Das abendliche Ritual in einem Hindutempel Mumbais. Ein Priester stimmt den Lobgesang der Götter an. Die Gläubigen haben sich dicht an dicht vorm Hauptaltar aufgereiht. Sie wollen ihre Opfergaben segnen lassen und umschreiten schließlich ehrfurchtsvoll die Götterstatuen in der großen Halle. In einigen Tempeln des Landes kommt ein ausgesprochen umstrittenes Ritual dazu: der Tanz der Devadasis. Diese so genannten Dienerinnen Gottes tanzen zu Ehren der Gottheit ihres Tempels. Die Dienerinnen Gottes wiegen sich in den Hüften und berühren immer wieder kurz ihren Busen. Vor allem in einigen südindischen Bundesstaaten ist der rituelle Tempeltanz der Devadasis mit seinen erotisch aufgeladenen Bewegungen bis heute verbreitet- obwohl das Devadasi-System seit 1988 offiziell verboten ist. Lalitha Kumaramangalam ist Vorsitzende der "National Commission for Women" in Neu-Delhi. Sie beschreibt die Situation der Devadasi so:
"Eine Devadasi ist eine Frau, die mit einem Gott oder einer Göttin verheiratet worden ist. Die sogenannten Dienerinnen Gottes werden von ihren Eltern einem Tempel übergeben. Dort werden sie dann dazu gezwungen, die traditionellen Rituale in sehr irdische Dienstleistungen umzuwandeln. Sie werden benutzt - von Priestern und Tempelbesuchern. Als Prostituierte. Die Dienerinnen Gottes werden zu Sexarbeiterinnen degradiert."
Prostitution im Tempel
Lalitha Kumaramangalam, die Leiterin der staatlichen Frauenorganisation hat kürzlich eine Studie an der Universität von Madras in Auftrag gegeben. Die Untersuchung beschäftigt sich mit der Situation der Devadasis und soll ihre prekären Lebensumstände beleuchten:
"Ein Blick auf die Geschichte zeigt, dass Devadasis über viele Jahrhunderte hinweg nicht wie Prostituierte behandelt wurden. Es mochte hier und da vorkommen, dass sie zusätzlich zu ihren Aufgaben im Tempel eine intime Beziehung zu einem besonders angesehenen Priester oder zu einem Mitglied der Königsfamilie unterhielten, aber das schmälerte ihr Ansehen nicht. Anders als heute handelte es sich bei den Devadasis damals stets um gebildete junge Frauen, die eine musikalische und eine tänzerische Ausbildung vorweisen konnten und die auch mit den alten Schriften vertraut waren."
Wie dieser Dienst an den Göttern ursprünglich motiviert war, dazu forscht Professor Vinesh Shrivasta. Er ist Anthropologe in Neu-Delhi:
"Das Ganze basierte auf dem Modell, dass eine Gottheit einem König gleichkommt. Die Gottheit benötigt - wie ein König - Devadasis: sachkundige, gut ausgebildete Dienerinnen. Frauen also, die für sie tanzen und die sich um ihr Wohlergehen kümmern. Frauen, die dem Gott oder der Göttin die Füße massieren und die der Gottheit ergeben sind. So hat sich das Devadasitum entwickelt."
Eine entweihte und vermenschlichte Idee
Traditionell gehört es zu den Aufgaben der Devadasis, die Tempelaltäre zu reinigen und zu dekorieren, religiöse Lieder zu singen, rituell zu tanzen und Brahmanen, die Mitglieder der höchsten Kaste, zu bewirten. Professor Vinesh Shrivasta:
"Devadasis sind ursprünglich wirklich Dienerinnen Gottes - und keine Prostituierten. Doch wenn man, wie es nun einmal geschehen ist, dieses Konzept entweiht, es sozusagen vermenschlicht, dann werden diese Frauen zu Prostituierten."
In alten hinduistischen Schriften werden Devadasis erstmals im 6. Jahrhundert vor Christus erwähnt. Dass aus der Achtung, die sie über viele Jahrhunderte hinweg erfuhren, schließlich Ächtung wurde, kristallisierte sich erst in den vergangenen zwei- bis dreihundert Jahren heraus. Verschiedene Gründe trugen und tragen dazu bei: Arme, ungebildete Eltern etwa, die ihre Tochter lieber im Dienst einer allseits verehrten Gottheit wissen, als sie nicht verheiraten zu können, weil sie das Geld für ihre Mitgift nicht zusammenbekommen. Oder auch der Aberglaube, wonach Schicksalsschläge durch die "Opferung" einer Tochter an einen Tempel wieder zurechtgerückt werden können. Dann ein rigides Kastensystem, das jedem seinen Platz zuweist und "arm-ungebildet-und-weiblich" in einem der untersten Ränge ansiedelt. Und nicht zuletzt die patriarchalischen Strukturen, die Kritik am Umgang mit den Devadasis bereits im Keim ersticken, sagt Lalitha Kumaramangalam:
"Die Regierung kann eigentlich gar nicht viel tun. Denn es werden nur wenige Fälle zur Anzeige gebracht. Falls eine Frau sich doch einmal dazu durchringen sollte, wird sie schikaniert – oder Schlimmeres. Unsere Gesellschaft ist nach wie vor sehr patriarchalisch und das ganz besonders in den Dörfern. Und auf die Polizei können die betroffenen Frauen nicht zählen, weil viele Polizisten von der Prostitution profitieren. Warum sollten sie dann einschreiten?"
Indische Regierung ist hilflos
Immer wieder hat die indische Regierung halbherzige Vorstöße gemacht, das Devadasi-System aus der Welt zu schaffen. Initiativen, die Devadasis zu verheiraten, scheiterten. Der sexuelle Kontakt mit den sogenannten Dienerinnen Gottes ist zwar akzeptiert, aber eine Ehe mit einer solchen Frau wird strikt abgelehnt. Kaum anders ergeht es den Töchtern von Devadasis, die fast immer im selben Milieu wie ihre Mütter enden, so die Frauenrechtlerin:
"Hierzulande gibt es keine rechtlichen Möglichkeiten, einer Mutter ihr Kind wegzunehmen. Wir können es also nicht verhindern, dass die Kinder einer Devadasi dasselbe Schicksal erleiden wie die Mutter. Ich habe allerdings auch schon mit Devadasis gesprochen, die ihre weiblichen Nachkommen an einen sicheren Ort gebracht haben, weit weg von ihrem Heimatdorf. Das hat dann allerdings nur mit Hilfe von Nichtregierungsorganisationen funktioniert. Und die NGOs haben am Ende gemeinsam mit Vertretern der Regierung für die Rehabilitation der Kinder gesorgt."
"Das Leben der Dienerinnen Gottes - ein Martyium"
NGOs sind es auch, die sich seit einiger Zeit wieder vermehrt mit der Devadasi-Tradition beschäftigen. Doch in einem Land, in dem mehrere hundert Millionen Menschen nicht genug zu essen und kein Dach über dem Kopf haben, fallen ein paar tausend Devadasis nicht ins Gewicht. Und daran, sagt die Vorsitzende der nationalen Frauenkommission, Lalitha Kumaramangalam, wird auch das Ergebnis der neuen Devadasi-Untersuchung wohl kaum etwas ändern.
"Das Leben der Dienerinnen Gottes ist wirklich ein Martyrium. Es gibt so viel Leid bei uns, aber das Schicksal dieser Frauen bewegt mich besonders. Nur – was werden meine Gefühle daran ändern, dass unser System mit diesem Problem einfach nicht fertig wird?"