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Sexueller Missbrauch im Erzbistum Köln
Der Priester, der Kardinal und die Kinder

Ein Pfarrer, so der Verdacht, soll sich mehrfach schwer an Kindern vergangen haben – zum ersten Mal 1986. Sollte der Vorwurf zutreffen, war die Bestrafung milde: Er war weiter als Seelsorger tätig, hielt Vorträge, schrieb Bücher. Eine Recherche im Hoheitsgebiet der Kardinäle Meisner und Woelki.

Von Christiane Florin | 15.12.2020
Die beiden Kölner Kardinäle Woelki (l.) und Meisner (r., 2017 verstorben) auf der Deutschen Bischofskonferenz 2013
Die beiden Kölner Kardinäle Woelki (l.) und Meisner (r., 2017 verstorben) auf der Deutschen Bischofskonferenz 2013 (imago stock&people / Michael Gottschalk)
"Nichts geahnt. Nichts geahnt."
Joachim Meisner in einem Deutschlandfunk-Interview vom März 2015. Der frühere Erzbischof von Köln wird gefragt, was in ihm vorging, als die Medien im Januar 2010 vom flächendeckenden sexuellen Missbrauch durch katholische Geistliche berichteten. 2010 ist als Missbrauchsskandaljahr in die jüngere deutsche Kirchengeschichte eingegangen.
Rainer Maria Woelki bei einem Gottesdienst
Kirchenrechtler: "Es ist ein moralischer Tiefpunkt erreicht"
Der Kölner Kardinal Woelki habe entgegen seiner Aussagen keinerlei Anstrengungen für die Aufklärung unternommen, sagte der Theologe Thomas Schüller im Dlf. Der Kardinal versuche, seine Karriere zu retten.
"Nichts geahnt", süffisant-rheinisch ausgesprochen – ist mittlerweile eine Art trauriger Karnevalsschlager, angestimmt von Meisner-Kritikern und Woelki-Skeptikern. Meisner steht für brutale Vertuschung, sein Nachfolger Woelki für Aufarbeitungssimulation.
Rainer Maria Woelki übernimmt 2014 das Amt des Erzbischofs von Köln. Im September 2018 erklärt er in seinem wöchentlichen Video:
"Ich dulde in unserem Erzbistum keinerlei Vertuschung."

