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Sicherheit in Europa
Schulz warnt vor "Konjunkturrittern der Angst"

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz hat nach den Terroranschlägen von Paris vor Populismus gewarnt. Es gebe immer Konjunkturritter der Angst, die versuchten, aus der Verunsicherung der Menschen Profit zu schlagen, sagte der SPD-Politiker im DLF. Dabei seien die Rechtsinstrumente der Sicherheitspolitik im Prinzip ausreichend.

Martin Schulz im Gespräch mit Dirk Müller | 13.01.2015
    Martin Schulz (SPD), der Präsident des Europäischen Parlaments
    Martin Schulz (SPD), der Präsident des Europäischen Parlaments (dpa / picture-alliance / Olivier Hoslet)
    Der Terror richte sich zunehmend nicht gegen Eliten, sondern gegen "einfachste Menschen", unterstrich Schulz im Interview mit dem Deutschlandfunk. Trotzdem mahnte er zur Besonnenheit. Notwendig sei eine kühle und rationale Abwägung, wo und wie im Vollzug der Gesetze nachgebessert werden müsse, erklärte Schulz. Mit Blick auf die IS-Milizen und die Kämpfer von Boko Haram betonte er, nicht nur Europa sei vom Terror betroffen.
    Diskussion über schärfere Sicherheitsgesetze
    Unter dem Eindruck der Attentate gibt es in der EU-Kommission Pläne, ein europäisches System zur Speicherung von Fluggastdaten einzurichten. Ein solches Vorhaben war bislang am Widerstand des EU-Parlaments gescheitert. Die Bundesregierung bereitet darüber hinaus eine Änderung des Passgesetzes vor, mit der die Ausreise gewaltbereiter Salafisten verhindert werden soll.

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk Müller: Nach dem Terror in Paris - Tausende Sicherheitskräfte zum Schutz vor Terror zusätzlich mobilisiert. Mutmaßliche Komplizin schon vor Attentaten über die Türkei nach Syrien ausgereist. Mehr als 50 Staats- und Regierungschefs nehmen an Mahnwache in Paris teil. Frankreich eint sich selbst und dazu noch Europa. Der Kontinent diskutiert über schärfere Sicherheitsmaßnahmen. - Einige Überschriften, Schlagzeilen, die wir in den Tageszeitungen und im Internet in den vergangenen 24 Stunden lesen konnten. Europa rückt zusammen, gemeinsam mit vielen anderen in der Welt, gegen den Terror, gegen Gewalt, gegen den islamistischen Terror. So der Eindruck, vielfach von Politikern, auch von den Medien, auch von den Glaubensgemeinschaften genauso beschrieben, vielleicht sogar genauso beschworen. "Wir sind Charlie" und noch viel mehr. Aber stimmt das wirklich? Was ist mit der Gewalt und den islamistischen Terroropfern in Afrika, im Nahen Osten, in Pakistan? - Am Telefon ist nun der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, der am Sonntag auch in Paris dabei war. Jetzt ist er in Straßburg. Guten Morgen!
    Martin Schulz: Guten Morgen, Herr Müller.
    Müller: Herr Schulz, sind Sie auch Nigeria?
    Schulz: Ich habe gestern in meiner Ansprache im Europäischen Parlament ausdrücklich den Terror von Boko Haram, der ja ideologisch den gleichen Hintergrund hat, wie ihn die Täter in Paris hatten, erwähnt. Und wir haben im Europaparlament, glaube ich, im Gegensatz zu manchen anderen kontinuierlich darauf hingewiesen, dass Terror nur zu Teilen ein europäisches Phänomen ist.
    Müller: Ein internationales Phänomen, was aber vielleicht dann doch - so jedenfalls die These, die im Moment diskutiert wird - mit zweierlei Maß, gerade auch in der Bewertung, in der Dringlichkeit, gemessen wird?
    Schulz: Nein, das glaube ich nicht, dass mit zweierlei Maß gemessen wird. Wir sind uns schon darüber im Klaren, dass der Terror ein weltweites Phänomen ist. Er ist übrigens in besonders zunehmender, dramatisch zunehmender Weise ein afrikanisches Problem. Wir konnten in den letzten Jahren ja sehen, dass der Terror, der begonnen hat mit den zerfallenden Staaten an der Ostküste Afrikas, also in Somalia, der übrigens vor Jahren bereits in Kenia auftrat, sich jetzt langsam in den Westen Afrikas verschoben hat, in Richtung Nigeria, aber übrigens auch nach dem Zerfall von Libyen und der Plünderung der Waffenarsenale von Gaddafi, sich in Mali zum Beispiel terroristische Banden unter Bezug auf den Islam bemerkbar gemacht haben und ja Staaten bedrohen.
