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"Sie hat die Erklärmacht als Kanzlerin nicht genutzt"

Der Politikwissenschaftler Professor Karl-Rudolf Korte lobt ausdrücklich das Krisenmanagement und die Kompetenz von Angela Merkel, wirft ihr aber eine "normativ entkernte Politik" vor. Sie müsse den Sinnzusammenhang ihrer Entscheidungen erklären, sonst drohe am Ende ein Machtverlust.

Karl-Rudolf Korte im Gespräch mit Dirk Müller | 25.08.2011
    Dirk Müller: Was ist los in der CDU? Der Kurs der Kanzlerin wird immer kritischer gesehen und sogar auch noch öffentlich in Frage gestellt, was bei der Union keine Selbstverständlichkeit ist. Dann kommt auch noch der Bundespräsident, das ist vielleicht noch zu verkraften, aber dann kommt auch noch die CDU-Ikone schlechthin, der Parade-Europäer, der Kanzler der Einheit, Helmut Kohl, und liest Angela Merkel ungewohnt scharf die Leviten. Merkels Außenpolitik ist ohne Kompass, ist unzuverlässig. In einem Interview hat der Altkanzler das getan, im Gespräch mit der Fachzeitschrift "Internationale Politik". Hören wir uns einen Auszug an.

    "Wenn man keinen Kompass hat, wenn man also nicht weiß, wo man steht und wo man hin will, und daraus abgeleitet dann entsprechend auch keinen Führungs- und Gestaltungswillen, dann hängt man auch nicht an dem, was wir unter Kontinuitäten deutscher Außenpolitik verstehen, ganz einfach, weil man keinen Sinn dafür hat. Um es auf den Punkt zu bringen: Die enormen Veränderungen in der Welt können keine Entschuldigung dafür sein, wenn man keinen Standpunkt oder keine Idee hat, wo man hingehört und wo man hin will."

    So weit also Helmut Kohl in der Zeitschrift "Internationale Politik". - Die Diskussion um die Kanzlerin und um den Euro geht also munter weiter. Immer mehr Kritik an Angela Merkel, darüber sprechen wollen wir nun mit dem Politikwissenschaftler Professor Karl-Rudolf Korte von der Universität Duisburg-Essen. Guten Tag!

    Karl-Rudolf Korte: Guten Tag!

    Müller: Herr Korte, wackelt zum ersten Mal ernsthaft der Stuhl der Kanzlerin?

    Korte: Nein, der Stuhl der Kanzlerin wackelt nicht. Aber die CDU-Vorsitzende ist besonders gefordert in dieser Zeit, darum geht es. Die Koalition als solches sehe ich nicht gefährdet in der Mitte der Legislaturperiode.

    Müller: Macht das einen Unterschied?

    Korte: Ja, einen großen Unterschied, weil es darum geht, dass sie versucht, Gefolgschaft für sich und ihre Politik zu organisieren und das nicht mehr in dem bisherigen Entscheidungsstil machen kann, sondern offenbar merkt, weil die Kritik näher rückt, lauter wird, auch qualitativ höherwertig wird, dass sie hier nachsteuern muss.

    Müller: Habe ich Sie ein bisschen richtig verstanden? Ich versuche das zumindest, um das etwas auf den Punkt zu bringen. Das heißt, die CDU braucht eine neue Vorsitzende, einen neuen Chef, aber keinen neuen Kanzler?

    Korte: Nein, so habe ich es nicht gemeint. Idealtypisch ist die Macht des Kanzlers am stärksten, auch in der Entscheidungsstärke, wenn er durchaus auch Parteivorsitzender ist. Da haben wir in über 60 Jahren sehr gute Erfahrungen mit Kanzlerschaften unterschiedlicher Parteien auch erlebt. Es geht aber darum, Entscheidungen mit Stärke anzureichern. In einer Zeit, in der ja viel an Gewissheiten verloren gegangen ist, braucht man natürlich auch Gefolgschaften, die man organisieren muss. Die kommen nicht mehr von alleine und nur, weil man eine Staatsregierungspartei ist, sondern sie muss massiver organisiert werden und nicht mit dem Hinweis auf einen Bundesparteitag, oder auf Regionalkonferenzen.

    Müller: Kommt diese Kritik, weil die Politik der Kanzlerin schlecht ist?

    Korte: Ja, sie hängt damit zusammen, und zwar wird nicht so sehr ihre Risikokompetenz kritisiert, denn sie hat ja in den Kettenreaktionen der Krisen durchaus so brilliert, wie man sich das von Kanzlern oder Ministerpräsidenten oder so auch erhofft. Aber sie hat niemals versucht zu erklären, warum sie bestimmte Dinge tut, keinen Sinnzusammenhang, keinen normativen Kern sichtbar gemacht. Und insofern: Wer am überzeugendsten erklärt, kann auch Mehrheiten organisieren. Sie hat die Erklärmacht als Kanzlerin nicht genutzt und muss die Erklärmacht jetzt gegenüber ihrer eigenen Partei einsetzen.

    Müller: Weil sie es nicht kann oder weil sie es nicht besser weiß?