Das unveröffentlichte Gutachten

Im Dezember 2018 beauftragt das Erzbistum die Münchner Kanzlei Westpfahl, Spilker, Wastl mit einem Gutachten. Es soll unter anderem aufzeigen, wie Verantwortliche im Erzbistum mit Missbrauchsbeschuldigungen umgingen. Doch zur vereinbarten Veröffentlichung des Gutachtens kommt es nicht. Das Ergebnis bleibt vorerst unter Verschluss – wegen gravierender "methodischer Mängel", behauptet das Erzbistum und kündigt ein neues Gutachten einer anderen Kanzlei an.
Um den Verriss besonders glaubhaft zu machen, wird der Betroffenenbeirat eingespannt. In der Pressemitteilung des Bistums erklärt der Sprecher des Betroffenenbeirats Patrick Bauer:
"Wir sind enttäuscht und wütend, dass die Münchener Kanzlei derart schlecht gearbeitet und damit Versprechen einer gründlichen, juristisch sauberen Aufarbeitung gebrochen hat."
Bauer distanziert sich später von seiner eigenen Aussage und legt den Sprecherposten nieder. Einige Mitglieder verlassen den Beirat. Sie – Opfer von sexueller Gewalt – fühlten sich ein weiteres Mal missbraucht, sagen sie in Interviews. Dass sie eine so folgenreiche Entscheidung mittragen sollten, habe sie unvorbereitet getroffen. Das Gutachten, das sie zu bewerten hatten, lag ihnen bei der entscheidenden Sitzung nicht vor. Die Pressemitteilung mit dem Sprecher-Statement steht trotz der Distanzierung weiterhin auf der Homepage des Erzbistums.
Missbrauch-Studie der katholischen Kirche
Das Erzbistum Köln hatte angekündigt, in einer Untersuchung zum Umgang mit sexualisierter Gewalt "Ross und Reiter" zu nennen. Die Untersuchung bleibt aber unveröffentlicht. Psychiater Harald Dreßing: "Ich erwarte Rücktritte."
Die Methode der Münchner Kanzlei kann mangels Veröffentlichung nicht überprüft werden. Die Methode Meisner wirkt erkennbar weiter und wird zur Methode Woelki.
Der seit Jahrzehnten eingeübte persönliche und systemische Zynismus ist langlebig. Er zeigt sich besonders in einem Verdachtsfall, der hier ausführlicher erzählt wird und zu dem uns Unterlagen vorliegen. Dieser Verdachtsfall soll im unveröffentlichten Münchener Gutachten aufgearbeitet worden sein. Weitere Einzelheiten wurden seitens des Erzbistums gegenüber dem Deutschlandfunk zunächst nicht bestätigt. Der Fall wirft die Frage auf: Welche Kirche wurde und wird da in Köln geschützt?
Rainer Maria Woelki sagt in seinem Video vom 16. September 2018 zum Thema Missbrauch:
"Ich bin persönlich zutiefst getroffen und ich schäme mich an dieser Stelle für meine Kirche, dafür, dass sie so es zugelassen hat, dass so etwas passieren konnte und dafür, dass nachweislich vertuscht wurde, weil man den Ruf der Institution über das Wohl des Einzelnen gestellt hat. Man könnte ja sagen: Das wissen wir jetzt leider schon seit einigen Jahren. Auch ich weiß das, aber ich kann mich an diese Meldungen einfach nicht gewöhnen. Es ist zu viel Leid hinter jeder nüchternen Zahl, die man da hört. Hinter jedem Fall steckt das Leben eines Betroffenen, dem Schaden durch einen Mitarbeiter der Kirche zugefügt wurde".

Das Weihnachtskind in der Sinnspruchsammlung

Hinter dem hier geschilderten Verdachtsfall steckt, sollte er sich so zugetragen haben, das Leid vieler Betroffener. Der Priester, um den es geht, liebt Kinder. Angeblich. Zur Weihnachtszeit stimmt er gern das Hohelied des unschuldigen Kleinen in der Krippe an. Die Verse des dichtenden Geistlichen übers Weihnachtskind werden in Sinnspruchsammlungen zitiert. Was nicht in öffentlich zugänglichen Quellen auftaucht: Er hat sich offenbar mehrfach des Missbrauchs an Kindern schuldig gemacht. Seit 1986 soll das dem Erzbistum Köln bekannt sein. Der Mann wird versetzt, milde bestraft – und mutmaßlich wieder schuldig. So besagen es Informationen, die dem Deutschlandfunk vorliegen. Der Pfarrer hat sich auf unsere Anfrage hin nicht geäußert.
Ansonsten äußert er sich ausgiebig: Der Priester hat zahlreiche Bücher in renommierten Verlagen publiziert, er gibt sich als linkskatholischer Rebell - beliebt bei reformorientierten Gläubigen, unbeliebt bei jenen, die er Fundamentalisten nennt. Er inszeniert sich als mutigen Streiter, den ein Kardinal Meisner nicht das Fürchten lehren kann. Der Geistliche agiert so selbstbewusst, als sei er fest davon überzeugt, dass kein Verantwortlicher das Wissen über ihn gegen ihn verwenden wird.
Sexueller Missbrauch in der Katholischen Kirche
Im Bistum Limburg wurde ein Aufklärungsprojekt zum Thema Missbrauch angegangen, in dem sogar die Namen der Vertuscher genannt werden. Doch Opfer sexueller Gewalt kritisieren, dass sie bei Aufklärungsprozessen der Kirche oft nur pro Forma eingebunden sind.
Zu wissen gibt es offenbar viel und viele sind über die Jahrzehnte mit dem Gottesmann befasst: Prälaten und Psychiater, Generalvikare und Erzbischöfe. Meisner 2015:
"Nichts geahnt, nichts geahnt."
Aus den uns vorliegenden Unterlagen ergibt sich der Verdacht, dass 1986 dem Priester grenzverletzendes Verhalten gegenüber Messdienern vorgeworfen wird. Die Bistumsleitung, damals noch mit Kardinal Joseph Höffner an der Spitze, soll ihn zur Rede gestellt habt. Hauptthema: Ob er homosexuell sei.
Anfang der 1990er-Jahre kommt es zu einer Anklage. Diesmal wegen gemeinschaftlichen Onanierens und Befriedigung gegen Geld. Das weltliche Verfahren wird eingestellt, der Geistliche ist geständig und zahlt 30 000 D-Mark. Er verzichtet auf seine Pfarrstelle und bittet offenbar den damals noch neuen Erzbischof Joachim Meisner um Vergebung. Die wird ihm gewährt, der Priester wird in eine andere Gemeinde versetzt.