    Man sollte einen Zusammenhang übrigens nicht übersehen: In der ersten Reihe in Paris marschierte ja auch der Staatspräsident Keita aus Mali, ein Land, eine Demokratie in Afrika, die von Terrorismus bedroht ist und wo Frankreich mit großer militärischer Präsenz anwesend ist. Also da gibt es schon unmittelbare Zusammenhänge.
    "Unmittelbare Betroffenheit nicht kritisieren"
    Müller: Aber wir gehen, Herr Schulz, nur auf die Straße, wenn etwas in Europa passiert?
    Schulz: Ich glaube, die unmittelbare Betroffenheit von Menschen, wenn vor ihrer Haustüre ihre Mitmenschen, ihre Mitbürger oder eine ganze Zeitungsredaktion ausgelöscht wird, die darf man ja nicht kritisieren, indem man sagt, ihr geht nur auf die Straße, wenn vor eurer Haustüre Leute umgelegt werden. Das, finde ich, sollte man jetzt nicht miteinander verknüpfen.
    Müller: Aber stimmt es trotzdem?
    Schulz: Ich glaube, wir sind nicht in Massen auf die Straße gegangen, wenn in anderen Ländern Terroranschläge verübt wurden, aber die Aufmerksamkeit für den weltweiten Terror, die ist schon seit geraumer Zeit sehr, sehr groß. Nehmen Sie sich die schweren Debatten, die wir insgesamt auch um den Einsatz von Soldaten in von Terror bedrohten Ländern hatten. Nehmen Sie die Afghanistan-Debatte, die wir in Deutschland und allen anderen Ländern hatten. Nehmen Sie sich die Debatte um die Waffenlieferung an die Peschmerga in Kobane. Das hat schon die Leute bei uns auch massiv bewegt. Nicht zu Massendemonstrationen wie in Paris, zugegebenermaßen ja, aber man kann nicht sagen, das sei in der öffentlichen Debatte ignoriert worden.
    Müller: Ich möchte dennoch einmal dabei bleiben, Herr Schulz. Wenn wir das Beispiel Pakistan nehmen, Peschawar, das Attentat auf die Schule dort mit 140 Toten, die meisten davon Kinder. Die französische Situation jetzt, die Folgen, eine Schweigeminute oder Schweigeminuten überall in Europa, auch in Deutschland, auch in den deutschen Medien, im Fernsehen, im Radio, auch im Deutschlandfunk gab es das, im Weltsicherheitsrat gab es das auch. Bei Pakistan gab es das nicht!
    Malala Yousafzai erhält den Sacharow-Preis.
    Malala Yousafzai vor dem Erhalt des Sacharow-Preises. (picture alliance / dpa / Facundo Arrizabalaga)
    Schulz: Ich verstehe ja Ihren Ansatz. Dass wir in einer intensiveren Weise uns um den Terror auch in anderen Ländern und in anderen Regionen dieser Welt kümmern müssten, das teile ich ja. Aber Sie dürfen eins nicht unterschätzen: Es gibt nicht Massendemonstrationen, aber es gibt schon auch Reaktionen nach solchen Anschlägen. Nehmen Sie Pakistan: Wir haben im Europaparlament dem jungen Mädchen Malala den Sacharow-Preis verliehen. Sie hat in diesem Jahr den Friedensnobelpreis bekommen. Das war eines der Opfer der Terroristen im Norden Pakistans. Das ist ein weltweit zur Kenntnis genommenes Symbol auch der Solidarität mit den Opfern dieses Terrors. Ganz sicher ist eines richtig: Die Angst, die unter normale Menschen getragen wird, durch diesen Terror, weil diese Form des Terrors, der von islamistischen Banden ausgelöst wird, Angst verbreiten soll, weil niemand sicher sein kann, nicht ein Opfer zu werden, auch nicht ein einfacher Bürger - dieser Terror richtet sich nicht gegen Eliten, sondern gegen einfachste Menschen -, diese Angst, die wird in Europa jetzt erst durch solche Anschläge für viele Menschen richtig spürbar und dadurch werden die Reaktionen natürlich hier auch intensiver.
    Müller: Aber wir hatten auch schon London, wir hatten auch schon Madrid mit hunderten Toten. Irgendwie war das damals in der Reaktion anders.
    Schulz: Das teile ich nicht, Ihre Einschätzung. Ich kann mich an den 11. März 2004 sehr gut erinnern. Ich bin kurz danach selbst in Madrid gewesen. Sie werden sich sicher auch daran erinnern, dass wegen der Debatte über die Urheberschaft der Anschläge in Atocha in Spanien eine Regierung ausgewechselt wurde, innerhalb von wenigen Tagen. Das war nämlich kurz vor einer Parlamentswahl. Also noch mal: Ich glaube, dass Sie recht haben. Man muss die Aufmerksamkeit sicher auch darauf lenken, dass es nicht nur Europa ist, das von Terror betroffen ist. Aber Sie können umgekehrt auch nicht so tun, als sei der Terror sozusagen über Jahrzehnte ignoriert worden.