    Korte: Ihre Erfahrungen bisher als Kanzlerin widersprechen dieser Forderung nach einer Erklärung. Sie ist eine, die so als Großpuzzle versucht, Dinge zusammenzusetzen, ohne eine große Erzählung. Aber die Situation, auf die sie sich im Moment bezieht - und in der Kritik zu Kohl macht sie es ja -, dass eine besondere Qualität von Entscheidungen im Moment notwendig ist, macht auch einen neuen Entscheidungsstil der Kanzlerin notwendig. Also dieses Durchwurschteln, bei dem sie bisher zweimal Kanzlerin mit unterschiedlichen Mehrheiten geworden ist, das kann jetzt nicht mehr in dieser Situation greifen, wenn wir eine Kaskade von Krisen und Risikoabwägungen vor uns haben.

    Müller: Sie sprechen, Professor Korte, ganz konkret von einem neuen Stil, den Sie fordern. Kann man auch sagen, wenn ein Kanzler oder eine Kanzlerin das nicht macht, eben erklärt und überzeugt, dann ist sie schlecht?

    Korte: Ja, das kann man durchaus so sagen. In dieser Zeit ist das notwendig, denn wer Sprache und damit Deutungsmacht hat, hat auch Machtgewinn. Sprachgewinn bedeutet immer automatisch Machtgewinn, und wer das nicht zeigt, verliert eben die Macht. Sprachverlust bedeutet dann eben auch am Ende Machtverlust.

    Müller: Machtverlust würde bedeuten, dass es dann doch wie auch immer zu einer Ablöse in welcher Funktion auch immer kommen mag. - Aber wenn wir Ihren Thesen und Ihrer Interpretation folgen, die Kanzlerin macht im Moment - wir wollen es mal neutral formulieren - keinen allzu guten Job, welche Konsequenzen hat das für Deutschland?

    Korte: Ja, die Konsequenzen sind, als Kanzlerin versucht sie ja, im Konzert der anderen immer diese Entscheidungen auch weiter vorzubereiten, und da macht sie ja im Krisenmanagement keinen schlechten Eindruck. Nur das, was in den bundesdeutschen Wählerblick gerät, ist die Zögerlichkeit bei bestimmten Entscheidungen, und dass sie nicht begründet und erklärt, warum sie bestimmte Entscheidungen fällt. Niemand weiß, wie es morgen sich weiter entwickelt. Auch die Eurorebellen in den eigenen Reihen wird man nicht ruhig stellen, weil man weiß, wie es morgen weitergeht. Aber zu sagen beispielsweise, um den sozialen und gesellschaftlichen Frieden auf diesem hohen Niveau in Deutschland zu erhalten, ist folgendes zwingend notwendig, also eine Verknüpfung von Entscheidungen mit Maßnahmen, mit Erklärungen.

    Und der zweite Punkt ist: Die Qualität von Entscheidungen hat sich auch unter neuen Bedingungen verändert. Man muss anders kommunizieren. Man muss andere mehr mitnehmen als bisher. Es ist ein größeres Partizipationsbedürfnis der Bürger und der Partei entstanden. Die Qualität der Entscheidungen hängt also davon auch ab.

    Müller: Jetzt wissen wir, Herr Korte, seit gestern spätestens öffentlich und offiziell, was Helmut Kohl von der derzeitigen Politik und von der Politik der Kanzlerin hält. Jetzt haben viele gestern überall in Deutschland, viele Journalisten, viele Beobachter, auch viele Politiker gesagt: Na ja, jetzt hat der sich wieder geäußert, und konnten sich das eine oder andere Gähnen nicht dabei unterdrücken. Nehmen Sie ihn ernst?

    Korte: Das ist ja hoch funktional, wann er sich wie meldet. Das ist interessant zu beobachten. Wenn er alle paar Monate oder zuletzt einmal im halben Jahr ganz gezielt das Wort ergreift, auch das Medium ganz gezielt spielt. Hier ist nichts zufällig! Insofern in dieser Phase jetzt, in der der Bundestag ringt um eine wichtige Entscheidung, ob der Bundestag das Primat der Politik zurückerobert in allen Europafragen oder ob wir eine Vergemeinschaftung von Staatsschulden haben, da ergreift er das Wort, stärkt die Parlamentarier, die hier eine Erklärung erwarten und auch die Rechte des Parlaments zu achten. Insofern ist das kein Zufall und insofern nehme ich das auch ernst.

    Der zweite Punkt ist durchaus: Diese normativ entkernte Politik konnte man Kohl nie vorwerfen. Deutsche Einheit, europäische Integration, zwei Seiten einer Medaille, ein Satz, den er tausendmal verwandt hat, der ganz langweilig klingt, aber der praktisch ein normatives Vermächtnis von ihm war. Und wo ist dieses normative Vermächtnis der Kanzlerin? Das ist genau das, was er kritisiert.

    Müller: Jetzt sagen ja viele, früher war das auch einfacher, das war klarer, das war definierter, heute ist es viel komplizierter.

    Korte: Genau! Deswegen sage ich ja auch, die Kanzlerin hat Risikokompetenz auf hohem Niveau, sie macht ein cleveres, gutes Krisenmanagement, aber sie muss es lernen zu erklären und zu begründen. Da dieser zweite Teil der Qualität der Entscheidungen fehlt, leidet im Moment ihr Ansehen, ihre Politik, ihr Image immens daran.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.