Der Mann, der "unter die Leute" sollte

Auf Geheiß Meisners soll er fachärztlichen Rat einholen, so die uns vorliegenden Informationen. Allerdings bekommt der Psychiater vom Erzbischof die Maßgabe, den Mann wieder, so wörtlich, "unter die Leute zu schicken".
Was Meisner Anfang der 1990er-Jahre noch nicht wissen kann: Kaum ist der Mann an seinem neuen Einsatzort "unter den Leuten" vergeht er sich mutmaßlich wieder an Kindern. Es sieht so aus, als helfe der Priester einer Familie in Not. Den Unterlagen zufolge besteht aber der Verdacht, dass er die minderjährigen Söhne über Jahre hinweg schwer missbraucht hat. Missbrauch sei ein tägliches Ritual gewesen, heißt es in den Schriftstücken.
Im Oktober 1997 wendet sich die Mutter offenbar an den Pfarrer der Gemeinde. Das Erzbistum – unter anderem der Generalvikar – soll den Pfarrer noch im selben Monat mit den Vorwürfen konfrontiert haben.
Generalvikar ist seit 1975 Norbert Feldhoff. Ein hochgeehrter Kleriker, weit über Köln hinaus bekannt. Zu seinem 80. Geburtstag im vergangenen Jahr erschien eine voluminöse Festschrift, mitherausgegeben von der früheren Bundesbildungsministerin Annette Schavan. Ein paar Jahre alte Fotos zeigen ihn mit Angela Merkel und Armin Laschet. Sein Antlitz ist am Südportal des Doms in Stein gemeißelt, ein verschmitztes Lächeln für die Ewigkeit. Fast 30 Jahre lang war er Generalvikar von Köln, später Dompropst. Die Kirchenkarriere ist lang, die Festschrift hat fast 700 Seiten. Auf eine Anfrage des Deutschlandfunks zu seinem Verhalten in diesem Fall gehen nur wenigen Zeilen seines Anwalts ein.

"Keine Stellungnahme"

"Bitte haben Sie Verständnis, wenn Herr Feldhoff Ihre Fragen nicht beantworten kann. Herr Feldhoff wird gegenüber dem von Erzbischof Kardinal Woelki bestellten Gutachter Stellung nehmen und dessen Fragen beantworten. Es verbietet sich, zuvor gegenüber der Presse zu einzelnen Fällen Erklärungen abzugeben."
Das heißt:
"Keine Stellungnahme".
Das Erzbistum suspendiert den Priester im Dezember 1997, gibt ihm aber offenbar zu verstehen, dass bei psychotherapeutischer Begleitung ein Einsatz nach Ablauf einer Frist von drei bis fünf Jahren möglich sei.
Anzeige wird von keiner Seite erstattet. Dass die Opfer psychologische Hilfe bekommen, geht aus den uns vorliegenden Unterlagen nicht hervor. Aufgeschlossen zeigt sich das Erzbistum aber wohl in materiellen Belangen: Die Mutter soll ein Haus aus dem kirchlichen Immobilienbestand zur Miete bekommen haben, so der Verdacht.
Befasst mit dem Fall sind damals auch die Prälaten Johannes Bastgen und Karl Jüsten. Bastgen ist mittlerweile verstorben, Karl Jüsten leitet seit 20 Jahren das katholische Büro in Berlin, eine Verbindungsstelle zur Politik. Von 1996 bis 1999 ist er stellvertretender Leiter der Hauptabteilung Seelsorge-Personal. Wie bewertet er sein Verhalten heute? Hätte er mehr tun können?
"Keine Stellungnahme".
Der Geistliche wird 1999 in den einstweiligen Ruhestand versetzt, mit 52 Jahren – ungewöhnlich jung. Da er kirchenpolitisch von der Meisner-Linie abweicht, erscheint die Maßnahme für Außenstehende wie die Abstrafung eines kritischen Geistes. Brisanter ist der Verdacht, der sich aus den Unterlagen ergibt: Im Jahr 2000 sollen der Priester und die Mutter der missbrauchten Kinder einen Vertrag geschlossen haben: 50 000 D-Mark für die Familie als "umfassenden Ausgleich für erlittenes Unrecht".

