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"Sie schaut nicht auf ihre Kinder"

In ihrem Buch "Schlachthymne einer Tigermutter" lobt die Yale-Professorin Amy Chua eine Kindererziehung mit Drill und Disziplin. Der Erziehungswissenschaftler Albert Wunsch sagt, Chua stülpe ihren Kindern das Muster auf, was sie selbst einst erfahren hat - so etwas sei nie gut.

Albert Wunsch im Gespräch mit Jürgen Liminski |
    Jürgen Liminski: In dem Buch der aus China stammenden Yale-Professorin Amy Chua mit dem Titel "Schlachthymne einer Tigermutter" geht es de facto um den alten Streit zwischen Erziehung als Disziplinkunde und liebevoller Verwöhnung, ein Streit, dem wohl jede Generation und jedes Land mindestens einmal im Jahr durchlebt. Seit der Finanzkrise und der Integration der kleinsten in das wirtschaftliche Konkurrenzdenken müssen wir mit mindestens zwei Auflagen pro Jahr rechnen. Besagte Tigermutter steht für eiserne Disziplin, auch wenn, wie wir vor 20 Minuten in der Reportage aus Peking gehört haben, diese Erziehungsmethode in China gar nicht mehr so beliebt ist. Aber die Methode beeindruckt immer noch Autoren, auch in Deutschland, die ebenfalls auf Drill und Kasernenton setzen und nun die Feuilletons mit ihren etwas gesetzteren Schlachtrufen füllen, alles um des Erfolgs willen natürlich. Einer der Fachleute, die eine differenziertere Sicht der Dinge pflegen, ist der Erziehungswissenschaftler Albert Wunsch, bekannt durch seine Bestseller "Die Verwöhnungsfalle" und "Abschied von der Spaßpädagogik". Er ist im Studio. Guten Morgen, Herr Wunsch.

    Albert Wunsch: Guten Morgen, Herr Liminski.

    Liminski: Herr Wunsch, Frau Amy Chua ist erfolgreich und ihre Töchter haben beste Noten. Was macht die Dame falsch?

    Wunsch: Die erste Frage ist ja schon, ob sie erfolgreich ist, denn erfolgreich kann man eigentlich nur dann sein, wenn man vorher den Erfolg definiert hat. Ob die Dame ganz viel falsch macht, weiß ich noch nicht mal, aber sie macht ganz viel nicht richtig, denn sie schaut nicht auf ihre Kinder und schaut nicht auf das, was für die Kinder gut ist, und sie stülpt ihren Kindern ihr Muster, was sie in ihrer Kindheit und Jugend erfahren hat, auf sie über und das ist nie gut.

    Liminski: Aber Leistung ist doch aus unserer Gesellschaft nicht wegzudenken. Die Zeiten Pestalozzis, für den Erziehung aus Vorbild und Liebe bestand, die sind doch vorbei. Ohne einen gewissen Drill gibt es keine guten Noten, keinen Studienplatz, kein Einserdiplom, keine Karriere, kein Glück. Ist das nicht die Gedankenkette, in der wir leben, und hat sie deswegen nicht doch recht?

    Wunsch: Ich glaube schon, dass es ein Stück die Gedankenkette ist, in der wir leben, aber erst mal auch hier wiederum: Was ist Glück? Ist eine Eins automatisch Glück? Was ist Erfolg? Das ist die Frage, die dahinter steht. Und diese Frau versucht, ihre Kinder in ein Schema hineinzupressen, wo wir nach offiziellen Fakten und Daten meinen, das sei Erfolg, das sei Glück, aber ich gehe davon aus, das ist es nicht. Zusätzlich: Alle Kinder, alle Menschen brauchen massiv die Herausforderung und manchmal kann das auch schon ein Stück an den Nerv gehen. Aber Drill als Erziehungsmuster kann nie richtig sein.

    Liminski: Herr Wunsch, hören wir uns doch mal an, was Sie in Ihren Büchern sagen:

    "Wer nicht herausgefordert wird, kann auch keinen Lebensmut entwickeln."

    "Nicht Erziehung, sondern Entsorgung von Kindern wird staatlich gefördert."

    "Die Verwöhnung entlarvt sich als ein Todfeind für die Zukunft. Schwäche, Kraftlosigkeit und eine permanente Mutlosigkeit sind die Folgen."

    "Wachstum entsteht durch Anstrengung, durch ein gekonntes Meistern von Aufgaben und Problemen."


    Liminski: Herr Wunsch, das klingt doch auch ein bisschen nach Tigerbrüllen, oder wenigstens nach fleißigem Bienensummen.

