Zwischen den Stühlen
Wie der Nahe Osten mit seiner Haltung zum Ukraine-Krieg ringt

In Nahost haben viele Staaten zunächst eine eindeutige Positionierung nach dem russischen Angriff auf die Ukraine vermieden, obwohl die Region von den Folgen stark betroffen ist. Wie stehen die politischen Führungen in der Region zu Moskau, Kiew und dem Westen?

Von Felix Wellisch |
    Menschen versammeln sich auf dem Habima Square in Tel Aviv, Israel, um die Video-Ansprache des ukrainischen Präsidenten vor der Knesset anzuschauen
    Menschen versammeln sich auf dem Habima Square in Tel Aviv, Israel, um die Video-Ansprache des ukrainischen Präsidenten vor der Knesset anzuschauen (picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Maya Alleruzzo)
    Die Schockwellen des Krieges sind im Nahen Osten deutlich zu spüren: Die erwarteten Einbrüche bei Weizenexporten aus Russland und der Ukraine, die hektische Suche nach Alternativen zu russischen Öl- und Gaslieferungen sowie der Rückzug der USA aus der Region in den vergangenen Jahren schaffen ein Klima, in dem viele alte Gewissheiten ins Wanken geraten. Wie stehen die einzelnen Länder zu diesem Krieg und was motiviert ihre Entscheidungen?
    Israel
    Die Regierung von Israels Regierungschef Naftali Bennett hätte allen Grund gehabt, sich nach dem Überfall Russlands entschieden an die Seite der Ukraine und des Westens zu stellen. Nicht nur ist Israel seit jeher ein enger Verbündeter der USA, die nun drastische Maßnahmen gegen Russland erlassen haben. Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj ist selbst jüdisch, in der Ukraine lebten bis Kriegsbeginn nach Angaben jüdischer Hilfsorganisationen rund 200.000 Juden. 
    Der israelische Premierminister Naftali Bennett und der russische Präsident Wladimir Putin (r)
    Der israelische Premierminister Naftali Bennett und der russische Präsident Wladimir Putin (r) (picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Evgeny Biyatov)
    Stattdessen vermied Naftali Bennett zunächst eine klare Verurteilung Russlands. Er brachte sich sogar wiederholt als möglicher Vermittler ins Spiel und traf sich Anfang März mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in Moskau. Außenminister Yair Lapid bezeichnete die Invasion als “schwere Verletzung der Internationalen Ordnung”, mahnte jedoch auch zur Vorsicht. Den umfassenden Sanktionen gegen Russland hat sich das Land bisher nur vereinzelt und zögerlich angeschlossen.
    Israel und Russland sind sich durch den Krieg im benachbarten Syrien in den vergangenen Jahren räumlich sehr nahe gerückt. Dort kontrolliert Moskau seit seinem Eingreifen zugunsten des bedrängten Machthabers Baschar al-Assad den Luftraum. Israel muss sich bei Luftangriffen auf Stellungen pro-iranischer Milizen mit der russischen Militärführung abstimmen. Die Grenze zu Syrien ist laut Lapid in gewisser Weise eine Art Grenze zu Russland. 