Sittenstreng und Sittenwidrig

Im Gegenzug das Versprechen, Stillschweigen gegenüber Dritten zu bewahren und auf eine Anzeige zu verzichten. Der Vertrag ist sittenwidrig, sollte er so gelautet haben.
Hat die Bistumsspitze – ansonsten sittenstreng – hier widersprochen?
Eine ausführliche schriftliche Anfrage des Deutschlandfunks zu diesem Punkt und den hier geschilderten Verdachtsdetails beantwortet die Pressestelle des Erzbistums Köln mit wenigen lapidaren Sätzen:
"Vielen Dank für Ihre Anfrage! Der beschriebene Fall ist Gegenstand der Unabhängigen Untersuchung, die das Erzbistum bei Professor Gercke in Auftrag gegeben hat. Das ausdrückliche Untersuchungsziel ist es, Verantwortliche zu identifizieren und im Zuge der Veröffentlichung zu benennen. Die Veröffentlichung des Gutachtens wird bis zum 18. März 2021 erfolgen."
Der Priester gilt also immerhin als "Fall".
Seine Suspendierung aus dem Jahr 1997 wird schon drei Jahre später aufgehoben. Offenbar mit der Auflage, auf Kinder- und Jugendarbeit zu verzichten und sich psychotherapeutisch begleiten zu lassen, wird er in der Seelsorge eingesetzt. Er soll sich psychiatrisch begutachten lassen. Das dauert - bis 2010. Dann habe ein Experte dem Gottesmann, der "unter die Leute" sollte, eine pädophile Störung attestiert, laut Unterlagen. Die Konsequenz: untauglich für den normalen Pfarrdienst, aber tauglich als Ruhestandsgeistlicher.
Zur Erinnerung: Es ist das Missbrauchsskandaljahr. Seine Gefühls- und Wissenslage nach den allgemeinen Enthüllungen im Januar 2010 beschreibt Joachim Meisner im Interview mit Deutschlandfunk-Chefredakteurin Birgit Wentzien Jahre später detailreich:
"Also, wissen Sie, ich weiß das noch ziemlich genau, ich lag gerade in der Universitätsklinik hier und mein linkes Knie ist operiert worden, da kam das so. Und ich bin erst einmal, ich denke, das ist eine Verleumdungskampagne. Am nächsten Tag bei der Visite, haben Sie gut geschlafen, sage ich, nein, nein, ich habe ganz schlecht geschlafen. Ach, sagt der, nehmen Sie, das ist so eine Finte! Und dann kam das heraus, dass es ein Fundamentum in re hat. Das hat mich so entsetzt, das hat mich so entsetzt! Und ich habe mir immer vorgestellt, wenn mir das passiert wäre, der Priester war für mich, was ich Ihnen gesagt habe, das war für mich als Kind schon, ich will Priester werden! Dachte ich immer, der ist doch der Stellvertreter Gottes! Und der soll doch die Menschen zu Gott führen und die Freude an Gott, das ist doch unsere Stärke! Also, ich brauchte ein paar Wochen, ehe ich wieder klar denken konnte, so hat mich das erschüttert."
Wentzien: "Haben Sie davon etwas geahnt?"
Meisner: "Nichts geahnt, nichts geahnt! Wissen Sie: Ich habe mir das doch nicht vorstellen können!"