    Solidarität unter Journalisten "völlig normal"
    Müller: Wir haben die Diskussion im Moment ja auch in den Medien, sind die Medien eventuell mit ihrer Solidarisierung etwas zu weit gegangen. Darauf wird ja zumindest kritisch geblickt, weil die Medien sich normalerweise ja mit dem Etikett versehen, möglichst Distanz zu halten. Bei Hebdo ist es jetzt etwas anders. Da sagen einige, da ist diese Grenze überschritten worden, "Wir sind Charlie", aber wie kommen wir dazu, weil wir uns auch mit einer guten Sache nicht gemein machen sollten. Sehen Sie das auch kritisch?
    Schulz: Das finde ich eine ganz interessante Frage, die Sie da stellen, die ich gestern mit Kollegen diskutiert habe. Wenn Sie gestatten, will ich Ihnen ganz kurz ein Erlebnis in Paris beschreiben gestern als Antwort auf Ihre Frage. Ich war gestern in der Redaktion von "Libération", einer großen französischen Zeitung. In den Redaktionsräumen von "Libération" hat ein französischer Radiosender ein ad hoc Studio eingerichtet, "france inter", und die "Charlie Hebdo"-Redaktion arbeitet, die Überlebenden der Redaktion arbeiten zurzeit in Räumen, die die "Libération" ihnen zur Verfügung gestellt hat. Das ist ein Akt der Solidarität unter Journalisten. Dann bin ich da hingefahren, habe da ein Interview gegeben. Das war eine Festung! - Das war eine Festung! - Da war Militär und Polizei vor dieser Redaktion aufgefahren. Das sind Bilder, die kennt man normalerweise, wenn Redaktionen besetzt werden in Ländern, wo es einen Staatsstreich gab. Gestern habe ich gesehen, dass ein Massenaufgebot die Redaktion, die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit, das Leben von Journalisten schützen muss. Dass Journalistinnen und Journalisten weltweit in einer solchen Situation Bedrohung empfinden und sich untereinander solidarisieren, das finde ich völlig normal.
    Müller: Wir haben heute Morgen einen Beitrag aus Westafrika gesendet, unser Korrespondent Alexander Göbel, der auch darüber berichtet hat, dass auch viele westafrikanische Journalisten empört sind, entrüstet sind über das, was in Frankreich passiert ist. Dabei kommen diese Journalisten aus Ländern, wo man von Meinungsfreiheit nur träumen kann. Dennoch für viele jetzt in der Fragestellung ja ganz schwierig nachzuvollziehen: Ist denn der Anschlag auf die Meinungsfreiheit in einem freien Land viel, viel schlimmer als der Terroralltag in Diktaturen?
    Ein Mädchen auf dem "Marsch der Republik" gegen den Terror in Paris am 11.01.2015
    Mehr als eine Million Menschen gingen allein in Paris auf die Straße (AFP / Patrick Kovarik)
    Schulz: Nein, ganz sicher nicht! - Ganz sicher nicht! Und es ist sicher Aufgabe, aber ich glaube auch ein Ergebnis der Qualität von Journalismus in freien Ländern, gerade in europäischen Ländern, zum Beispiel auch beim Deutschlandfunk in der Bundesrepublik Deutschland, genau auf diese Unterdrückung kontinuierlich hinzuweisen und, wenn man das Gefühl hat, Politik täte nicht genug dafür, die Politiker gegebenenfalls auch in Interviews am frühen Dienstagmorgen daran zu erinnern.
    "Profit aus der Verängstigung von Menschen"
    Müller: Sicherheitspolitik - nur noch eine Frage dazu zum Schluss, Herr Schulz. Gehen Sie davon aus, dass alle besonnen bleiben?
    Schulz: Davon gehe ich aus. Aber meine Erfahrung in der Politik lehrt mich, dass es nicht so sein wird. Es werden nicht alle besonnen sein. Sie haben immer die Konjunkturritter der Angst, die dann in populistischer Weise versuchen, Profit zu schlagen aus der Verängstigung von Menschen. Ich hoffe, dass verantwortungsbewusste Politiker insbesondere in Regierungen sich darauf nicht einlassen, sondern kühl und rational abwägen, was ist jetzt notwendig, wo gibt es Defizite, wo müssen wir verbessern. Die Rechtsinstrumente, die wir haben, sind eigentlich vom Prinzip ausreichend. Da wo man im Vollzug verbessern muss, sollte man dies tun, und da, wo es wirklich noch sichtbare Defizite gibt, sollte man versuchen, im großen Konsens sie zu beseitigen.
    Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz (SPD). Danke für das Gespräch.
    Schulz: Danke Ihnen, Herr Müller.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.