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"Sie werden sicher noch ein paar Jahre lang gebraucht"

Die Diskussionen über Exit-Strategie haben bei der afghanischen Bevölkerung große Besorgnis ausgelöst, sagt der Afghanistan-Fachmann Thomas Ruttig. Der Kampf müsse fortgeführt werden, wenn auch defensiver als bisher. Außerdem müsse man sich stärker auf Entwicklung und Wiederaufbau konzentrieren.

Thomas Ruttig im Gespräch mit Stefan Heinlein | 12.05.2010
    Sandra Schulz: Thematisch bleiben wir in Afghanistan. Mein Kollege Stefan Heinlein hatte Gelegenheit, mit dem Afghanistan-Fachmann Thomas Ruttig zu sprechen. Zuerst hat er ihn gefragt, ob die Berliner Versicherungen mehr seien als Lippenbekenntnisse.

    Thomas Ruttig: Ich glaube schon, dass das mehr als reine Lippenbekenntnisse sind und vor allen Dingen auch in Richtung sowohl der afghanischen Regierung, als auch der afghanischen Bevölkerung gesandt, denn in Afghanistan hat sich nach den Diskussionen der letzten Monate und Jahre über Exit-Strategie jetzt schon große Besorgnis breitgemacht, dass man bald wieder alleine dastehen würde, und die Leute fürchten sich natürlich vor der Rückkehr der Taliban und vor einem etwaigen neuen Bürgerkrieg.

    Stefan Heinlein: Wie realistisch ist denn diese Gefahr, die Rückkehr der Taliban, sollten die internationalen Truppen in etwa fünf Jahren – dieses Datum wurde heute ja erneut genannt – dann tatsächlich abziehen?

    Ruttig: Die Taliban sind ja schon da. Sie kontrollieren große Teile des Landes, haben auch eine Paralleladministration aufgebaut, die natürlich nur bestimmte Rumpffunktionen ausführt, aber sie greifen schon relativ stark in das Leben der Afghanen ein. Wenn man das Land militärisch sich selber überließe und auch in sonstiger Hinsicht, also in Fragen des Wiederaufbaus, ökonomischer Entwicklung etcetera, dann gäbe das den Taliban noch größeren Spielraum. Im Grunde werden die internationalen Truppen jetzt noch gebraucht, um da eine rote Linie einzuziehen.

    Heinlein: Wie lange werden diese internationalen Truppen noch gebraucht?

    Ruttig: Sie werden sicher noch ein paar Jahre lang gebraucht, aber man muss gleichzeitig – und das müssen auch unsere Regierungen, glaube ich, noch stärker verstehen, als sie das bisher tun – auch in ihrer Vorgehensweise sich weiter ändern müssen, denn Präsident Karsai spricht ja nicht umsonst an – das wird auch von vielen einfachen Afghanen immer wieder angesprochen -, dass die Frage von zivilen Opfern, von zu rigorosem Vorgehen etcetera natürlich doch für böses Blut sorgen und den eigentlichen Wiederaufbauansatz in Afghanistan eher unterminieren als stärken. Wir haben ja heute auch die Meldung des zweiten geheimen Gefängnisses auf dem wichtigsten US-Stützpunkt in Afghanistan, Bagram, durchs Internationale Rote Kreuz. Das zeigt auch wieder mal, dass solche Fragen auch geklärt werden müssen, dass man da offener sein muss den Afghanen gegenüber. Die Afghanen müssen zum Beispiel auch wissen, wo afghanische Gefangene in ihrem Land festgehalten werden.

    Heinlein: Kann das denn funktionieren, Herr Ruttig, mehr Aufbau für das Land, mehr ziviler Aufbau bei gleichzeitig weniger Kampf?

    Ruttig: Ja. Der Kampf muss natürlich fortgeführt werden, aber vielleicht viel defensiver, als das bisher der Fall gewesen ist. Wir haben jetzt nun acht, fast neun Jahre des Kampfes hinter uns, in dem versucht worden ist, die Taliban und El Kaida zu zerschlagen. Bei El Kaida ist das vielleicht stärker gelungen als bei den Taliban. Die Taliban sind immer von Jahr zu Jahr stärker geworden. Im Grunde muss man sich auf mehr Entwicklung und Wiederaufbau konzentrieren. Die Sicherheitssituation in Afghanistan ist ja in sehr unterschiedlichen Gebieten. Das ist eher so ein Leopardenfell-Modell, wo es dunkle Flecken und helle Flecken gibt, und diese hellen Flecken muss man erst mal identifizieren und in denen muss man stärker arbeiten.

    Heinlein: Wie passt denn in diesen Zusammenhang die geplante Truppenverstärkung in den kommenden Wochen und Monaten? Allein im Norden soll ja die Zahl der Soldaten auf über 12.000 verdoppelt werden.

    Ruttig: Nun hat sich die Sicherheitssituation zumindest in einigen Provinzen auch sehr stark verschlechtert. Da muss man natürlich ein paar Korsettstangen einziehen. Aber auch dort gilt, dass Taliban zu vernichten nicht klappen wird. Es wäre wichtig, mit mehr Truppen mehr Freiräume zu schaffen, in denen dann tatsächlich auch Wiederaufbau stattfinden kann, aber dafür ist das Vertrauen der afghanischen Bevölkerung gefragt. Das kann man nicht in ein paar Tagen wiedergewinnen, weil da sehr viel zerstört worden ist, und die Worte, dass man sie stärker auch zivil unterstützen würde, haben die Afghanen schon oft gehört und es ist dann nicht eingelöst worden. Also es ist schon eine sehr schwierige Sache und man braucht da einen langen Atem und Exit-Diskussionen, die sich dann auf eineinhalb Jahre vielleicht als Frist beschränken, reichen dort nicht aus.

    Heinlein: Der deutsche Verteidigungsminister zu Guttenberg hat in Berlin erneut dementiert, dass auch im Norden des Landes eine Großoffensive geplant sei. Glauben Sie diese Aussage? Wie glaubhaft ist das?

    Ruttig: Die Frage ist ja, wie man Großoffensive definiert. Seit geraumer Zeit sind dort Operationen im Gange, die sich gegen die Taliban-Hochburgen um die Stadt Kundus herum konzentrieren. Da wird schon relativ stark gekämpft, wenn das vielleicht auch nicht eine lang andauernde Großoperation ist, die sich nun in größeren Räumen erstreckt. Ich glaube, das ist eine effektivere Herangehensweise, sich sehr stark genau auf diese Hochburgen zu konzentrieren und jetzt dort nicht mit der Walze hineinzufahren. In diesem Sinne gehen, glaube ich, ja auch Forderungen, die man hier immer wieder hört, möglichst auch Leopard-Panzer nach Afghanistan zu bringen, in die falsche Richtung und sind eher nur als Rückversicherung gegenüber dem deutschen Wähler zu verstehen.

    Heinlein: Es gibt ja Spekulationen, dass die USA auch im Norden Afghanistans das Kommando übernehmen werden. Glauben Sie, dass die Deutschen das Sagen behalten werden in Kundus und um Kundus herum?

    Ruttig: Formal ist Deutschland natürlich Führungsmacht in dem Regionalkommando Nord mit acht Provinzen, zu denen auch Kundus gehört, aber praktisch haben die Amerikaner dort schon das Kommando übernommen. Die meisten der Anti-Taliban-Aktionen auch in der Provinz Kundus sind von US-Truppen und von afghanischen Truppen geführt, nicht von deutschen.

    Schulz: Der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Die Fragen stellte mein Kollege Stefan Heinlein.