Die unbefleckte, heilige Kirche

Der Kardinal hat gelogen – auf Basis der vorliegenden Informationen jedenfalls. Treffen sie zu, war er persönlich in den Fall verwickelt. Und Untergebene betrieben viel Aufwand, um einen Skandal zu vermeiden und die Heiligkeit der Kirche unbefleckt strahlen zu lassen.
Auch andere Würdenträger dürften 2010 nicht ahnungslos gewesen sein, was das Ausmaß sexualisierter Gewalt im Erzbistum Köln anbetrifft: Wer an Personalkonferenzen teilnimmt - dazu zählen neben Erzbischof, Generalvikar und Personalchef in der Regel die Weihbischöfe – kann sich keiner Illusion hingeben. Der heutige Erzbischof Woelki war von 2003 bis 2011 Kölner Weihbischof, der Immernoch-Weihbischhof Dominikus Schwaderlapp amtierte von 2004 bis 2012 als Generalvikar. Sein Nachfolger in diesem Amt wurde Stefan Heße, heute Erzbischof von Hamburg. Der Erzbischof von Berlin, Heiner Koch, war von 1992 an zunächst Leiter der Hauptabteilung Seelsorge im Kölner Generalvikariat, dann stellvertretender Generalvikar, bevor 2006 auch er Kölner Weihbischof wurde. Köln – die katholische Kaderschmiede.
Während 2010 Bischöfe sexualisierte Gewalt öffentlich als "bedauerliche Einzelfälle" abtun, verändert der mediale Druck intern doch ein bisschen: Die Deutsche Bischofskonferenz gibt sich Leitlinien zum Umgang mit Missbrauchsbeschuldigungen. Das Erzbistum Köln leitet mutmaßlich den Fall, von dem hier die Rede ist, im August 2012 nach Rom zur Glaubenskongregation, der zuständigen Behörde im Vatikan. An deren Spitze steht seit Juli 2012 der Deutsche Gerhard Ludwig Müller, vormals Bischof von Regensburg. Die Glaubenskongregation teilt nach den vorliegenden Unterlagen im Dezember 2012 Joachim Meisner offenbar mit, ein kirchliches Strafverfahren käme wegen Verjährung nicht mehr in Frage, aber es sei darauf zu achten, "jedwedes Ärgernis unter den Gläubigen zu vermeiden, das etwa dadurch hervorgerufen werden könnte, dass der Priester nach Bekanntwerden seiner Missbrauchstaten weiterhin der heiligen Eucharistie vorsteht und die Sakramente spendet"
Nach systemischer Logik kommt es anno 2012 nicht auf die Seele der Kinder an. Was zählt, sind die öffentliche Ordnung und der heilige Schein der Sakramente. Im Deutschlandfunk-Interview vom März 2015 spricht Meisner davon, nach 2010 auf Opfer zugegangen zu sein:
"Und ich habe alle, von allen Fällen, die mir habhaft waren, da habe ich die Opfer eingeladen. Ich habe mit allen Opfern unter vier Augen gesprochen. Das war die schlimmste Zeit … Die haben oft dann … Das war oft so eine therapeutische Sache, die haben mir oft bis ins Detail … und haben dabei geweint und geschluchzt, und ich dachte immer, jetzt lass die reden, hör nur zu, hör nur zu. Und das hätte ich nicht für möglich gehalten."

