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Seuchen in Europa
Reaktionen wie im Mittelalter

Wird sich Ebola weiter ausbreiten - in Europa, Asien oder den USA? Spätestens seitdem auch jenseits des afrikanischen Kontinents erste Patienten mit dem Ebola-Virus infiziert wurden, ist die Angst groß. Wie sehr Seuchen Ängste schüren und unsere Sicherheitsvorstellungen infrage stellen, zeigt ein Aufsatzband am Beispiel des 20. Jahrhunderts in Europa.

Von Ursula Storost |
    Rückblickend ist es befremdend, wie sich manche Politiker Mitte der 1980er-Jahre öffentlich über Homosexualität äußerten. In jenen Jahren, als AIDS zum Thema wurde. Zum Beispiel der CSU-Politiker Hans Zehetmair in einer Fernsehtalkshow:
    "Dass man für die homosexuelle Szene ein Verständnis hat, darum geht es doch nicht. Es geht darum, dass man klar machen muss, dass dies contra naturam ist, nicht nur contra deum, sondern auch contra naturam, also naturwidrig und im Grunde in krankhaftes Verhalten hineingeht."
    Bei TED-Abstimmungen wollten 77 Prozent der befragten Deutschen, dass es eine Meldepflicht für Aidskranke geben solle. Seuchen, so der Historiker Dr. Malte Thießen, Juniorprofessor an der Universität Oldenburg, Seuchen sind eben nicht nur ein medizinisches Problem.
    "Sondern Seuchen sind für Gesellschaften ein Impuls, sich mit sozialem Verhalten auseinanderzusetzen. Das fängt an beim Händewaschen oder Naseputzen und geht hin bis zum Sexualverhalten oder bis zum Erziehungsverhalten."
    Im Mittelalter wurden Seuchen als göttliche Strafe aufgefasst. Als unabwendbares Schicksal. Der heutige Mensch ist geprägt von der Aufklärung. Er denkt rational, resümiert Axel Schildt, Geschichtsprofessor an der Universität Hamburg.
    "In dem Maße wo die Menschen auch medizinisch sehr große Fortschritte gemacht haben, seit der Renaissance letztlich, ist eben die Vorstellung, dass die Menschen tatsächlich alles technisch in den Griff bekommen können, also auch Krankheiten. Dass wir die Krankheiten ausrotten und dann eben so etwas wie einen perfekten gesunden Körper formen könnten."
    Alles ist machbar dank naturwissenschaftlicher Expertise. So lautet das Credo der Moderne. Auch Gesundheit kann man steuern. Ende des 19. Jahrhunderts bildeten sich Sozialstaat und damit ein staatliches Gesundheitswesen. Von ihm fordern die Menschen jetzt Schutz vor Cholera, Diphtherie und Typhus. Aber Seuchen brechen trotzdem aus, konstatiert Malte Thießen.
    "Seuchen konterkarieren sozusagen moderne Planbarkeitsvorstellungen. Und das macht Seuchen zu einem großen Problem, weil sie die Fähigkeit staatlichen Handelns infrage stellen, weil sie Experten infrage stellen, die keine Maßnahmen und keine Antwort für diese Seuchen finden."
    Seuchen werden gedeutet
    Malte Thießen hat herausgefunden, dass die Reaktionen auf Epidemien sich im 19. und 20. Jahrhundert gar nicht so sehr vom Verhalten im Mittelalter unterscheiden.
    "Ein Beispiel, dass beim Ausbruch von Seuchen sehr schnell Sündenböcke gefunden werden müssen. Ist etwas, was man, überspitzt formuliert bis hin zum Umgang mit AIDS nachvollziehen kann."
    Im Mittelalter waren Hexen schuld an der Epidemie. In den 1980er-Jahren die Schwulen. Das hat auch mit gesellschaftlichen Entwicklungen zu tun, so Malte Thießen. Denn zu der Zeit formierte sich eine offene Schwulenbewegung."
    "Und genau das macht AIDS zu so einem gesellschaftlich relevanten Thema, weil sich daran eben sexuelle Normen, Homosexualität verhandeln, gegebenenfalls auch stigmatisieren lässt. Und weil verschiedene Akteure in der Deutung der Seuche versuchen, ihre jeweiligen Normen zu begründen und gesellschaftlich in den Diskurs einzuspeisen."
    Es sind immer aktuelle gesellschaftliche Probleme, die Eingang in die Seuchendiskussion finden. Malte Thießen nennt als Beispiel die Pockenerkrankungen im ausgehenden 19 Jahrhundert. Dank Impfstoff zu der Zeit als Epidemie überwunden, wird mit dem Auftreten einer Pockenerkrankung Politik diskutiert. Zitat aus der Staatsbürgerzeitung von 1895.