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    Der Krieg ist aber auch innenpolitisch problematisch für Israel. Große Teile der israelischen Bevölkerung haben eine starke Verbindung zu Russland und zur Ukraine. Rund zwölf Prozent der Bevölkerung stammt aus der ehemaligen Sowjetunion, für viele ist Russisch ihre Muttersprache. Die Zurückhaltung der Regierung hat aber auch in Israel für viel Kritik gesorgt: Zu tausenden haben in den vergangenen Wochen Israelis bei Protesten ein Endes des Krieges gefordert, viele von ihnen mit Wurzeln in der Ukraine oder in Russland. 
    Viele Palästinenser und palästinensische Israelis empfinden die weltweite Empörung hingegen mitunter als doppelbödig. Im Kampf um ihr Land sehen sich viele von ihnen zwar den Ukrainern verbunden und unterstützen deren Kampf. Dass diese aber von der Welt dafür gefeiert werden, Molotowcocktails zu basteln, während in den von Israel besetzten Gebieten palästinensische Aktivisten oft kriminalisiert würden, wollen viele nicht akzeptieren. 
    Syrien
    Israels nördlicher Nachbar Syrien ist eines der wenigen Länder, das klar Position zugunsten Russlands bezogen hat. Dem syrischen Machthaber Baschar al-Assad blieb jedoch auch kaum eine Wahl: Dass er noch immer an der Macht ist, verdankt er dem militärischen Eingreifen Russlands in den syrischen Bürgerkrieg im Jahr 2015.
    Russland, Moskau: Ein vom Kreml am 14.09.2021 zur Verfügung gestelltes Bild zeigt Wladimir Putin (r), Präsident von Russland, bei einem Treffen mit Baschar al-Assad, Präsident von Syrien, im Kreml.
    Syriens Präsident Assad trifft Putin (Kreml/dpa)
    Als eines von vier Ländern stimmte Syrien daher in der UN-Vollversammlung dagegen, die russische Invasion zu verurteilen - zusammen mit Nordkorea, Belarus und Eritrea und gegen die überwältigende Mehrheit der Staatengemeinschaft. 
    Russlands Eingreifen 2015 war dabei nicht uneigennützig: Damaskus überließ Moskau im Gegenzug die Möglichkeit, Truppen in der Region zu stationieren, unter anderem im Marinestützpunkt Tartus an der Mittelmeerküste. Zudem sehen Experten wie Joris Van Bladelm vom Austria Institut für Europa- und Sicherheitspolitik Syrien als “Versuchslabor für das militärische Arsenal” Russlands. Rund 90 Prozent der russischen Luftwaffenpiloten habe bei Einsätzen in Syrien Erfahrung gesammelt.
    Libanon
    Zwischen Syrien und Israel liegt der Libanon, dessen Regierung sich als eines der wenigen Länder in der Region klar gegen die russische Invasion positioniert hat. Als am 24. Februar russische Truppen in die Ukraine einmarschierten, verurteilte das libanesische Außenministerium noch am selben Tag die Invasion und rief Russland zum Rückzug auf.
    Der Widerspruch ließ jedoch nicht lange auf sich warten. Am ersten März schaltete sich der Anführer der islamistischen, pro-iranischen Hisbollah-Miliz ein, die im Zedernstaat wegen ihres großen Einflusses oft als Staat im Staate bezeichnet wird. Hassan Nasrallah kritisierte die Stellungnahme des Außenministeriums und gab die Schuld an der Eskalation dem Westen: “Die USA sind Schuld an der Krise in der Ukraine”. Präsident Michel Aoun wiederholte jedoch am 4. März beim Besuch einer EU-Delegation: “Wir sind gegen jede militärische Handlung gegen jeden freien und unabhängigen Staat.”
    Im Libanon, der sich seit Jahren in der schwersten Krise seiner Geschichte befindet, fürchten zudem viele die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine auf die ohnehin katastrophale Versorgungslage. Laut der UNO sind rund 50 Länder weltweit auf Weizeneinfuhren aus Russland und der Ukraine angewiesen, darunter der Libanon. 
    Laut dem Agrarökonomen Matin Qaim litten bereits vor dem Krieg 800 Millionen Menschen weltweit an Hunger. Im schlimmsten Fall könnten weitere weitere 100 Millionen Hungernde dazukommen. “Das gilt es natürlich zu verhindern”, sagte Qaim im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur. Andere Produktionsländer könnten die Exportausfälle aus Russland und der Ukraine jedoch nicht ohne weiteres abfedern, da diese zuerst ihre eigene Bevölkerung versorgen würden. Denkbar sei, dass Länder wie China und Indien einen Teil ihrer Weizenreserven auf den Weltmarkt bringen könnten, um steigende Preise abzumildern. 

