Die Lage auf dem Balkan ist – vorsichtig gesagt – heikel: In Belgrad gibt es seit Tagen heftige, teils gewaltsame Proteste gegen Präsident Aleksandar Vuvic. Die richten sich einerseits gegen dessen Corona-Politik, aber auch nationalistische Stimmen spielen da eine Rolle. Serbische Nationalisten werfen Vucic Verrat vor. Denn er hat – nach Vermittlungen von Kanzlerin Merkel und Frankreichs Präsident Macron – Gesprächen mit dem kosovarischen Regierungschef Avdullah Hoti zugestimmt. Dabei erkennt Serbien den Kosovo nach wie vor nicht an.
"Es gibt in Serbien ein sehr großes Potenzial an Unzufriedenen", sagt die Historikerin und Balkanexpertin Marie-Janine Calic im Deutschlandfunk. Darunter seien zum einen Verlierer der Wirtschaftsreformen. Es gebe zudem aber auch das Gefühl, von der Staatengemeinschaft und insbesondere von Europa generell schlecht behandelt zu werden. Und die anstehenden Gespräche sehen manche vor diesem Hintergrund. Die Befürchtung: Präsident Vucic soll gezwungen werden, den Kosovo aufzugeben. Und der Kosovo sei für die Serben eben nicht irgendein Landesteil, sondern gelte als das "nationale Herzland", als die Wiege der serbischen Nation.
Die Zukunft liegt in Europa
Trotz der Proteste wertet Calic die Gespräche als Hoffnungsschimmer. "Es ist, glaube ich, ganz wichtig, dass diese Gespräche jetzt überhaupt mal wieder angefangen haben." Die Nichtbeziehung der beiden Regionen sei schließlich auch das größte Hindernis zu einem EU-Beitritt für beide Regionen. Bis vor Kurzem hatte die US-Administration versucht, die seit 2018 ausgesetzten Gespräche wieder in Gang zu bringen, ohne Erfolg. Weil Kosovo und Serbien in Europa liegen, sei es "richtig, dass die EU da jetzt wieder die Initiative ergriffen hat", sagte Calic. Die EU sei schließlich auch der wichtigstee Handelspartner und politische Partner beider Länder.
Die Hauptschwierigkeit im Konflikt sei nach wie vor, dass Serbien den Kosovo nicht anerkenne. Dass sich das ändern werde, sei allerdings undenkbar, der Widerstand dagegen gehe durch alle Wählerspektren. "Und trotzdem könnte es ja so sein, dass mit Kosovo ein Normalisierungsprozess in Gang kommt, der so weit reicht, dass Serbien Kosovo faktisch durch bestimmte Vereinbarungen anerkennt, ohne das offiziell zu sagen." Für einen solchen Prozess gebe es auch ein historisches Vorbild: den Grundlagenvertrag zwischen der DDR und der Bundesrepublik.
25. Jahrestag des Völkermords
Dass es in dem Konflikt gerade besonders emotional zugehe, habe dabei auch damit zu tun, dass der Völkermord von Srebenica sich zum 25. mal jährt. Serbische Einheiten töteten damals Tausende Bosniaken. Der Völkermord sei für die Bosniaken ein zentrales traumatisches Ereignis – auch weil das Massaker zum Sinnbild des Versagens der Staatengemeinschaft geworden sei, sagte Calic.
Es habe zwar juristische Prozesse der Aufarbeitung mit inzwischen 47 Verurteilungen gegeben, die Zahl der Mitwirkenden sei aber natürlich deutlich größer gewesen. Und diese Personen hätten teilweise öffentliche Ämter inne, nach einigen seien sogar Straßen und Schulen benannt. Und ein Dialog zwischen Serben und Kosovaren sei über dieses Thema nach wie vor nicht wirklich möglich.