    "Einem polnischen Juden haben wir es wieder einmal zu verdanken, dass die echten Pocken eingeschleppt worden sind. Veranlassung zur allgemeinen Beunruhigung gibt das Vorkommnis nicht. Eins aber ergibt sich aus dem Geschehnis mit zwingender Notwendigkeit: strengste und rücksichtslose Maßnahmen gegen den Zuzug russisch-polnisch-galizisch-ungarischer Juden."
    Krebs als Teil gesellschaftlicher Ängste
    "Und plötzlich, obwohl die Seuche kein großes Problem ist, wird sie zu einem großen Skandalthema, weil man darüber eben ganz andere Themen verhandelt. Also Migration, Antisemitismus und Ähnlichem."
    Dass auch die Gefühle gegenüber schweren Erkrankungen vom Zeitgeist einer Gesellschaft abhängen hat die Historikerin Dr. Bettina Hitzer vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung herausgefunden. Sie beschäftigte sich mit Krebs. Einer Krankheit, die mit massiven Ängsten in der Bevölkerung verbunden ist. Anfang des 19. Jahrhunderts begann die naturwissenschaftliche Beschäftigung mit der "Seuche der Neuzeit". Von da an wurde diskutiert, ob man Krebsängste überhaupt benennen dürfe. Oder ob das womöglich zu Krebspsychosen führe. Das änderte sich in den 70er Jahren. Die Psychoanalytiker Margarete und Alexander Mitscherlich proklamierten, dass Krebs auch psychische Ursachen haben kann. Nun sprach man über Krebsängste. Die psychosomatische Medizin wurde Bestandteil der Krebstherapie.
    "Und das ist natürlich die Stelle, an der die Krankheit und das Schauen auf die Krankheit mit der Gesellschaft verzahnt wird. Weil in dieser Form Krankheit zu definieren - und daraus folgen ja auch die Behandlungen dieser Krankheiten - immer auch gesellschaftliche Deutungsmuster einfließen. Also eine Verständigung von Gesellschaft über sich selbst."
    Die Krebskrankheit wurde in Folge ein Teil einer ganzen Reihe gesellschaftlicher Ängste. Das sei, so Bettina Hitzer, auch noch in den 1980er-.Jahren zu beobachten gewesen.
    "Da gibt's auch so eine Art Parallelisierung von der Angst vor Krebs einerseits und gesellschaftlichen Ängsten vor Umweltzerstörung und Krieg andrerseits. Dass man sagt, Krieg ist ein Symptom einer kranken Gesellschaft und die Angst vor Krebs ist eigentlich etwas Positives. Die Angst lehrt uns zu sehen, was gefährlich ist. Und das dann auch zu vermeiden."
    Was für eine Gesellschaft wichtig ist
    Auch sich wandelnde Gesellschaftsstrukturen haben Einfluss auf das Gefühlsleben der Menschen und den Umgang mit Seuchen. Der Historiker Malte Thießen nennt als Beispiel die hohe Kindersterblichkeit durch Diphtherie, Polio oder anderen Seuchen.
    "Wird erst im 19. und 20. Jahrhundert ein Problem, weil Familie, weil Kindheit einen anderen Stellenwert hat. Das heißt, wenn wir den Umgang mit Seuchen erforschen, dann sehen wir, was für eine Gesellschaft besonders schützenswert ist. Was eine Gesellschaft besonders bedrohlich empfindet."
    Auch in der aktuellen Debatte um die Ebola Epidemie in Westafrika geht es nicht um medizinische Grenzen und Möglichkeiten. Es geht um Weltprobleme, wenn sich die UNO intensiv mit diesen Ländern beschäftigt.
    "Weil man an diesen Seuchenausbrüchen plötzlich einen Indikator dafür hat, dass diese Staaten gescheitert sind. Dass die Sozialsysteme nicht funktionieren, dass grundsätzliche Infrastrukturen nicht funktionieren. Und damit wird plötzlich Ebola auch hier im Westen zu einem großen Thema, weil sich das mit unseren Sorgen oder Vorstellungen von afrikanischen Ländern verbindet. Wo man plötzlich das mit alltäglichen Ängsten verbindet. Mit Ängsten vor der Globalisierung, weil man sich selbst betroffen fühlt."
    Die Seuchengeschichte der Moderne und Postmoderne zeigt darüber hinaus, wie es mit der Gerechtigkeit auf unserer Erde bestellt ist. Sie zeigt, so Malte Thießen, wie eng Geld, Macht und Gesundheit zusammenhängen.
    "Bekämpfungsmaßnahmen zeigen ökonomische Prioritäten von Gesellschaften. Aktuelles Beispiel könnte man wieder an der Ebola Epidemie anknüpfen, dass die Entwicklung eines Impfstoffes sich, so zynisch es klingt, einfach nicht lohnt. Weil da eben keine finanzkräftige Klientel ist."
    Das Buch "Infiziertes Europa" ist herausgegeben von Malte Thießen und im De Gruyter Verlag, Oldenburg, erschienen.