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Kampf gegen Kindesmissbrauch
"Sexuelle Gewalt ist das Grundrisiko für jede Kindheit in Deutschland"

Sexuelle Gewalt sei für tausende Mädchen und Jungen in Deutschland trauriger Alltag, sagte der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, im Dlf. Die aufgedeckten Fälle stellten nur die Spitze des Eisbergs dar. Staat und Internet-Konzerne müssten mehr für den Kinderschutz tun.

Johannes-Wilhelm Rörig im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker |
Johannes-Wilhelm Rörig, Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung
Johannes-Wilhelm Rörig, Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, fordert mehr Geld für den Kinderschutz (dpa/Bernd von Jutrczenka)
Ann-Kathrin Büüsker: Zehn Festnahmen, Opfer im Alter zwischen einem und 14 Jahren, weitere Tatverdächtige, die im Verdacht stehen, ihre Kinder oder Stiefkinder sexuell missbraucht zu haben. Das ist bisher das, was die Ermittelnden in dem Fall finden konnten, der im nordrhein-westfälischen Bergisch Gladbach seinen Anfang nahm. Durch die Beschlagnahmung eines Telefons bekamen die Ermittelnden Zugriff auf Chatgruppen mit über 1.000 Teilnehmenden, in denen Material gezeigt wurde, das den sexuellen Missbrauch von Kindern zeigt. Kinder zu schützen, das hat sich der neue Nationale Rat gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen zur Aufgabe gemacht. Heute konstituiert er sich in Berlin. Mit dabei dann der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig. Jetzt ist er bei uns am Telefon. Einen schönen guten Morgen.
Johannes-Wilhelm Rörig: Schönen guten Morgen, Frau Büüsker.
"Ein gesamtgesellschaftliches Problem"
Büüsker: Herr Rörig, müssen wir angesichts von Fällen wie Lügde oder Bergisch Gladbach, angesichts von riesigen Chatgruppen, in denen Material getauscht wird, feststellen: Wir haben hier ein gesamtgesellschaftliches Problem?
Rörig: Wir haben ein riesen gesamtgesellschaftliches Problem. Diese spektakulären Fälle, von denen Sie eben berichtet haben, das sind ja nur die Spitze des Eisbergs. Es ist so, dass sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche, die Herstellung sogenannter Kinderpornographie, leider trauriger Alltag für viele tausend Mädchen und Jungen in Deutschland ist. Im Moment ist sexuelle Gewalt das Grundrisiko für eine jede Kindheit in Deutschland.
Büüsker: Müssen wir als Gesellschaft mehr darüber sprechen?
Rörig: Ja, natürlich. Die Sensibilität muss steigen. Wir müssen ein Verständnis für Prävention haben. Prävention, Schutz vor sexueller Gewalt ist keine Kür, sondern Pflicht, und es muss in Kitas, Schulen, Sportvereinen darauf geachtet werden, dass es dort nicht zu Übergriffen kommt. Aber es ist vor allen Dingen wichtig, dass Kinder und Jugendliche dort Hilfe bekommen, wenn sie zum Beispiel sexuelle Gewalt in der eigenen Familie oder durch Gleichaltrige oder durch Nutzung der digitalen Medien selbst erleiden.
Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagne notwendig
Büüsker: Das ist ja nun alles nichts Neues. Kindesmissbrauch gibt es seit Jahrzehnten in Deutschland. Warum werden wir nicht besser? Warum gelingt es uns nicht, genauer hinzugucken und die Zeichen zu sehen?
Rörig: Weil vielen Menschen die Einsicht und auch das Wissen zu sexueller Gewalt fehlt. Deswegen bin ich dafür, dass wir schnell eine umfassend große Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagne starten in der Dimension der Anti-Aids-Kampagne, die ja seit Jahrzehnten erfolgreich läuft. Man muss sich vorstellen wollen, dass um uns herum sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche stattfindet. Man muss wissen, dass Täter und Täterinnen schwer zu erkennen sind. Das sind Meister der Täuschung und der Manipulation. Und es ist auch so problematisch, dass missbrauchte Kinder oft auch schwer zu erkennen sind. Sie senden zwar Signale, aber die sind nicht eindeutig.