Ordnung statt Opferfürsorge

In den Schriftstücken zum hier beschriebenen Verdachtsfall findet sich von dieser Art Opferfürsorge keine Spur. Erzbischöfliche Sorgenfalten gelten der Frage, wie und ob dieser Geistliche Gottesdienste halten darf.
Denn der in katholischen Kreisen bekannte Priester entwickelt sich tatsächlich zum Ärgernis. Er inszeniert sich als Frohbotschafter, als Gegenspieler zum erzbischöflichen Drohbotschafter. Konservative Gläubige beschweren sich über seine Art der Liturgie. Er brauche ein Sabbatjahr, erklärt er den Medien. Die vorliegenden Informationen legen jedoch den Verdacht nahe, dass er wegen des römischen Verfahrens nicht zelebrieren durfte – zeitweise jedenfalls nicht.
Der damalige Leiter der Hauptabteilung Seelsorge-Personal und heutige Kölner Weihbischof Ansgar Puff gibt Ende August 2013 in einer gemeinsamen Erklärung mit dem Priester bekannt, dass dieser nicht mehr in seiner Gemeinde eingesetzt werde. Aber:
"Kardinal Meisner hat die Personalabteilung beauftragt, gemeinsam mit Pfarrer ... eine priesterliche Tätigkeit zu suchen, die seinen Fähigkeiten und Interessen in bester Weise entspricht".
Der Priester darf danach wieder Messe feiern. Der Gottesmann publiziert auch weiter, hält Vorträge, über die in regionalen Medien freundlich-anerkennend berichtet wird.
In Köln gibt es 2014 einen Wechsel an der Kirchenspitze. Kardinal Rainer Maria Woelki wird Erzbischof, grenzt sich zunächst im Habitus von seinem Vorgänger ab. Als das Thema Missbrauch 2018 wegen einer großen Studie der Bischofskonferenz auf der Agenda steht, setzt er sich verbal an die Spitze der Aufklärung. Am 23. September 2018 kündigt er in einem Video an:
"Unser Kölner Erzbistum wird sich der Wahrheit stellen, auch dann, wenn diese schmerzlich ist. Und dazu gehört es, ungeschönt und ohne falsche Rücksichten aufzuklären. Das wird wahrscheinlich sehr schmerzhaft, auch für uns selbst."
Im Erzbistum werden nun Aktenbestände gesichtet, besonders toxische Fälle identifiziert. Dazu soll auch der hier beschriebene Verdachtsfall gehören. Das Erzbistum nimmt Kontakt zu den Opfern des Pfarrers aus den 1990er-Jahren auf. Laut Medienberichten leitet Woelki den Fall 2019 nach Rom.
Warum der Kardinal nicht schon früher aktiv wurde? Auch darauf bleibt das Erzbistum auf Dlf-Anfrage eine Antwort schuldig:
"Keine Stellungnahme."
Was für Rainer Maria Woelki motivierend gewirkt haben dürfte: 2019 verändert sich durch das päpstliche Schreiben "Ihr seid das Licht der Welt" die kirchenrechtliche Situation. Erstmals drohen Bischöfen kirchenrechtliche Sanktionen, sollten sie Ermittlungen vertuschen, unterlassen oder verschleppen.
Mehr als 30 Jahre nach den ersten Beschuldigungen gegen den Geistlichen könnte ihm aufgrund des geschilderten Verdachts nun die Höchststrafe drohen: die Entlassung aus dem Klerikerstand.
Rechtfertigungsversuche von Beteiligten fallen selbst bei bestätigten hochgiftigen Fällen handelsüblich bis infam aus: Man habe in den 1980er und 1990ern nicht gewusst, was Missbrauch bei den betroffenen Kindern anrichte, man habe gedacht, Täter seien therapierbar, man wolle auch die Opfer vor der Öffentlichkeit schützen. Immerhin habe man ihnen doch gleich geglaubt. Und die Personalkonferenz sei nur eine Keks- und Kaffeerunde gewesen, kein Missbrauchsscherbengericht. Sollten Journalistinnen und Journalisten jetzt berichten, so würden die Opfer das nicht verkraften.
Kein Mea Maxima Culpa war bisher zu hören.
Meisner: "Nichts geahnt, nichts geahnt."
Alles gewusst? Das System von Versetzung und Verharmlosung hat bisher perfekt funktioniert. Die zynische Wahrheit dieser Nichts-Geahnt-Kirche lautet: Geweihte Männer sind wertvoller als andere Menschen, erst recht wertvoller als missbrauchte Kinder und traumatisierte Familien.
"Keine Stellungnahme!"