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    Erste Meldungen aus Syrien und dem Libanon lassen jedoch laut der Initiative Christlicher Orient (ICO) aus Linz das Schlimmste befürchten. Öl, Mehl und Weizen seien in der nordsyrischen Stadt Aleppo kaum noch erhältlich, sagte ICO-Generalsekretärin Romana Kugler. Ähnliches sei aus dem Libanon zu hören. Auch Ägypten und mittelbar über das Welternährungsprogramm der Jemen sind auf Weizenimporte angewiesen.
    Saudi-Arabien
    Für den saudischen De-facto-Herrscher Mohammed bin Salman, kurz MbS genannt, könnte der Ukraine-Krieg vor allem eines sein: Eine Möglichkeit, wieder mehr auf der Weltbühne mitzuspielen. Putin hatte ihm bereits früher dabei geholfen: Kurz nach dem Mord an dem saudi-arabischen Journalisten Jamal Khashoggi war bin Salman auf dem G7-Gipfel von fast allen anderen Staats- und Regierungschefs geächtet worden, bis Putin den Kronprinzen in aller Öffenltichkeit mit einem jovialen Handschlag begrüßte. Es war einer der ersten Schritte hin zu seiner Rehabilitation. 
    Der ehemalige US-Präsident Donald Trump hatte bin Salman umgarnt, sein Nachfolger Joe Biden mied jedoch bisher jeden Kontakt und hatte im Wahlkampf angekündigt, die Menschenrechtsverletzungen in Saudi-Arabien stärker anzuprangern. Das hat MbS offenbar nicht vergessen und nun, da die westliche Welt in aller Eile ihre Abhängigkeit von russischen Erdgas- und Erdöl-Lieferungen reduzieren möchte, ist sie plötzlich wieder auf Riad angewiesen. Saudi-Arabien ist der weltweit größte Erdölexporteur. Bisher aber hält MbS an der mit Russland und anderen Staaten im Erdölverband OPEC+ vereinbarten Förderquote fest. 
    Russland gilt sehr einflussreich im Nahen Osten. Auch deshalb hat wahrscheinlich kein Golfstaat in seiner Begründung zu seiner jeweiligen Entscheidung über die UN-Resolution gegen die Invasion von “Krieg” oder “Eroberung” gesprochen. Während der Westen die Ukraine auch deshalb unterstützt, weil sie eine Demokratie ist, entspricht das nicht unbedingt der Haltung der Golfstaaten, die wenig Interesse an Demokratie hätten. 
    Stattdessen könnten sie die neue Nachfrage nach Öl aus der Region nutzen, um Zugeständnisse zu erhalten. Dazu zählt eine größere Toleranz des Westens gegenüber der Menschenrechtslage - in Saudi-Arabien aber auch im Krieg, den die saudische Militärkoalition seit Jahren im Jemen führt und in dem zehntausende Zivilisten getötet worden sind. 
    Weigert sich Saudi-Arabien gegen eine Steigerung seiner Öl-Exporte, kommen auch Iran und Venezuela in Frage. Beide sind jedoch mit Sanktionen belegt, vor deren Aufhebung noch diplomatische Deals gefunden werden müssten. US-Diplomaten sind offenbar bereits im Gespräch mit beiden Ländern. Vollständig ersetzen ließe sich russisches Öl aber vermutlich selbst bei einer Rückkehr beider Länder auf den Weltmarkt kurzfristig nicht. 
    Die Golf-Emirate
    Die meisten Golfstaaten warten derzeit noch ab. Nach dem hastigen Rückzug der USA aus der Region in den vergangenen Jahren haben sie sich auch um Verbindungen zu Russland bemüht. Nun wollen sie weder ihre Beziehungen zum Westen noch nach Russland gefährden. Das Ergebnis des Krieges bestimmt sehr wahrscheinlich die Haltung der Länder in der Region. Wenn sich abzeichnet, dass Putin den Krieg zu verlieren droht, dann werden die Golfstaaten sich vermutlich weiter distanzieren. 
    Iran
    Irans Führung wird seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine nicht müde, die Verantwortung des Westens für die Eskalation zu betonen. Das Außenministerium in Teheran kritisierte die USA und die Nato: Beide seien durch ihre “provokanten Handlungen” dafür verantwortlich, dass sich die Lage in der Region verkompliziert habe. 

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    Zwar enthielt sich der Iran bei der Abstimmung über die UN-Resolution gegen die Invasion, die Führung in Teheran steht jedoch weiterhin zu dem zunehmend isolierten Präsidenten Putin: Präsident Ebrahim Raisi telefonierte mit Putin und äußerte Verständnis für dessen Sicherheitsbedenken angesichts der Osterweiterung der NATO. Der oberste religiöse Führer der Islamischen Republik, Ayatollah Ali Chamenei, nannte die Ukraine das jüngste Opfer der Politik der USA. Immerhin aber spreche Chamenei im Gegensatz zur russischen Führung von “Krieg”, sagte die Iran-Korrespondentin des Deutschlandfunks, Karin Senz. Ebenso wie Russland ist der Iran von westlichen Sanktionen betroffen und zum Beispiel ebenfalls seit langem vom internationalen Zahlungssystem SWIFT abgeschnitten. 
    Der Iran hat aber wegen der zuletzt erfolgreichen Atomverhandlungen eine gute Aussicht auf eine Aufhebung der Sanktionen. Um die Rettung des Atompakts verhandeln seit April 2021 in Wien Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Russland und China sowie indirekt die USA. Zuletzt schien eine Einigung nahe. „Viele haben gesagt, wir haben ein fertiges Papier auf dem Tisch, doch dann ist wohl Moskau dazwischen gegrätscht“, sagte Senz. Teheran habe aber ein Interesse an einer Fortsetzung der Verhandlungen. “Sie wittern eine Chance, in eine Lücke zu preschen, wenn es darum geht, statt Russland Öl und Gas in den Westen zu liefern. Iran hat die drittgrößten Gasreserven weltweit“, erklärte Senz. 
    Ägypten 
    Wie auch der Libanon basiert die Versorgungssicherheit der einhundert Millionen Einwohner Ägyptens maßgeblich auf Weizenimporten. Größter Importeur ist Russland, auf Platz zwei kommt die Ukraine. Für den ägyptischen Machthaber Abdel Fattah al-Sisi ist der Konflikt aber auch politisch ein Balanceakt. Einerseits hat al-Sisi trotz seines harten Vorgehens gegen jede Opposition im Westen gute Kontakte, wo er häufig als Garant für Stabilität gesehen wird. Andererseits weiß die Führung in Kairo, dass es Russland war, das sie nach dem Putsch im Jahr 2013 sofort unterstützt hat.
    Zudem haben russische Touristen in der Vergangenheit für die ägyptische Urlaubsregion am Roten Meer eine wichtige Rolle gespielt. Würden sie künftig ausbleiben, müsste die Tourismusbranche, die trotz gesunkener Besucherzahlen noch immer eine wichtige Säule der ägyptischen Wirtschaft bildet, mit empfindlichen Einbrüchen rechnen.