Büüsker: Das heißt, wir hören den Kindern unter Umständen auch nicht genug zu?
Rörig: Und verstehen nicht, welche Signale sie zeigen, und deswegen ist es so wichtig, dass zum Beispiel alle Lehrerinnen und Lehrer und Erzieherinnen in den Kitas, dass die ein Basiswissen zu sexueller Gewalt haben. Und wir müssen die spezialisierten Fachberatungsstellen unbedingt stärken, zum Beispiel wie Zartbitter in Köln oder Dunkelziffer, oder wie all die wichtigen spezialisierten Fachberatungsstellen heißen. Politik, auch die kinderschutzferne Politik – ich gucke da genau auf die Finanzminister -, die müssen auch endlich einsehen, dass wir unsere Kinder nicht zum Nulltarif vor sexueller Gewalt schützen können.
Büüsker: Wenn Sie jetzt eine große Kampagne fordern, wie genau stellen Sie sich die vor?
Rörig: Jeder muss in Deutschland wissen, was sexuelle Gewalt ist, wo sie anfängt, was die Indizien dafür sind und wo man vor allen Dingen Hilfe finden kann. Wo man sich auch Rat holen kann, zum Beispiel über unser Hilfetelefon, was wir seit Jahren geschaltet haben, um einen Fall abzuklären, um ein schlechtes Bauchgefühl abzuklären, um dann auch vor allen Dingen dort professionelle Hilfe zu bekommen.
Eine schwingende Kinderschaukel auf einem öffentlichen Spielplatz in Bewegungsunschärfe
" Sexueller Missbrauch ist epidemisch" Im Kampf gegen Kindesmissbrauch reichten Sensibilisierung und Kampagnen nicht, sagte Ursula Scheele vom Petze-Institut im Dlf. Es brauche ein System von qualifizierten Fachberatungsstellen, die die konkrete Arbeit auch leisteten.
Büüsker: Und was kostet das alles?
Rörig: Das kostet alles viel Geld! Und wie eben gesagt: Es ist nicht zum Nulltarif zu haben. Deswegen bin ich so froh, dass wir jetzt den Nationalen Rat konstituieren können. Wir müssen über alle Ressorts hinweg ein Verständnis dafür haben, dass wir dem Kampf gegen sexuelle Gewalt erste Priorität beimessen müssen.
"Soziale Netzwerke spielen Pädokriminellen in die Hände"
Büüsker: Was kann denn aber dieser Nationale Rat Ihrer Hoffnung nach mehr leisten, als bisherige Runde Tische nicht leisten konnten?
Rörig: Bisher waren die Ergebnisse, die Empfehlungen der Runden Tische nicht verbindlich, und ich möchte unbedingt, dass wir Verbindlichkeit herstellen, dass die verschiedenen Akteure – und wir arbeiten ja hier ressortübergreifend und vernetzt – feste Zusagen aussprechen, was sie tun wollen. Wir müssen runter von den hohen Fallzahlen. Wir müssen verhindern, dass Kitas und Schulen Tatort werden, dass keine Kinder übersehen werden, und vor allen Dingen, dass ja auch die Ermittlungsinstrumente im Kampf gegen sexuelle Gewalt geschärft werden. Wir haben bis heute – das muss man ganz klar sagen – im Internet keinen Kinderschutz, und das ist eine große Katastrophe.
Büüsker: Inwieweit dienen denn da die digitalen Möglichkeiten, die Möglichkeit, leicht ein Video aufzuzeichnen und das über Chatgruppen teilen zu können, inwieweit dient das als Verstärker für sexuellen Missbrauch von Kindern?
Rörig: Na ja. Die sozialen Netzwerke - ich sage ja schon inzwischen unsoziale Netzwerke -, die spielen den Pädokriminellen natürlich voll in die Hände, all den Cyber-Kriminellen, die auf der Jagd nach Kindern sind. Internet und Darknet sind ein Glücksfall für die Hersteller und Konsumenten von Kinderpornographie, und es ist unwahrscheinlich wichtig, dass sowohl Staat als aber auch die Internet-Giganten selbst mehr in den Kinderschutz im Netz tun, den vorantreiben. Die haben das Knowhow und die haben vor allen Dingen auch die gigantischen Geldmittel, die dafür erforderlich sind.
