er von Clausewitz."
WM 1954: War Bern wirklich ein Wunder?
Vor 60 Jahren gewann die deutsche Nationalmannschaft in der Schweiz erstmals den WM-Titel. Im legendären Finale wurde Ungarn mit 3:2 geschlagen. Noch heute spricht man vom "Wunder von Bern". Doch kam der Erfolg tatsächlich überraschend?
Auch der amerikanische Psychologe Dale Carnegie hatte es Sepp Herberger angetan. Dessen Sinnsprüche über das Leben bilden die Grundlage für Herbergers Floskeln über den Fußball. Stets einen Schritt nach dem anderen zu gehen, sich nicht über vergossene Milch aufzuregen – diese Weisheiten haben es Herberger angetan.

Nachlass geht in Sepp-Herberger-Stiftung über

Sepp Herberger stirbt am 28. April 1977 im Alter von 80 Jahren. Schon zu Lebzeiten hatte er mit seiner Frau Ev beschlossen, dass sein Nachlass in eine Stiftung übergehen soll. Die Sepp-Herberger-Stiftung kümmert sich unter anderem um die Resozialisierung von Strafgefangenen oder um Fußballer, die unverschuldet in Not geraten sind.
"Sepp Herberger hat nicht in Saus und Braus gelebt. Auch wenn er das gekonnt hätte. Er hat im häuslichen Umfeld tatsächlich immer seinen Trainingsanzug mit dem DFB-Logo getragen. Und er hat da nicht so viel Aufhebens um sich und seine Lebensführung gemacht. Also er war zeitlebens ein bescheidener Mensch, der aus bescheidenen Verhältnissen kam, und diese Wurzeln hat er auch nie vergessen", sagt Tobias Wrzesinski, der heute die Geschäfte der Sepp-Herberger-Stiftung führt.
Sepp Herberger mit seiner Frau Eva im Jahr 1977.
Sepp Herberger mit seiner Frau Eva im Jahr 1977. (IMAGO / WEREK)
Die Stiftung war im Übrigen die erste ihrer Art in Deutschland. Sie hat mittlerweile fast fünf Jahrzehnte überdauert. In dieser Zeitspanne hat sich natürlich auch die Wirkmacht des Namens verändert. Nicht jeder Fußballspieler oder -fan kann Sepp Herberger heute noch zuverlässig verorten.
"Der Fußball wird natürlich auch immer schnelllebiger. Wenn Sie heute in Grundschulen die Kinder fragen nach ihren Heroen, dann sind das natürlich die aktuellen Nationalspieler Manuel Neuer, Joshua Kimmich, Leon Goretzka, Robin Gosens und all die anderen. Die können Ihnen auch nicht mehr so genau sagen, wer 2014 den Titel für Deutschland gewonnen hat, und wer ihn 1954 gewonnen hat erst recht nicht."
Deshalb muss Tobias Wrzesinski immer wieder das Hohelied auf den Alten von der Bergstraße anstimmen, was ihm aber natürlich nicht wirklich schwerfällt: "Dass Sepp Herberger eine ganz großartige Persönlichkeit ist, der sich nie verloren hat, der wusste, wo er herkommt. Und der mit größtem Fleiß und Akribie einen Lebensweg gegangen ist, der größten Respekt verdient und der ganz maßgeblich zur Entwicklung des deutschen Fußballs beigetragen hat."