    Wunsch: Das Bienensummen gefällt mir schon gut. Die Anstrengung ist sicherlich etwas, was wir von Kindesbeinen an lernen wollen und müssen, aber es so auf schulische Leistungen, auf Noten nur zu beziehen, ist das Tragische für mich. Anstrengend ist es auch, wenn ein kleines Kind sich fortbewegt. Anstrengend ist es auch, den Mund mal eine Zeit lang zu halten. Es gibt jede Menge, die anstrengend sind, und die müssen Kinder schon von Kindesbeinen an lernen. Aber hier wird ja Anstrengung in so eine Ecke geschoben, dass nur eine ganz bestimmte Leistung - und die zweitbeste in der Klasse war für die Frau Chua ja schon zu wenig; da wurde das Kind noch mal gedrillt, damit es mindestens die erste ist. Und da meine ich, da würde, auch wenn man jetzt nicht nur das bisschen aus den Büchern hier hört, sondern viel tiefer reinschaut, auch deutlich, dass es einen ganz anderen Weg gibt, um zu leistungsorientierten, aber auch selbstbestimmten und glücklichen Menschen zu führen.

    Liminski: Was ist das für ein Weg?

    Wunsch: Es ist ein Weg, der die Herausforderung zum Ziel hat, der aber gleichzeitig die Interessen und Möglichkeiten des Kindes sehr stark berücksichtigt, und ein Weg, der Ziele vorgibt, aber auch einen gewissen Entscheidungsspielraum für die Kinder ermöglicht, nämlich zu sagen, will ich links herum, oder rechts herum zum Ziel. Wir haben heute oft die Situation, dass den Kindern auch noch die Zielfrage aufgebürdet wird, und dann entscheiden sie sich natürlich schon manchmal sehr zufällig für das, was ihnen am liebsten von der Hand geht, oder was sie am liebsten machen möchten. Nein, das Ziel muss Vorgabe sein, und dann können sich Kinder in ihrem Rahmen von ihrem Alter her abhängig mit entscheiden, in welcher Weise sie sich diesem Ziel annähern, und dann wird auch damit klar werden, in welcher Geschwindigkeit sie sich diesem Ziel annähern.

    Liminski: Sie plädieren in Ihren Büchern für Liebe in der Erziehung. Das wäre eine starke Motivation. Das kann aber auch anstrengend sein, allerdings mehr für die Eltern als für die Kinder. Unter Bindungsforschern gibt es in der Tat ein Axiom, das besagt, die Bindung, also der liebevolle Umgang, gehe der Bildung voraus. Demnach müssten die Töchter von Frau Chua ja irgendwann scheitern?

    Wunsch: Wir müssten schauen, was in 10 oder 15 Jahren aus diesen beiden Töchtern geworden ist. Innerhalb ihres Erziehungskonzeptes ist sie kräftig gescheitert zwischendurch und wenn sie jetzt zum Schluss des Buches feststellt, die Geige haben wir in die Ecke geschmissen und die Tochter hat auch mindestens schon so und so viele Einladungen von Freundinnen und Freunden realisiert, dann habe ich eigentlich den Eindruck, dass die Frau Chua ihre eigenen Erziehungsdrangsale aus der Kindheit in dem Buch sich von der Seele geschrieben hat und dummerweise die Welt meint, es sei ein Erziehungsratgeber.

    Liminski: Was sagt uns denn die Bindungsforschung über den Zusammenhang zwischen Liebe und Leistung?

    Wunsch: Die Bindungsforschung sagt uns, dass eigentlich das Urmoment jeglicher Bewegung und jeglicher Zielannäherung ist, dass es aus der liebevollen Beziehung zu einem Menschen geschieht. Ein kleines Kind lernt nicht für das Leben, sondern für Mama und Papa, vorausgesetzt, dass Mama und Papa diesem Kind eine warme und gute und kontinuierliche Beziehung bieten. Diese Wortspielerei, Beziehung und Bindung, gibt die Basis dafür, dass ein Kind sich bewegt, ob es das erste Lächeln ist, das erste Laufen ist, oder was auch immer, und wenn das gut grundgelegt worden ist, dann kann das Kind sich nachher auch in andere Sphären entwickeln. Ich habe oft das schon mal verglichen: Ein Kind hat einen großen Explorationsdrang. Wenn es aber unsicher in seiner Elternbindung ist, wird es sich nicht aus dem Hafen heraus wagen und in die stürmische See. Wenn es aber sicher sein kann, wenn es auf der stürmischen See sich vielleicht eine blutige Nase geholt hat und dann wiederum in den elterlichen warmen Hafen zurückkehren kann, wird es diese Explorationen sehr häufig machen, und Explorationsverhalten im Kindesalter, im Säuglingsalter ist gleichzusetzen mit Lernverhalten des Erwachsenen.

    Liminski: Zwischen Kaserne und Zuhause, zwischen Liebe und Leistung, zur neuen Disziplindebatte in Deutschland, ausgelöst durch das Buch von Amy Chua, war das hier im Deutschlandfunk der Bestseller-Autor Professor Albert Wunsch. Besten Dank für das Gespräch, Herr Wunsch.

    Wunsch: Gerne geschehen!