"Datenschutz darf nicht über Kinderschutz stehen"
Büüsker: Im Fall Bergisch Gladbach wird jetzt ja zentral in Köln ermittelt und der Kölner Oberstaatsanwalt hat angesichts dieser Vielzahl der Täter, aber auch der Verbreitung durch das Internet eine zentrale Stelle ins Gespräch gebracht, die diese Art von Verbrechen aufklärt. Was halten Sie von dieser Idee?
Rörig: Ich finde, das ist ein sehr, sehr guter Vorschlag. Wir müssen hier zentralisieren. Es müssen Schwerpunktstaatsanwaltschaften bundesweit in allen Bundesländern gebildet werden. Ich bin sehr zufrieden damit, dass der Landesinnenminister Reul jetzt wirklich Dampf macht über die Innenministerkonferenz, und wir müssen über Dinge sprechen wie zum Beispiel die EU-rechtskonforme Vorratsdatenspeicherung. Ich bin ja ein Verfechter des Grundsatzes, Datenschutz darf nicht über Kinderschutz stehen. Dazu brauchen wir dringend eine gesamtgesellschaftliche Debatte. Und wenn jetzt das Netz-Durchsetzungsgesetz reformiert wird, dann gehören da natürlich auch rein Meldepflichten auch für Cyber-Kriminalität gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Da gibt es im Moment einen weißen Fleck, aber ich weiß, dass die Justizministerin Lambrecht das jetzt auch auf dem Zettel hat.
Büüsker: Diese Chatgruppen, die wir schon mehrfach angesprochen haben, die funktionieren ja oft so, dass man als Zugangsvoraussetzung Material hochlädt und erst dann teilnehmen darf. Deshalb gibt es Ermittelnde, die fordern, sich mit computergeneriertem Material Zutritt verschaffen zu dürfen. Wie beurteilen Sie diese Idee?
Rörig: Wenn die Materialien computergeneriert sind und es dabei nicht um die Abbildung von realen Mädchen und Jungen geht, um realen Missbrauch geht, dann unterstütze ich das sehr. Und ich habe mich letzte Woche sehr gefreut, dass die Justizministerin hier auch einen Vorschlag unterbreitet hat, und ich hoffe, dass jetzt, einhergehend mit der Versuchsstrafbarkeit für Cyber-Grooming, wir hier die Ermittlungsmöglichkeiten für die LKA und das Bundeskriminalamt stärken können.
"Arbeit der Ermittelnden ist wahnsinnig belastend"
Büüsker: Selbst wenn es eine zentrale Stelle gibt, die sich mit diesen Verbrechen beschäftigt, es müssen ja immer enorme Datenmengen gesichtet werden. Das sieht man jetzt auch im Fall Bergisch Gladbach sehr, sehr gut. Wie kann man die Ermittelnden, die sich all das anschauen müssen, begleiten, betreuen und schützen vor dem, was sie sehen?
Rörig: Die Arbeit ist wirklich wahnsinnig belastend und es müsste eigentlich zum selbstverständlichen Qualitätsstandard gehören, dass jede Kriminalistin, jeder Kriminalist Supervision bekommen, dass die psychotherapeutisch auch begleitet werden. Das gehört zur Fürsorgepflicht eines jeden Arbeitgebers. Wer sich tagtäglich mit dem Thema beschäftigt, ich sage mal, das ist wirklich toxisch für die eigene Psyche und Sie können die Bilder auch abends nicht im Büro lassen. Die nehmen Sie mit nach Hause und es ist wirklich wichtig, dass da eine gute therapeutische Unterstützung stattfindet.
Büüsker: Fällt Ihnen denn Ihre Rolle als Missbrauchsbeauftragter der Bundesregierung diese Arbeit auch manchmal schwer?
Rörig: Ja, natürlich! Meinem ganzen Team. Wir leiden natürlich auch unter dem, mit dem wir uns befassen. Aber ich denke dann immer an die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, an die Mediziner und an die Polizeimitarbeiter, die sich tagtäglich da auch direkt bei der Ermittlung mit beschäftigen. Wir haben aber alle das Recht und die Möglichkeiten – das nutzen wir auch -, Supervision zu nehmen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.