Mittwoch, 17. April 2024

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Shumona Sinha: "Das russische Testament"
Von Kalkutta nach Moskau

Seit Shumona Sinha mit ihrem Roman "Erschlagt die Armen!" über das Asylsystem Furore gemacht hat, ist sie mit Preisen überhäuft worden. Jetzt ist ein vierter Roman der indischen Autorin ins Deutsche übersetzt worden. Darin sucht die Erzählerin nach Spuren eines Moskauer Verlegers.

Von Dorothea Dieckmann | 16.09.2021
Shumona Sinha: "Das russische Testament" Zu sehen sind die Autorin und das Buchcover
Auch in ihrem neuen Roman erzählt Shumona Sinha von einer Frau zwischen den Kulturen (Cover: Nautilus Verlag / Foto: Francesca Mantovani / Éditions Gallimard)
Es war die Übersetzerin Lena Müller, die Shumona Sinha auf Empfehlung einer Buchhändlerin in Paris für den deutschen Markt entdeckte. An dem schmalen Roman "Erschlagt die Armen!" reizte sie nicht nur die provokante Aussage, sondern auch die literarische Qualität:
"Als ich ihn das erste Mal las, war ich von der Kraft dieser poetischen, ausdrucksstarken Sprache fasziniert. Es war dann vor allem die Vielzahl an Bildern, deren Übersetzung eine Herausforderung für mich war. Sprachliche Bilder sind ja auch immer emotional besetzt und diese Emotionen möchte man übertragen, ohne ins Kitschige zu fallen."

Zwischen Kalkutta und Paris

Die späteren Romane "Kalkutta" und "Staatenlos" sind ebenso kurz und ebenso bilderreich. Auch in diesen beiden Büchern sind die Erzählerinnen aus der westbengalischen Hauptstadt nach Paris gegangen, wobei im letzteren das Berufs- und Liebesleben der Auswanderin mit dem grausamen Schicksal einer indischen Bäuerin kontrastiert wird.
Das neue Buch "Das russische Testament" führt einmal mehr nach Kalkutta, wo das Mädchen Tania in den Achtzigerjahren als Tochter eines Buchhändlers aufwächst. Tania verschlingt Bücher, vor allem russische Literatur, die im kommunistisch regierten Westbengalen omnipräsent ist. Die Verlagswerbung in den alten Bänden weckt in ihr den Wunsch, die Verleger kennenzulernen. Als junge Frau beschließt sie, Russisch zu lernen.
"Sie wusste noch nicht, dass sie ihr Herz an einen Mann verlieren würde, der schon über fünfundsechzig Jahre tot war (...). Einstweilen wurde die fremde Sprache zu einer Fluchtmöglichkeit (...). Eine Andere werden, unter dem Panzer desselben Körpers, unter der Maske desselben Gesichts ein anderes Leben leben (...), sich eine neue Landschaft gewähren, wenn das alte Land zu eng wird."

Suche nach einem Toten

Der Mann, der Tanias Ausbruchswünsche beflügelt, ist Lew Kljatschko, der 1873 geborene Gründer des Moskauer Raduga-Verlags, der Stalins Kultursäuberungen zum Opfer fiel. Es ist nicht recht klar, warum Tania gerade ihn zum Idol erklärt, warum sie so verzweifelt ist, als sie von seinem lange zurückliegenden Tod erfährt und warum ihre Nachforschungen nach dem toten Verleger seitenlang geschildert werden – es sind die Recherchen der Autorin selbst, die hier in einer alles andere als bildhaften Sprache abgehandelt werden:
"Zwischen unzähligen (...) Namen, Dienststellen, Stiftungen und Instituten auf verschiedenen Webseiten fand sie die 1967 gegründete Organisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, sich um die ukrainische Diaspora in der ganzen Welt zu kümmern. Sie schrieb den verschiedenen Vorständen mehrere Mails."
Buchcover "Staatenlos" von Shumona Sinha, im Hintergrund eine Inderin beim Wäscheaufhängen
Kritik zu Sinhas "Staatenlos"
Die bei Kalkutta lebende Politaktivistin Mina ist schwanger, aber unverheiratet; die von Franzosen adoptierte Marie sucht ihre leiblichen Eltern; und Esha, Lehrerin in der Pariser Banlieue, will französische Staatsbürgerin werden: Shumona Sinha erzählt schonungslos über drei Frauen in ganz unterschiedlichen Sinnkrisen.
Auf solchen Wegen gelingt es Tania, Kljatschkos hochbetagte Tochter ausfindig zu machen. Shumona Sinha lässt jedoch offen, ob es zu einem Treffen der jungen Inderin mit der alten Russin kommt. Diese ist die zweite Stimme des Romans; ihr ist es vorbehalten, die Geschichte ihres Vaters und seines Verlags, aber auch die des Krieges, der Stalin- und der Tauwetterzeit sowie der Post-Sowjet-Ära zu erzählen. Tanias Brief, der sie in einem St. Petersburger Altenheim erreicht und ihre Erinnerungen auslöst, wird so beschrieben:
"Wie eine Kletterpflanze streckt der Brief seine Schlingen nach mir aus, über Länder und Kontinente, Jahre und Jahrzehnte hinweg, legt sich über verlassene Monolithen, streift über Grabsteine. Ich höre ihre Stimme wie das Summen einer Biene, die in einem Honigglas gefangen ist."

Prätentiöse Metaphorik

Der allzu kurze Weg von der Schlingpflanze zur Biene im Honigglas zeigt, wie sich die Poesie, die an Sinhas Schreiben geschätzt wird, in eine überspannte, ja schiefe Metaphorik verirren kann. Während ihre Figuren historische und politische Ereignisse oft im Stil von Lexikoninformationen herunterbeten, versteigt sich die Autorin bei der Schilderung der Innenwelten oft ins Abstruse.
Da "rast" der Kaffee durch die Blutbahnen "wie neurotische Mäuse", ein Zimmer ist "mit Schmerz vermintes Gelände" und so fort. Bei manchen Personenbeschreibungen mündet diese Tendenz in manifesten Kitsch; keine Übersetzung kann das ändern. "Ihr graziler, sinnlicher Körper glitt wie eine goldene Wolke über die Gehsteige der Stadt", heißt es von einer Frau. Die Charakterisierung eines Liebhabers scheint einem Trivialroman zu entstammen:
"Oleg, mittelgroß, schmal und muskulös, wirkte mit seinen blonden, kurz rasierten Haaren, die sein scharf geschnittenes Gesicht perfekt zur Geltung brachten, wie ein Schamane in Zivil. Das Kristallblau seiner Augen schien niemals zu enden (...). Tania ahnte, dass sich hinter der Fensterscheibe seines ruhigen Gesichts ein stürmischer, sensibler (...) Mann verbarg."

Mehr Konzentration

Auch die Handlung des kleinen Romans ist überfrachtet. Tanias Affären, ihre gewalttätige Mutter oder der falsche Verdacht einer lesbischen Beziehung – solches Beiwerk dient mehr dem Effekt als der erzählerischen Notwendigkeit. Kurz, man wünschte sich, Shumona Sinha würde ihren Romanideen mehr Konzentration und ihrem poetischen Potential mehr Sorgfalt widmen.
Shumona Sinha: "Das russische Testament"
Aus dem Französischen von Lena Müller
Edition Nautilus, Hamburg. 184 Seiten, 20 Euro.